GEGENDARSTELLUNG
Sehr geehrter Herr [oder eine (leicht) vergiftete Retourkutsche auf die Sonntagsergüsse des Herrn Bibliothekars] Raffael Keller,
nach der Lektüre Ihrer Brachial-Kritik meiner Shijing-Übersetzung wende ich mich in Form eines philologischen und durchaus polemischen Schreibens an Sie, obwohl ich Sie nicht kenne (nur diese Kritik & zeitgemäß aus dem Netz natürlich) und –entschuldigen Sie – auch Ihre offenbar wochenendlich erarbeiteten Übersetzungen nicht.
Die von Ihnen als Ausweis meines „Haderns mit der chinesischen Sprache“ herangezogenen Zeilen in Lied Nr.65 können unterschiedlich verstanden werden. Ich beschränke mich auf die Kurzanalyse der 5. Zeile: 知我者 zhī wǒ zhě: der Satz ist durch 者 zhě nominalisiert und kann als Relativsatz übersetzt werden, „Das, was..“oder „Derjenige, der…“ oder dann sicher auch „Wer…“. Meine Lösung beruht auf der Lesung in Umstellung von 我知者 wǒ zhī zhě „Das, was ich weiß…“. meine Begründung: Die im Altchinesischen (AC) des Shijing mögliche Umstellung betont das Verb 知 zhī, indem es an den Anfang gestellt wird. Da ich als Philologe (als ein Freund der Wörter) schreibe, erlauben Sie aber, dass ich mir IHRE Fassung (Nr. 65) anschaue, um kontrastiv zu zeigen, worin die Besonderheit meiner Versionen liegt:
Hängende Hirse, in die Ferne gereiht,
Wieso "hängend"? Nicht im Text, wieso "in die Ferne"? = nicht im Text. Die Reduplikation lílí 離離 ist einfach unter den Tisch gefallen. Offenbar haben Sie nicht rezipiert, was ich dazu schrieb.
sieh die knospenden Ähren!
„sieh“? = Nicht im Text, freie Zutat. „Ähren“? = Nicht im Text, bitte erklären sie mir bio-logisch die Logik von „knospenden Ähren“ Knospe = nicht geöffnete Blüte, „Ähre“ = Frucht. Oder wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten bewusst das Oxymoron gewählt? Auch dann handelt es sich um eine freie Zutat. Was sollte es auch an dieser Stelle?
Schweren Schrittes geh ich dahin,
„schweren“ = nicht im Text, im Original befinden sich mit 行邁 xíng mài zwei (!) das Gehen unterschiedlich beschreibende Verben, sie verflachen die Expressivität in „dahingehen“. Erneut ist hier eine Reduplikation - mímí 靡靡 - unter den Tisch gefallen.
mein Herz kommt nicht zur Ruhe.
„mein“ = freie Zutat, 中 zhōng „Mitte, hier innen“ vorangestellt, aber in Postposition zu übersetzen, unterschlagen Sie, sie haben offenbar die Konstruktion nicht verstanden, Herr Bibliothekar. Ebenso unterschlagen Sie wie immer die Reduplikation.
Die mich kennen,
Subjekt: Ihre Wahl, anderes ist ebenso möglich wie meistens im Altchinesischen. Diese Übersetzung ist aber durchaus eine Möglichkeit. Ich gratuliere.
sagen, ich sei traurig.
心憂 xīn yōu „traurig“? 心 xīn ist im Altchinesischen kaum je mit der Bedeutung „Herz“ als Sitz der Emotionen zu verstehen, es bezeichnet den Sitz der Ratio, bedeutet also umfassend etwa engl. „mind“ oder dt. „Geist“.
Die mich nicht kennen,
fragen, was ich suche?
„fragen“? - 謂 wèi heißt „sagen“, im zwölfbändigen Hanyu dacidian (etwa dem zehnbändigen DUDEN entsprechend) sind auch für den altchinesischen Usus insgesamt zwanzig Bedeutungen aufgelistet, „fragen“ jedenfalls gehört nicht dazu (auch nichts Ähnliches). Sie, Herr Keller, mögen das für „buchhalterisch“ halten, ich meine, dass es immer um philologische Genauigkeit geht und dass die Präzision Grundlage des Respekts für den Text ist und sehr wohl seine Würde in der Übersetzung wahrt.
O großer Himmel, so blau und so weit,
Mit Ernst Jandl (und in bibliothekarischer Polemik = es sei mir einmal gestattet) möchte ich nur ausrufen Ogottogott. Ernsthaft: Interjektion O = freie Zutat, lässt mich an Rückert denken, Reduplikation unterschlagen.
was für ein Mensch ist das nur?
Ich will nicht ausweichen, aber lesen Sie zur Zeile den Kommentar von Gāo Hēng, S. 96 (genaue Angaben in meiner Bibliographie). Es würde hier wirklich zu fachchinesisch.
Selbstverständlich sind Sie der Meinung, IHR Vorschlag sei doch nun eine wirkliche Übersetzung und vielleicht hätte der Verlag lieber auf den Bibliothekar der Kantonsbibliothek Valdiana und Sonntagsübersetzer Raffael Keller zukommen sollen? Ich muss Ihnen aber mit einem gewissen Maß an Dank sagen, dass Sie gerade mit Ihren Vorschlägen explizieren, wogegen ich mich wende: Das anmaßende Auffüllen und Umbiegen des Originaltextes, die Herabstufung des Originals zum Material des „autolyrischen Übersetzers“ nach dem Rezept (oder sollte ich von Ihrer „Theorie der Übersetzung“ sprechen?): „Nehmen Sie so viele freie Zutaten wie möglich und mischen Sie alles gut zusammen. Es passt dann schon.“ Sie mögen von Ihrer „sprachlichen Imaginationskraft“ überzeugt sein, ich nenne dieses Herangehen ungenau und respektlos.
Ich möchte nicht auf alle Ihre Anwürfe und „Pauschal-Arroganzien“ (das ist ein Neologismus, Herr Bibliothekar!) eingehen, (ich bin Übersetzer und arbeite auch werktags) aber dass Sie meinen, meine beiden anderen Übersetzungen mit dem Verweis auf die Dunkelheit der Texte abtun zu können, ist nicht nur lächerlich und töricht sondern infam. Wären Sie Philologe, wüssten Sie, dass es keine „dunklen“ Texte gibt, es gibt Texte, jedenfalls aus der Sicht eines professionellen Übersetzers. Sie wüssten es auch, wenn Sie nur wenige Zeit aufgebracht hätten, sich die genannten Übersetzungen anzuschauen, denn ich setze mich mit der angeblichen „Dunkelheit“ auseinander.
