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Magazin für Verrisse aller Art    Aktuell

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 12


EUROPA IV

Mehr oder weniger?


Europa ist heute vielleicht eine Topographie des Bewußtseins, weniger ein geographischer Raum als ein Territorium des Gefühls, vor allem weit entfernt von einem ernsthaften politischen Gedanken, in erster Linie Feld der Ökonomie, Standort. Das geistige Europa wird heute mit letzter Kraft gehalten von einer liberalen Bourgeoisie mit Besitz und Bildung, für die Parlamentarismus etwas war und ist wie das ewige Gespräch, Diskussion und Abstimmung mit labilen Mehrheiten, die jederzeit zerfallen können. Man sehnt sich nach Legitimation und Entscheidung, will aber politisch indifferent bleiben.

Dieser Geburtsfehler wohnt dem Gedanken der europäischen Union inne. Je utopischer sie gedacht wird, desto hemmungs- und folgenloser läßt sich von ihr schwärmen, und dem Gedanken in seiner jetzigen Form fehlt jedes metaphysische Konzept. Diesen fundamentalen Mangel bringt in reinster und kürzester Form der inhaltsleere Appell Mehr Europa! zum Ausdruck, den heute jeder Durchschnittsdemokrat zur abendfüllenden Rede aufblähen kann, untermalt vom ewigen Gespräch, das im Zeitalter des Internets zum globalen Hintergrundgelaber sich auswuchs. Doch aus diesem Europa, ob mehr oder weniger, wird nichts, weil keiner der beteiligten Staaten über die Souveränität zur bindenden Entscheidungsgewalt verfügt. Entweder die europäischen Staaten geben ihre Souveränität auf und werden Bundesstaaten eines Vereinigten Europa oder sie tun es nicht und bleiben ein Europa der Nationen, das den Verkehr unter sich, insbesondere den Frieden, durch Verträge regelt. Etwas dazwischen, wie es jetzt versucht wird, ist ewiger Karneval.

Als mein warmherziger und kluger Großvater mütterlicherseits 1962 das Bild von Adenauer und de Gaulles in der Kathedrale von Reims in der Zeitung sah, war er gerührt. Er schrieb sofort seinem alten Freund Monsieur H. in Nizza. Es war sein letzter Brief, er starb drei Wochen später, den Élysée-Vertrag hat er nicht mehr erlebt. Er liebte Frankreich, die französische Sprache, die französischer Kultur. 1885 wurde er als zweitältestes Kind eines wohlhabenden Industriellen in Offenbach am Main geboren. Absolutismus, Feudalismus, Gottesgnadentum lehnte er ab, er war für eine konstitutionelle Monarchie nach englischem Vorbild. Er war Jurist, Pianist und Komponist. Er war gegen den scharfen Militarismus seiner Zeit, aber er tat seine Pflicht als Kavalleriehauptmann der Reserve.
Beim Studium wechselte er ein paarmal die Universitäten, einer studentischen Verbindung trat er nie bei, deren Gebaren fand er lächerlich und infantil. Er lebte im Großherzogtum Hessen, deutschnationales Getümel lehnte er ab, die Musik war ihm wichtiger, sie kannte keine Grenzen, er pflegte eine Art von Liberalität, die man heute nicht mehr kennt.
Im Krieg führte er eine Fernmeldeeinheit an der Ostfront. 1916 wurde er auf polnischem Gebiet durch einen Schuß in den rechten Unterschenkel verwundet. Das Bein blieb gelähmt, er verbrachte den Rest des Krieges in der Etappe, diesmal nahe der Westfront, dolmetschte bei Verhören französischer Gefangener. Dabei lernte er Monsieur H. aus Nizza kennen. Später wurde er Mitglied der Deutschen Friedensbewegung, korrespondierte mit Romain Rolland und übersetzte das Buch Les sonates pour piano de Beethoven von Jacques-Gabriel Prod'homme, es erschien 1948 bei Breitkopf & Härtel.
Mein Großvater ist fast nie verreist, Europäer war er im Geist, wo sonst? Politik war zweitrangig. Den Nationalsozialismus lehnte er ab. Sein Widerstand war ein innerer, er vertraute sie einem Tagebuch an. Als Richter verhielt er sich mehrmals nicht systemkonform und wurde bis 1945 nicht mehr befördert. Zuletzt war er Landgerichtsdirektor in Limburg an der Lahn. Als Komponist war und blieb er Spätromantiker, heute hätte er bessere Karten gehabt. In seinen musikalischen Schriften wandte er sich gegen die damals herrschende atonale Musik, in der FAZ schrieb er Artikel gegen Adorno, dessen Musiktheorie er intellektualistisch und kalt fand, aber er und Adorno hatten den gleichen Kompositionslehrer gehabt, Bernhard Sekles am Hochschen Konservatorium in Frankfurt, den die Nazis 1933, weil er Jude war, seines Postens enthoben.