Schöne Grüße in die Bibliothek
Dr. Rainald Simon
PS
Ich wünsche Ihnen weiterhin schöne Stunden mit dem Theosophen V.v. Strauß & Torney.
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Kommentare
Gegendarstellung von Herrn Dr.Rainald Simon
Nach dieser sehr erfrischenden Kritik wünschte mich mir noch eine Übersetzung des betreffenden Gedichts durch Herrn Dr. Simon.
Antwort Dr. Simon
Herr Dr. Simon lässt (weil das mit der Kommentarfunktion auf Fixpoetry in diesem Fall nicht so funktioniert, wie wir uns das wünschen würden - sorry!) ausrichten:
Was für eine alberne,
Was für eine alberne, beleidigte Reaktion auf eine (zurecht scharfe) Kritik.
Völlig unabhängig von jeglicher Diskussion verschiedener Übersetzungsstrategien – was sagt es über den Artikelvefasser aus, dass ihm die stete Nennung seines "Dr." offenbar unabdinglich ist (als ob der Titel allein schon kluge Gedanken garantierte), und gleichzeitig eines seiner Hauptargumente gegen Herrn Keller dessen Beruf als Bibliothekar ist?
An dieser Stelle müssten doch bitte mal zwei Dinge klargestellt werden:
1. Die übergroße Mehrzahl der Lyriker und Lyrikübersetzer im deutschsprachigen Raum kann nicht vom Schreiben allein leben und ist deshalb in einem Brotjob tätig. Das ist alles andere als ein Beleg für Dilettantismus oder "Sonntagsübersetzerei".
2. Raffael Keller ist studierter Sinologe und hat zahlreiche zeitgenössiche und klassische chinesische Dichter ins Deutsche übersetzt (u.a. die Werke von Du Fu). Man kann sich sicherlich mit ihm über seine Auslegung von Gedichten oder seine Übersetzungsstrategien streiten, aber ihm mangelndes philologisches Wissen vorzuwerfen, ist letztlich nur für denjenigen peinlich, der diesen Vorwurf macht.
Unabhängig davon sollte jedem Übersetzer, der sein Geld wert ist, klar sein, dass Präzision (die, da hat Herr Simon sicher recht, "Grundlage des Respekts für den Text" ist) keinesfalls immer aus Wortgetreuheit entsteht, sondern aus Wirkungsäquivalenz. Mit anderen Worten: Im Zweifelsfall ist eine Übersetzung, deren Wortmaterial und Grammatik sich weit vom Ausgangstext entfernt, dabei aber eine möglichst ähnliche Wirkung für den deutschen Leser entfalten wie das Original es für den chinesischen Leser tut, die weit präzisere und treuere als eine, die durch vermeintliche philologische Genauigkeit eine verfremdete, pseudo-offene Übersetzungsvariante der Originals liefert.
Man müsste sich also als guter Übersetzer fragen: Wie wirkt das Shi Jing (heute) auf einen chinesischen Leser? Und wie kann ich davon ausgehend einen deutschen Text schreiben, der genauso auf einen deutschen Leser wirkt? Natürlich wird man dieses Ideal immer nur näherungsweise erreichen, denn "den" einen Leser gibt es ja in keiner Sprache der Welt – aber damit muss man als Übersetzer leben können. Jede Übersetzung ist eine Entscheidung, das ist Teil des Berufsrisikos. Teil des Berufsethos ist es, für jeden Text die Bestmögliche zu treffen.
Die Alternative wäre eine rein philologische Interlinearübersetzung mit entsprechenden Kommentaren, die sich für einen so alten, von so vielen Deutungsschichten überlagerten Text natürlich auch anbieten würde. Auch dafür müsste man sich allerdings konsequent entscheiden – und dann in der Lage sein, seinen Standpunkt bei entsprechender Kritik sachlich darzulegen, anstatt mit persönlichen Angriffen à la "Herr Bibliothekar der Kantonsbibliothek Valdiana und Sonntagsübersetzer" anzukommen.
Antwort auf Frau Lea Schneider
Lea Schneider hat recht: Das berufliche Engagement Herrn Kellers tut nichts zur Sache und die ökonomische Lage der Übersetzer_Innen ist meist prekär. Ich weiß, wovon ich spreche. Aber was hat eine solche Binsenweisheit mit einer philologischen Kritik zu tun? Was meinen akademischen Grad angeht, so trage ich denn nicht vor mir her, das ist ein völliges Missverständnis, wenn er hier auf der Seite erscheint, dann geht es jedenfalls nicht auf eine Einforderung meinerseits zurück, allerdings muss ich mich dafür auch nicht schämen. Und sicher, vielleicht gibt es wirklich zu viel Polemik, aber ich lasse mich nicht ohne Reaktion einen "Dilettanten" nennen und ich reagiere auf die anmaßende Art, sich unterschwellig als der einzig kompetente Übersetzer zu geben. Ich habe deutlich den Eindruck, dass es Herrn Keller nicht um die Sache allein ging. Wie kann er meine früheren Übersetzungen raunend abqualifizieren, offenbar ohne sie überhaupt gelesen zu haben? Es ist leider auch ein Symptom für den beklagenswerten Zustand der deutschsprachigen (klassischen) Sinologie, dass faire sachliche Kritik (wie in den USA möglich und verbreitet ) offenbar keine Heimstatt mehr hat.
Sie sprechen von "Wirkungsäquivalenz": das ist ein Begrif bar jeden Inhalts, jedenfalls in Bezug auf einen Text aus dem 7. vorchristlichen Jh. oder haben Sie ein gesichertes Wissen (oder eine Vorstellun9) darüber, wie Menschen der chinesischen Bronzezeit empfanden und dachten? Und es kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass ich versuchen sollte, die Wirkung eines bronzezeitlichen Textes auf heute lebende Chinesen zur Grundlage meiner Übersetzung zu machen. Ich muss Ihnen nicht sagen, um viele Individuen es sich handelte. Was ich tun kann, ist, das intellektuelle, akademische, rezente Verständnis des Textes in seiner Kultur kennen zu lernen und zur Grundlage meiner Übersetzung zu machen - genau das habe ich getan und im Nachwort begründet. Für mich ist das Ausweis eines respektvollen Umgangs mit dem Text, meiner Übersetzung liegt das Verständnis eins großen Altphilologen Chinas, Gao Heng, zu Grunde.