Französisches wurde auch in der Familie meines Vaters bewundert, das Höfische, die Eleganz, die Mode, etwas höher im Kurs stand England, der Gentleman, Shakespeare, glatt geschorene Rasenflächen, King Richard, und doch war Albion perfide. Die Familie meines Vaters war weit verzweigt. Ableger gab es in Skandinavien, England, Spanien, Paraguay und China. Mein Großvater, der im Herzogtum Braunschweig verwurzelt war, reiste als Kaufmann und Industrieller um die halbe Welt, von europäischen Ideen hat er nicht viel gehalten, es sei denn unter deutscher Führung. Er war konservativ, antidemokratisch und streng national. Die Wertschätzung Frankreichs und Englands war rein kulturell, weitab von Politik. Sein zweitältester Sohn fiel als junger Leutnant in Flandern 1917, ihn traf eine englische Kugel.
Aufgrund seines Besitzstandes und seiner internationalen Handelsbeziehungen überstand er die Weimarer Zeit wirtschaftlich ohne schwere Einbrüche. Irgendwann trat er der NSDAP bei, mit ihm seine Frau und ein paar andere aus der Familie. Er starb im März 1945, sein Sarg war in eine Hakenkreuzflagge eingeschlagen, zwei Monate vor meiner Geburt. Meine depressive Großmutter wurde entnazifiziert. Die Mehrzahl der Nachkommen liberalisierte sich nach dem Krieg in Maßen, sehr vieles wurde unter die Teppiche gekehrt, und da blieb es. Europa kam gerade recht. Ein Europa der Vaterländer wurde gutgeheißen, ein Mann wie de Gaulle genoß Respekt, ein General mit prominenter Nase.

In unserem Haus waren ausländische Verwandte, Freunde und Freunde der Freunde oft zu Gast. Der Begriff Ausland hatte einen zauberischen Klang für mich, fern jeder Politik, aber es war nur der Reiz der Fremde, allein das Abenteuer einer Grenzüberschreitung und die großen klebrigen Geldscheine.
Meine Eltern reisten 1952 mit dem Auto nach Barcelona, wo mein Vater bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs einige Jahre gelebt hatte. Für diese Reise brauchten meine Eltern Visa für Frankreich und Spanien. Damals war ich sieben, durfte nicht mit, und Spanien war ein anderer Kontinent, aber die alten Freunde meines Vaters waren noch da, und die Freundschaft war geblieben. Deutschland zählte nicht mehr viel, aber Politik zählte auch nicht viel. Spanien unter Franco, das war eine andere Welt, die erst 1975 zerbrach. Die bürgerliche Welt von Hammerfest bis Sevilla blieb trotzdem ungefähr die gleiche, in jedem Fall oberflächlich, und setzte sich fort wie seit Jahrhunderten. Europa wurde vererbt oder auch nicht, man litt sich und litt sich nicht.

Das ist, äußerst knapp, die Dekadenz des Westens. Die Dekadenz des Ostens ist physischer, darum ernster und schmerzlicher, ich klammere sie hier aus, sie folgt später (siehe dort).