Jede Übersetzung ist aber an das zeitliche Bewusstsein des Übersetzers gebunden und das heißt auch an seine literarischen Erfahrungen in seiner Sprache. Nach Paul Celan, Ingeborg Bachmann und einigen anderen kann man meiner Meinung nach nicht im Stile der Spätromantik des 19. Jh.(wie G. Debon) übersetzen. Ich habe also etwas Neues versucht, indem ich eine längst bestehende Linie aufnahm, alles das ist in meinem Nachwort genau dargestellt und begründet. "Eine Übersetzung, deren Wortmaterial und Grammatik sich weit vom Ausgangstext entfernt", wie Sie schreiben, ist eine Paraphrase mit einem kurzen Haltbarkeitsdatum, jedenfalls in meinen Augen und Ohren. Ich bin kein Nach-Dichter, ich entwürdige den Text nicht als Material, um Kontrafakturen herzustellen oder wie Sie sagen, eine wohl nur vom Übersetzer selbst definierte vage "Wirkungsäquivalenz" zu behaupten. Über die ästhetische Wirkung ist allerdings wohl zu streiten, aber sie berührt das Subjekt im Kern und damit gibt es eine Grenze des Diskurses. Zunächst wohlklingende Begriff wie Wirkungsäquivalenz können nicht vertuschen, das es immer noch (besonders in der Altphilogie) handwerkliche, gediegene Grundlagen des Übersetzens gibt, dass ich schlicht mit den Lexika (mit meinem Apparat) umzugehen verstehe und das Zeichen ernst nehme und es nicht durch frei gewählte angeblich äquivalente ersetze.
Wenn Herr Keller von Telegramm-Stil spricht, dann soll er das tun, es muss ihm nicht gefallen, wie ich übersetze, aber sein offenbarer Anspruch, die einzig wahre Methode des Übersetzens gefunden zu haben, steht für mich auf tönernen Füßen, schaue ich genau seinen Umgang mit den Zeichen (semiotisch & sinologisch gemeint) an. Ich habe das zu meiner Überraschung an wenigen Zeilen zeigen können oder fallen diese Dinge auch unter die erlaubte, wenn nicht gewünschte Entfernung vom Text? Doch wohl nicht.
Wer so agressiv losbellt, wie Herr Keller, muss auch das Zurückbellen, sprich den "Sonntagsübersetzer" einstecken, und doch haben Sie mit Ihrer Kritik der Form recht & wenn es auch hilflos klingen mag: Ich bin es nicht, der dieses Arsenal auspackte, das geschah schon in der kampferprobten Schweiz. Zum Schluss verrate ich Ihnen noch etwas: Mir war die Jahre dauernde Arbeit an meiner Übersetzung ein Glück, das niemand zertrampeln kann, auch nicht ein jüngerer Übersetzer-Kollege, der sich nicht als kritischer Kollege zu verhalten weiß. Sei's drum.
Noch ein paar Worte zum Thema und an Herrn Simon
Der "Herr Bibliothekar" wagt noch einmal das Wort zu ergreifen, möchte sich bei Lea Schneider für die Schützenhilfe bedanken und im selben Atemzug auf die vorzüglichen Übersetzungen zeitgenössischer chinesischer Gedichte, die Frau Schneider auf lyrikline.org veröffentlicht hat, hinweisen: Für mich sind das nur schon deswegen gute Übersetzungen, weil sie für sich allein stehen können und man nach ihrer Lektüre das Gefühl hat, ein Gedicht oder einen literarischen Text gelesen zu haben, ohne dass einen gleich der Verdacht oder der Wunsch beschleicht, es wäre eben doch besser, könnte man das Original lesen.
Es ist also, verehrter Herr Simon, keineswegs so, dass ich mich etwa im Alleinbesitz der einzig selig machenden Übersetzungsmethode wähne, sondern ich bin sehr froh, dass es noch andere gibt, die dieses Geschäft mit Herzblut betreiben, und je mehr es werden, desto besser für die chinesische und die deutsche Literatur. Im Bereich der klassischen Literatur scheint mir das Feld allerdings in letzter Zeit doch etwas ausgedünnt, woran das auch immer liegen mag. Vielleicht daran, dass die Philologie eine Wissenschaft, das Übersetzen hingegen eine Kunst, im mindesten aber ein Kunsthandwerk ist, an den Universitäten aber alles, was nicht unter "Wissenschaft" läuft, als minderwertige Beschäftigung angesehen wird. Die Philologie kann dabei dem Übersetzen hilfreiche Dienste leisten, doch wenn umgekehrt das Übersetzen in den Dienst der Philologie tritt, ist noch selten etwas Kunstvolles dabei herausgekommen, und Lyrik ist nun einmal eine Kunstform.
Auch Ihr Buch, werter Herr Kollege, habe ich mit Vorfreude gekauft, doch wenn ich einen Band der "Reclam Bibliothek" erwerbe, hege ich gewisse Erwartungen, und in diesen sah ich mich, ich kann es nicht anders sagen, herb enttäuscht, ja geradezu ge-täuscht, weil ich rasch den Eindruck bekam, dass Ihre Fassungen, wenn sie für sich allein stünden, recht dürftig oder eben der wohl auch aus diesem Grund beigesellten Originaltexte bedürftig wirken würden. Deshalb fühlte ich mich berechtigt, etwas schärferes Besteck im Geiste Tucholskys (oder meinetwegen Reich-Ranickis) auszupacken und deshalb gilt meine Kritik mindestens so sehr der Unverfrorenheit des Verlags wie den Texten, denn das Recht, Ihre jahrelange Arbeit zu veröffentlichen, kann und will ich Ihnen nicht absprechen - es fragt sich nur, welches der geeignete Rahmen dafür ist. Ebenso wenig möchte ich Ihr damit einher gegangenes Glück "zertrampeln", das ich insofern nachvollziehen kann, als ich mich vor Jahren selbst am Shijing versucht, aber nach zwei Dutzend Liedern aus Zeitmangel und weil ich mit meinen Fassungen nicht zufrieden war, aufgegeben habe. Hätte ich mich ihnen fünf Jahre ungestört und mit freiem Geleit widmen können, wie das der adlige Herr von Strauss wohl noch konnte, wäre vielleicht etwas Annehmbares daraus entstanden.
Und was die Bronzezeit betrifft: Ist es nicht auch verblüffend zu sehen, wie so manches sich gleich geblieben ist, da wir gottlob oder leider Gottes, ob im alten China oder im momentan etwas alt aussehenden Europa, immer noch meistenteils Menschen aus Fleisch und Blut sind, auch wenn wir einander inzwischen nicht mehr nur in der freien Wildbahn sondern auch im Internet an die Gurgel springen können? Den Höhlenbewohner tragen wir immer noch in uns, und die Aufgabe des Übersetzers könnte auch sein, solche Konstanten deutlich zu machen, dann dürfte auch das Fremde und in die Ferne gerückte umso klarer hervor treten.
Mein eigentliches Ziel, dass über die Übersetzung chinesischer Lyrik etwas mehr debattiert wird, habe ich aber wohl erreicht. In diesem Sinne wünsche ich allen weiterhin Glück und Freude beim Übersetzen und ein schönes Wochenende!
Antwort auf Herrn Raffael Kellers Kommentar
Nun, Herr Kollege, möchte ich Ihnen mit Respekt sagen, dass Sie im Großen und Ganzen einen versöhnlicheren Ton anschlagen, der doch ganz sicher der Sache, und das ist die Auseinandersetzung über die Art(-en) zu übersetzen, nutzt. Sie wissen doch ganz sicher, dass es im China der Song-Dynastie Usus unter den "literati" war, sich in Form von Brief-Gedichten auseinanderzusetzen. Ich werde Ihnen nun aber kein Gedicht schreiben, ich möchte Sie nicht schon wieder "täuschen".
1. Ich möchte Ihnen aber ganz offen ankündigen, dass ich mir Ihre neue Übersetzung sehr genau ansehen werde, und zwar mit streng philologischen Augen und (fairen) Methoden.
2. Ich sage es noch einmal: Ihre Ablehnung meiner deutschen Texte ist ein ästhetisches Urteil, das ich schlicht und einfach hinzunehmen habe.
3. Wenn Ihre ästhetischen Ansprüche nicht erfüllt sind, sprechen Sie von Dilettantismus und Täuschung seitens des Verlages. Entschuldigung, das erinnert an die Reaktion des Kindes, wenn sich die ersehnten sauren Drops als irgend eine süßlich verbrämte Öko-Sache der gesundheitsbewussten Eltern herausstellt. Ich nehme diese Reaktion nicht ernst und werde dazu nichts mehr äußern.
4. Vielleicht kennen Sie die hervorragende Arbeit von Antony Tatlow zu B. Brechts "Chinesischen Gedichten" (Suhrkamp), überwiegend von Bai Juyi (wenn ich mich recht erinnere, ich habe das Buch nicht greifbar): Antony Tatlow spricht von Brechts Fassungen nach den englischen Übersetzungen von Arthur Waley (den ich für keinen guten Übersetzer halte) von "paraphrastischen Originalprodukten", da Brecht den Ton und die Tendenz Bai Juyi's meisterlich getroffen habe. Nun sind weder ich noch Sie (mit Verlaub gesagt) Lyriker vom Niveau BB's. Was Brecht vielleicht gelang, und wenn es ihm gelang, dann wäre er ein guter Übersetzer aus dem Englischen, kann doch kein Anspruch sein, dem man folgen könnte. Die Grenze zur Paraphrase ist allzu schnell überschritten!
5. Daraus folgt, was ist es für eine Vorstellung, heutige lyrische Texte wie ein wunderbares Eichendorff-Gedicht übers Ohr zu goutieren? Es ist die Mitwirkung des Rezipienten gefordert, er muss sich schon ein wenig anstrengen, das "Hört doch nicht so romantisch!", um BB abzuwandeln, heißt, dass ein einlullendes Eiapopeia (wie die Fassungen Victor v. Strauß`) nicht mehr möglich ist. Die Zeitgeschichte ist rau und ich will gar nicht ausführlich auf Adornos bekanntes Diktum zur Möglichkeit von Lyrik eingehen, aber es reicht ja auch, wenn man Paul Celan gelesen hat, oder um noch andere zu nennen, Ernst Meister, Peter Huchel.
6. Wenn Sie am Wochenende nicht übersetzen, dann nehmen Sie einmal die 800 Seiten meiner Arbeit und suchen sie ein vorösterliches Ei: Es gibt ein sehr konventionell gefasstes Lied innerhalb der 800 Seiten, und, tatsächlich, mit Reimen! So viel zu Unvermögen und so viel zur Genauigkeit Ihrer Lektüre.
7. Der gerade verstorbene große Kollege Ernst Dedecius schrieb in seinem (Suhrkamp-) Bändchen "Vom Übersetzen " (o. ä. ich zitiere aus dem Kopf): Jede gelungene Übersetzung enthält wohl eine misslungene Seite. Das ist ein sehr menschlicher Satz eines großen Übersetzers. Ich nehme ihn sowohl für mich wie für jeden anderen Übersetzenden in Anspruch. (Er entschuldigt natürlich keine Fehler!)
8. Wenn Sie denn das Shijing so schätzen, legen Sie Ihre Fassung vor, ich bin gespannt. Dieses Werk hat den edlen Wettstreit wirklich verdient.
9. Die Höhlenbewohner mitsamt ihren Keulen sperren wir in einen Ihrer Schweizer Alpenbunker.
Gutes Übersetzen!
Rainald Simon
Keine Angst, wir sind seit
Keine Angst, wir sind seit längerem dabei, uns inmitten der Festung Europa noch gesondert einzubunkern ...
Doch noch etwas zur Wirkungsäquivalenz: Den graphischen Exzess der Schriftzeichen macht die chinesische Sprache bekanntlich mit äusserster Ökonomie in der Grammatik wett, d.h. es wird nur das Allernotwendigste bestimmt und alles übrige weggelassen. In unseren europäischen Sprachen ist es wohl umgekehrt: Die Ökonomie der Buchstaben ermöglicht einen gnadenlosen Überfluss an Grammatik. Darum meine ich, eine wortgetreue oder gar Wort-für-Wort-Übersetzung aus dem Chinesischen muss noch mehr in die Irre führen, als wenn dieses Vorgehen zwischen europäischen Sprachen angewandt würde. Stattdessen müsste man eher versuchen, die Bilder wiederzugeben, welche ganze Verse evozieren oder die Schriftzeichen in ihrem Beisammenstehen suggerieren, und darum mag in meiner Übersetzung manches dastehen, was im Originaltext vordergründig nicht zu finden ist. Aber in einem guten Gedicht steht ohnehin immer viel mehr, als schwarz auf weiss dasteht.