So unterschiedlich diese Großväter und Väter auch sind, sie verkörpern den supranationalen Typus der Besitzenden und Gebildeten der höheren Stände, orientiert am Adel, ihm oft familiär verbunden, im Militärischen Offiziere, in den Städten Patrizier, Gutsherren auf dem Land, Träger der europäischen Kultur, Akademiker, geistige Oberschicht, selten Künstler oder Philosophen.
Politisch sind sie nicht präsent. Ihr entscheidendes Manko ist, daß sie nichts zu entscheiden haben. Sie bleiben Bürger aus einer Tradition, die sie weitergeben, sie sind konservativ ohne Dynamik. Als Wissenschaftler können sie Motor eines Fortschritts werden, über den sie nicht bestimmen. Sie verachten die Politik, und die Politik verachtet sie. Gesellschaftlich bleibt ihr Dasein ohne Folgen. Sie leben in einer Welt des schönen Scheins, darin blühen die Neurosen. Ihre Mitte verlieren sie nie, die Randgebiete des Seins könnte sie nicht ertragen, zu Kleistischem Leiden sind sie nicht fähig. Es fehlt das Niedrige und das Erhabene.
Das sind in Kürze einige Merkmale der europäischen Bourgeoisie, die in vielem Großes leistet und in vielem nichts, politisch die Klasse der Kastraten.

Aus dieser Klasse politischer Kastraten erwuchs die europäische Idee, sie waren Phantasten, verspätete Idealisten, Humanisten, nur das Kulturelle hielt sie zusammen, niemals Macht, niemals politisches Kalkül, das sie verachteten. Sofern sie dennoch politisch waren, waren sie institutionell blockiert, Stresemann war von der Art. Während sie träumten, erfanden andere das Auto, das Flugzeug, entdeckten das Atom. Während andere auf die Straße gingen und um Macht kämpften, kämpften sie um Besitzstand. Irgendwie haben sich diese Unterscheidungen und ihre Bedeutungslosigkeit gehalten. Ein politisch geeintes Europa bedeutet dieser Klasse nichts, denn sie dachte und fühlte schon immer europäisch. Anscheinend läßt sich das Menschsein in verschiedene Fächer aufteilen.

Ein iedaltypischer Fall jenes politischen Kastratentums ist die Geschichte des George-Kreises. Ursprünglich vom Politischen grundsätzlich abgestoßen in einem Unbehagen an der Zeit, das man immer noch teilen kann, wurde der Kreis zum Staat in sich selbst, irgendwie also poltikanalog, ohne im Praktischen etwas darstellen zu wollen, doch im Geistigen gegen das Herrschende angehend, in einer Weise, die für vieles verwendbar wurde, die viele Wahlverwandtschaften stiftete, auch solche, die vielleicht weniger erwünscht waren, denn die Kultur- und Zeitkritik des Kreises war auch mit Faschismus glatt vereinbar. Auch hat der Kreis wenig unternommen, um sich abzugrenzen. Wie auch? Er war viel zu heterogen geworden.
Trotzdem blieb er seinen großbürgerlichen Wurzeln verhaftet. Mit einer konservativen Revolution hatte er manches gemein, aber die Gemeinsamkeiten blieben diffus.

Zwischen Percy Gothein und Claus von Stauffenberg klaffen verschiedene Welten, das sind die Pole dieses Spektrums. Die Stauffenbergsche Tat kam aus der letzten Verzweiflung einer im Grunde apolitischen Klasse. Hätte der Meister sie gutgeheißen? Das Problem blieb ihm erspart, aber wir dürfen spekulieren. Die politisch motivierte Tat war ihm zuwider.
Percy Gothein, der verspätete Renaissancemensch, wurde von den Nazis im KZ Neuengamme, nahe Hamburg, ermordet, weil seine sexuelle Orientierung unvölkisch war, Stauffenberg, der Offizier alter Schule, wurde nach dem gescheiterten Attentat in der Wolfsschanze im Bendlerblock zu Berlin erschossen. Sein letztes Wort soll gelautet haben: Es lebe das heilige Deutschland. Andere hatten gehört: Es lebe das geheime Deutschland.
Geheimes Deutschland klingt wahrscheinlicher und interessanter.

Etwas Geheimes, das einer Aufklärung bedürfte, gibt es nicht mehr. Nun ist alles offen, ohne Grenzen, ohne Form, wie Europa selbst.

Max Naso






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