Antwort auf Kommentar 6
In jedem Text ist mehr enthalten als ausformuliert wurde. Der Grund ist, dass Sprache ein radikales System der Reduktion ist. Sagt man "Zimmer", öffnet man die Türe zu Abermillionen architektonischen Gebilden usf. Die Reduktion ist im klassischen Chinesischen, besonders in der Lyrik, auf eine sehr hohe Stufe getrieben. Meine Auffassung nun ist, dass die Reduktion erhalten bleiben sollte, da nun einmal das Original so ist, wie es ist, und der Übersetzer davon so viel wie nur möglich transponieren sollte, um dem Fremden Achtung zu erweisen und nicht zu verbergen, dass Fremdes eben fremd ist und die Anmutung des Anderen (Nicht-Identischen) behalten sollte. Ich nenne das deiktisches Übersetzen, ein das Fremde zeigendes und damit respektierendes Übertragen. Das heißt nun aber gerade nicht eine schlichte "Wort-für-Wort-Übersetzung" anzustreben, keine meiner Übertragungen ließe sich so charakterisieren. Abzumessen, wie weit der Übersetzer in seine Sprache gehen kann, das ist die "Kunst" oder das kunstfertige Handwerk. Mit welchem Recht spanne ich unsere indoeuropäische Grammatik auf eine beträchtlich geringer normierende Struktur? Joachim Schickel fiel in diesem Zusammenhang das Bett des Prokrustes ein, auf das die chinesische Struktur gezwungen werde. Ich behaupte, dass der chinesische Rezipient die gewollten Leerstellen assoziativ auffüllt, etwa so wie man die Leere eines Tuschebildes mit "Himmel" oder "Wasser" im Verständnis zu füllen vermag. Das heißt nun aber nicht, dass ich diese Anstrengung stellvertretend für Rezipienten meiner Sprache übernehme, "auffüllende" Übersetzer dieser Art (Vinzenz von Hundhausen, um einen der erbärmlichsten dieser Richtung zu nennen) bringen eine exotistische Melange hervor. Nichts gegen die Melange, auch nichts gegen den Impetus , "sich Fremdes anzuverwandeln", meine Sache ist es nicht. Ich möchte nicht an dem Chinabild der "Porzellanpagoden" des Exotismus weiterpinseln. "Kein Schaden ist größer, als das Genügen nicht zu erkennen" (Laozi 46) und weniger einzugreifen, ist oft genügend. Wo aber zu weitgehend eingegriffen wird, lässt sich nur Zeichen für Zeichen mit den Werkzeugen der Philologie untersuchen und kritisieren.
Um Meilen weiter
Im Gegensatz zu Rainald Simon halte ich Lea Schneiders kühnen Versuch, das Ziel des Übersetzens in einem Wort wiederzugeben, für bedenkenswert und ihre "Wirkungsäquivalenz" nicht für einen "Begriff bar jeden Inhalts", auch nicht im Hinblick auf chinesische Liedertexte aus vorchristlichen Jahrhunderten. Lea Schneiders "Wirkungsäquivalenz" fußt zudem nicht auf der Anmaßung eines "gesicherten" Wissens über "Menschen im China der Bronzezeit", sondern benennt in kürzester Form, wie die Texte dieser so fernen wie fremden Lieder im Deutschen auf uns Lesende wirken könnten oder sollten. Dass das im Jahr 2016 nicht mehr im "einlullenden Eiapopeia" von Victor von Strauss möglich ist, liegt auf der Hand. Und dass man heute nicht im Stil der deutschen Spätromantik an das Shijing herangehen sollte, ist mir auch klar, wenngleich ich Günter Debons anrührendes übersetzerisches Werk nicht als spätromantisch abtun würde und seine Auswahl aus dem Shijing eher den Volksliedton aus des „Knaben Wunderhorn“ trifft.
Eine andere Frage ist, ob man nach Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Peter Huchel und Ernst Meister diese Lieder heute so übersetzen sollte, dass sie sich teilweise lesen, als seien sie von einem Nachfahren ihrer Lyrik verfasst. Offenkundig hat sich Rainald Simon bei seiner Arbeit jener klassischen Moderne trotz ihrer ganz anders gearteten Ästhetik verpflichtet gefühlt. Seinem anerkennenswert großen Aufwand zum Trotz scheint mir das eine fragwürdige Entscheidung (für Debon gar „ein abwegiger Gedanke“). Zwar malt Simon damit nicht weiter am „Chinabild der Porzellanpadogen“, aber er gerät in die Nähe derer, die mit rätselhaften Übertragungen am ewigen Rätsel China fort weben und wirken. Und man versenkt sich stirnrunzelnd in ein doppelt gewundenes Gebilde wie das, mit dem der Reclam-Verlag seine Werbung bestückt: »Sich wölbendes Gezweig am Südhang, / von Wein umwunden. / Freudevoller Herr, / Glück naht, vollendet dich.« Oder man fragt sich angesichts dieser unbeholfenen Strophe, wer da von wem oder was singt: "Kalesche, rappelt, klappert, / sie im feinen Kleid, schilfsprossengrün. / Wie nicht an dich denken? / Ich fürchte, du wagst es nicht."
Sicher wurden diese 305 frühesten Lieder von den wenigen bisherigen Übersetzern je nach Entwicklungsstand deutscher Poesie wirkungsäquivalent geglättet oder angereichert und manche Verse arg verbogen, um ihnen einen Reim aufzuzwingen. Aber offenkundig darf, ja muss man wie Raffael Keller im Deutschen hin und wieder ausschreiben, was in einem chinesischen Zeichen sonst nur mitschwingt. Die Güte einer Übersetzung bemisst sich demnach nicht zuletzt daran, ob und wie weit sie ausdeutet oder ergänzt (nach meinem Empfinden übrigens weniger weit, als es ihr Lea Schneider zugesteht). Umgekehrt bietet der Vorsatz, nah am Wort und der Struktur der fremden Verse zu bleiben, keine Gewähr für eine poetisch geglückte Übertragung. Hätten die durchgeformten und gereimten Lieder im Chinesischen so ungelenk geklungen wie es die Übersetzung von Rainald Simon nahelegt, wer weiß, ob sie je gesammelt und uns überliefert worden wären. Von den formalen Eigenheiten oder Auffälligkeiten haben es Simon ausgerechnet die Reduplikationen angetan, die im Deutschen häufig läppisch wirken. Dennoch hat die von ihm vorgelegte Ausgabe des Shijing ihre Verdienste. Sie ist vollständig, sie kommt mit einer Fülle von Anmerkungen, Überlegungen und Angaben im Schlepptau gar zweisprachig plus phonetischer Umschrift daher und nicht zuletzt bewegt sie sich dabei nahe an Interlinearversionen. Das macht sie nach 1880 zu einem weiteren Meilenstein - für alle, die im Auge behalten, wozu ein solcher dient. Ich meine, damit lässt sich doch weiter arbeiten.
Stirnrunzeln
1. Die Stirn zu runzeln ist eine hervorragende, da lebendige, Reaktion auf Worte.
2. Kunstwerke ohne Rätselhaftes? Ist nicht das Enigmatische jedem Kunstwerk eingeschrieben?
3. Epitheta wie "unbeholfen, ungelenk, läppisch" etc. sind subjektive Geschmacksurteile von einem ungemein hohen alpinen Dichterthron herab geäußert. De gustibus non est disputandum. Ich bin bass erstaunt, dass man in der doch gemäßigt temperierten Schweiz derart schimpfen kann.
4. Die Reduplikationen haben es mir nicht einfach "angetan", sie sind ein charakteristischer und damit eigenartiger Zug der frühen chinesischen Literatur und dennoch nahezu immer übergangen worden (es wird übrigens im Nachwort ausgeführt). In meiner Sicht zeugt dieses Unter-den-Tisch-fallen-lassen von magelndem Respekt für den Text und seine Eigenarten. Ist es denn wirklich so schwer zu verstehen, dass der Sinologe, der mindestens einen kleinen Schlüssel zum Original in Händen hält, alle Türen damit öffnen muss?
5. Ich sehe mich nicht als "Nachfahren der klasssichen Moderne", welche Anmaßung wäre das denn! Ich misstraue einfach hergebrachten & abgespielten sprachlichen Mitteln - auch in den Übersetzungen.
6. "Wirkungsäquivalenz" ist ein schmucker Jargonbegriff aus einem Oberseminar für Translationswissenschaft. Er lässt sich nicht kurz und falsch in den Begriff "Wirkung" übersetzen, ( wie es Theobaldy versucht,) enthält er doch das lateinische Adjektiv "aequalis - gleich". Eine Übersetzung soll also die gleiche ästhetische Wirkung erzeugen wie das Original zur Zeit seiner Entstehung, sagen wir am Hofe der Zhou-Könige, oder mindestens die heutige Wirkung des alten Originals auf Menschen in seinem Sprachkreis anstreben? Beides ist unmöglich und deshalb erscheint mir der Begriff sinnlos zu sein. Man sollte sich nichts vormachen: Jede Übersetzung ist eine neue Schöpfung in der Zielsprache, aber überwiegend nicht aus Eigenem, sondern innerhalb der hohen Hürde des Originals und (!!!) der wissenden Erklärungen seiner Exegeten und philologischen Kommentatoren in seiner Sprachwelt. Vielleicht sollte man einfach ein wenig bescheidener und ehrlicher sein, was die Möglichkeiten des Übersetzens angeht.
7. Persönliche Anmerkung des Übersetzers: Ich bedanke mich aufrichtig für den Meilenstein, ich weiß, warum ich die Schweiz bei aller Polemik mag.
Doch ein Antidot gegen das Stirnrunzeln
Jürgen Theobaldy sollte ein wenig genauer lesen. Das vom Reclam-Verlag für seine Werbung ausgewählte Lied (Nr. 4, S. 17) besteht aus 4 Strophen à vier Versen, die Strophen unterscheiden sich nur durch ein einziges Wort. Die drei Worte umfassen eine bedenkenswerte Steigerung:
Glück - beglückt
Glück - stützt
Glück - vollendet.
Die Metapher des sich "wölbenden Gezweigs" wird in den Anmerkungen erklärt. Was soll also die Charakterisierung als "doppelt gewundenes Gebilde" besagen? Ich vermute, Jürgen Theobaldy las tatsächlich nur den Werbetext. Zudem stellen die unverändert dreimal wiederholten beiden ersten Verse die für das Shijing spezifische Form der Einleitung xing 興 dar, die im Nachwort S. 810 f. vorgestellt wird. Man darf doch von jemandem, der sich mit (mindestens) 2700 Jahre alten Texten beschäftigt, erwarten, dass er sich auf die Sache anders einlässt, als die üblichen 10 Texte eines Lyrikers auf lyrikline.de anzuhören. Ich bin Sinologe und Übersetzer und nicht der Bote hörgerechter Häppchen für spätabends.
Zum zweiten von Jürgen Theobaldy zitierten Lied (Nr. 73, S. 171):
Wie kann denn ein Lyriker wie weiland der Deutschlehrer NN fragen: "wer da von wem oder was singt (...)". Ich kann mir eine solche Frage nur mit der durchgängigen strukturellen Schlichtheit der 10 Texte Jürgen Theobaldys auf (nun wirklich) lyrikline.de erklären. Nichts gegen die bisweilen fast ohne Metaphorik auskommende an arte povera erinnernde Schreibweise, wie sie z. B. auch der großartige Rolf Haufs pflegte oder William Carlos Williams. Das Altchinesische (vor allem in der Lyrik) gibt meist kein Subjekt an. Der Text beginnt mit einem Blick aus der Außenperspektive, um die Situation zu beschreiben: Fahrt in der Kalesche. Darauf folgt in Binnenperspektive der innere Monolog der verlassenen Frau. Wenn man will hat es einen filmischen Charakter (die Augen "filmten" auch vor 2 Jahrtausenden) : Take 1: fahrende Kutsche, Take 2: Frau (und schweigender Mann) im Inneren der Kutsche. Diese Situation wird in den (direkt unter den Text gesetzten !!!) Anmerkungen erläutert. Zugegeben: Das ist für die frühe Entstehungszeit eine (maßvoll) komplexe Struktur. Immerhin scheint sie noch im 21. Jh. gewisse Anforderungen zu stellen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass unkonzentriertes Lesen oder schlicht Gar-nicht-Lesen zu vollkommen verzerrten Eindrücken führt. Ist es denn übertrieben, von den Tucholskys & Reich-Ranickis des 21 Jh. genaues Lesen abzuverlangen?
Neue Fassung von Gedicht Nr. 73
Gedicht Nr. 73 würde ich - genauer, verständlicher und vor allem musikalischer (Lyrik kommt von Lyra, einem Musikinstrument) - wie folgt übersetzen, denn weder "sie" noch "er" stehen im Originaltext, ebenso wenig wie zwischen "Kleid" und "Rock" unterschieden wird:
Der prächtige Wagen rattert und rollt.
Ein Pelzgewand, wie Schilfsprossen fein.
Wie wollte ich nicht bei dir sein –
nur fürcht’ ich, du traust dich nicht mit mir!
Der prächtige Wagen rumpelt voran.
Ein Pelzgewand, so rot wie Rubin.
Wie wollte ich nicht bei dir sein –
nur fürcht’ ich, du willst nicht mit mir fliehn!
In eigenen Flügeln werden wir speisen,
im Tod in einer Kammer ruhn.
Und hast du kein Vertrauen zu mir –
die Strahlen der Sonne bezeugen es dir!
In meiner Sicht zu viel taubes Gestein
Kurz & philo-logisch & sino-logisch"
prächtig" = unnötige Zutat, "Schilf" gibt den Farbton, ebenso wie "Rubin": Parallelität gestört, "rumpelt voran": Reduplikation gestört, "rumpeln" klingt weder nach Kalesche und schon gar nicht nach Pracht, sondern eher nach Karren, Chaise. "nur fürcht' ich = falsche Sprachebene, klingt nach Umgangsdeutsch (und Friedrich Rückert) "Flügel" Assoziation "Schloss" (Versailles?), hier steht der einfache Begriff 室 shì "Haus" . Es gäbe mindestens drei Zeichen, die hätten ausgewählt werden können, um repräsentative Architektur zu kennzeichnen: 宮 oder 樓 oder am besten passend 闕, das bedeutet nämlich Flügel eines Palastes. Das einfache Zeichen ist ein Signal der sozialen Zugehörigkeit der Person oder Personen, es solllte nicht einfach außer Acht gelassen werden. "Strahlen der" = unnötige Zutat, "mir-dir" als Reimung? Da ist Kling-Klang-Methode, im Original gibt es an diesen Stellen keine Reimung. usw. usf. Kurz & philologisch: Philologie bedeutet immer Genauigkeit und eine gewisse Radikalität z. B. in der Akzeptanz der Eigenarten des Originals wie z. B. der Reduplikationen, sie ist das Neue und in meiner Sicht Erstrebenswerte, Radikalität kommt von lat. radix = Wurzel. Die Wurzel ist das Wort/Zeichen und Umdeutungen laufen Gefahr, meine ich, denText zu verraten. Auch ist zu bedenken, dass die 2700 alten Texte den Charakter von Fragmenten haben, ihre Begleitmusik ist verloren, der wirkliche Klang ist nur in (z. T.) umstrittenen Rekonstruktionen erschlossen. Das Fragmentarische, das in der Zeit brüchig Gewordene, sollte nicht unterschlagen werden oder sollte jemand eine klangliche Harmonie vorgaukeln wollen, die sich gar nicht belegen lässt? Wohlklang ist aber sicher ein Kriterium, aber beileibe nicht das einzige, der Übersetzer sollte jedenfalls zeigen, was das Fragment enthält, ohne freie Zutaten oder Umdeutungen, aus einem "Haus" die Flügel eines Schlosses zu machen, kann der bildnerischen Phantasie des Rezipienten überlassen bleiben. Das Schönen & UmschmInken des Originals ist jedenfalls nicht das Ziel des deiktischen (vorzeigenden, hinweisenden) Übersetzens. Die Schminkpalette ist gerade bei Übersetzungen aus dem Chinesischen zu oft, zu lang und zu verstellend angewendet worden, es ist Zeit sie zu schließen.
Kurz zurück
Kurz zurück
„Wirkungsäquivalenz“ verstehe ich hier so: Ein über zweitausend Jahre altes gereimtes, stark rhythmisiertes und metrisch verfasstes Lied aus China sollte auch im Deutschen als ein möglichst gereimtes und gleich stark gebundenes Lied erscheinen, sodass wir es lesend als ein frühes Lied aus dem Reich der Mitte empfinden können. An den meist lautmalerischen Reduplikationen mag man dabei getreulich festhalten oder sie hervorheben und das manchmal Läppische daran dem Kindlichen, Archaischen jener lyrischen Frühzeit zuordnen. So oder so beziehe ich die Gleichheit der Wirkung auf die Form, auf das ganze sprachliche Gebilde, nicht auf die Rezipienten, weder auf die längst zu Staub Zerfallenen noch auf uns Lebende, eben weil der Begriff damit sinnlos würde. Die kontroversen Debatten zur Übersetzung von Lyrik füllen bekanntlich halbe Bibliotheken, erst recht dann, wenn ein Übersetzer den eigenen, von niemandem bezweifelten Stand wieder und wieder hervorstreicht, die kritisch sich Meldenden zunächst verunglimpft und ungenaues Lesen zu seinem Standardvorwurf erhebt. Ich lese insofern genau, als ich genau das lese, was in der Übersetzung selbst steht, ob erst Anmerkungen es erhellen und bisweilen dessen Unzulänglichkeit bloßlegen oder nicht. Zum Beispiel ist da im ersten Vers der oben zitierten Strophe das Komma, das „Kalesche“ von „rappelt“ trennt und somit Nomen wie Verb aus ihrem semantischen Bezug löst (emphatisch: befreit). Beide gewinnen an Eigenwert, quasi auf dem Weg in Richtung Verabsolutierung des einzelnen Worts, ein Ausdrucksmittel der modernen Poesie, aber in einem mehr als zweitausend Jahre alten Lied ähnlich daneben wie an anderen Stellen bisweilen erheiternde, "in der Zeit" noch nicht "brüchig" gewordene Neologismen, etwa Tätigkeiten wie „einhemden“ oder „einblusen“ beim Sammeln von Kräutern. Unabhängig davon, dass seine Überlegungen ihre Berechtigung haben und Simon seine Lösungen fundiert begründet, vermisse ich an seinen Versionen poetisches Gespür, so auch an den zwei letzten Zeilen der „Kalesche“: „Sagst, glaubst mir nicht, / hast die Sonne als Zeuge.“ Simons Übertragungen sollen einerseits radikal verknappen, was nur zu loben ist, und wollen sich andrerseits exquisit von früheren abheben: „schilfsprossengrün“, „granatsteinrot“ oder „Kalesche“ statt schlicht wörtlich „großer Wagen“. Freilich darf dabei das Liedhafte, womöglich Magische, der Zauber gar dieser frühen Texte, ohne all das ich mir ihre Wirkmächtigkeit kaum vorstellen kann, nicht auf der Strecke bleiben. Andere mögen anders gewichten, weil die Melodien dazu verloren sind, mit Simon gar Fragmente in ihnen sehen. Ich habe versucht, seine Übersetzungen als „ungelenk“ nicht zu beschimpfen, sondern hinreichend zu beschreiben. Punkt.
Gelenklockerungen
Verunglimpfungen begannen nicht bei mir , man hat in der ersten "Kritik"versucht, meine gesamte bisherige, in Zusammenarbeit mit dem hervorragenden Lektor Dieter Meier des Reclam-Verlages in Jahren entwickelten Übersetzungen (ich wiederhole mich) mit einem infamen, vernichtenden Seitenhieb in den Staub zu treten. Wenn eine angebliche Diskussion über Übersetzungsmethodik usw.,so begonnen wird, ist leider damit eine fatale Ebene gesetzt. Dennoch sage ich hier netzöffentlich, dass ich niemanden verunglimpfen möchte und wenn Äußerungen so aufgenommen wurden, bitte ich aufrichtig um Entschuldigung. Manche vielleicht allzu scharfe Bemerkung oder Formulierung ist unter das Rubrum "Resonanz" zu subsumieren.
Zu Jürgen Theobaldy,
"Ungelenk" eine neutrale Beschreibung? Ich jedenfalls emfinde die Konnotationen des Adjektivs anders, ebenso die der weiteren, da hilft auch der "Punkt." nichts, aber es ist ein müßiges Geschäft, sich über diese Dinge weiter aufzuregen. Viel wichtiger ist Folgendes: Nehmen wir ein ganz einfaches über 3600 Jahre altes chinesisches Schriftzeichen: 日 rì "Sonne" (später auch "Tag"). Das Zeichen wird länger benutzt als es eine entfaltete Zivilsation in unseren Breiten gibt (ganz zu schweigen von Lyrik) . Wir treffen also auf ein winziges Mosaiksteinchen einer der alten menschlichen Hochkulturen: Das fordert Respekt ab. Wenn nun aus dem Wort Sonne = Strahlen der Sonne (oder Glanz der S. oder Schein d. S. ...) wird, um damit die Liedhaftigkeit, den Klang, den Reim, den Melos, den Schmelz der Sprache usf. auszudrücken, so ist es prinzipiell meine Art nicht. Es fehlt die Achtung vor dem Zeichen (sinologisch & semiotisch). Dann muss in des Übersetzungsgottes Namen eben jemand zum ersten Mal "ungelenk" formulieren. Dieses einfache Beispiel erweiternd: Ein gereimter, nach bestimmten Formmustern gebauter lyrischer Text sollte eben mitnichten in einen Text der Zielsprache übersetzt werden, der vergleichbare Muster und Eigenarten aufweist. Warum nicht? Da dieser Anspruch nicht einlösbar ist, ohne den Text zu verzerren, zu dehnen, aufzufüllen und was mehr der greulichen Sprachzwänge sind. Damit wird ein die Romantik (das Kunst-Volkslied) nachahmendes Sprechen erzeugt, das bis heute eine Art Main-Stream in Übersetzungen aus dem Chinesischen darstellt. Es gibt darunter wunderbar gelungene Lösungen: Die chinesischen Gedichte des Sinologen (!) Günther Eich. Aber wohlgemerkt, Eich fand einzigartige Lösungen für die kürzeste aller Formen, für das nur 20 Zeichen/Wörter umfassende Vier-Verse Gedicht der Táng-Dynastie (618-907): Einige davon sind große Kunst, aber die Methode Eichs scheint mir eben nur bei dieser Kurzform ohne jene Sprachzwänge auszukommen.
Und nun zum "poetischen Gespür". Ich lasse mir solches von niemandem absprechen. Dazu kann man nur auf Leser und Hörer setzen, auf die Rezeption also. Wenn Sie schon, Jürgen Theobaldy, meine Affinität für die klassische Moderne ansprachen, dann wissen Sie ganz sicher auch, dass Paul Celan bei seiner ersten und einzigen Lesung vor der Gruppe 47 ausgelacht wurde. Ich möchte mich (ich wiederhole mich) nicht mit einem der Großen des vergangenen Jahrhunderts auch nur im Entferntesten vergleichen, aber die Nachricht zeigt doch, das Urteile derart apodiktischen Charakters auf töneren Füßen stehen. Oder entscheiden das neuerdings Lyriker in ihrer Branche, wer es hat und wer nicht, das Gespür? Ich konzidiere, dass das radikale Verknappen manchmal mit dem Melos kollidiert, aber das ist in Kauf zu nehmen, wenn anders die Stauchungen, Verzerrungen und das "Heimholen ins Reich angeblich deutscher Volksliederseligkeit" (Victor von Strauß und anderer) vermieden wird. Es gibt nichts zu vertuschen, jedenfalls nicht die Spuren, Narben und schlimmstenfalls Wunden der Translation. Mit ungenauem Lesen meine ich dann schon, dass ich über mein Vorgehen im Nachwort Rechenschaft ablege, da steht, wenn man lesen möchte, auf S. 822: "schartenfreier Wohlklang (...) waren kein Ziel...". Dann lesen Sie bitte einmal Nr. 5 "Grillen", S. 19 oder Nr. 9 "Pflück, pflück Wegerich". Unrythmisch? Kein "poetisches Gespür"? Und die Neologismen "einhemden" und "einblusen" scheinen mir bei Jürgen Theobaldy in ein gewisses Zwielicht getaucht (aber vielleicht täusche ich mich), aber das nehme ich mir heraus: Die deutsche Sprache ein ganz klein wenig zu sinisieren (Nomen verbal verwenden) , aus dem Nähkästchen, JürgenTehobaldy: Das macht einfach Spaß!
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