
Corona-Gedichte 4
(corona, lat.: Kranz, Zuhörer)
1
Flut und Ebbe zerreiben
Den Mond
Wie einen Kieselstein
Im Bach der Nacht
Diese seltsame Affenhand
Die den Stundenzeiger
Der Jahreszeiten
Digitalisiert und berechnet
Wie viel Profit bestimmte
Waffen denn brächten
Die für ihre tödliche Siege sich
Kränze aufsetzt und sich
Von einer Corona beklatschen lässt
Die das Hier
Zerstört um es in virtuellen
Paradiesen neu zu erlügen
Die sich im
Spiegel sieht und
Sich Sinn erbettelt
Von ihren gespiegelten Göttern
Oder sei es nur von einer
Noch so bescheuerten
Verschwörungstheorie.
Flut und Ebbe zerreiben
Den Mond
Wie einen Kieselstein
Im Bach der Nacht.
2
„Lug und Trug!“
Schimpft eine Elster
Über uns Dädalus-Menschen.
Doch sie selbst ist eine Meisterin des
Täuschens. Lauernd trägt sie
Nämlich in sich die gefiederte
Erinnerung an einen Raubsaurier,
Der sie einst war.
3
Erinnerung an Marc Aurel
Mein ist die Gegenwart.
Wie wird morgen die Pandemie wüten?
Die Pest kannte ich bisher nur aus Geschichten.
Wer würde sich meiner erinnert haben?
4
Septembermorgen.
Die Bäume sterben
Keineswegs.
Ihre Farben ziehen nur um:
Nach Innen. Schlaf.
Wie mutig, auf den Tod
Zu antworten mit Traum
Und Selbstvergessenheit.

5
Tagundnachtgleiche:
Die Zeit in der Waage. Geheimnisvoll.
Die ersten gelben Blätter:
Gold, das verwelkt. Wunderschön.
Mond und Träume:
Silberne Schalen der Nacht. Tröstend.
6
Ich packe
Die letzten Habseligkeiten
Des Sommers zusammen,
Es wird Herbst.
Die Kränze auf
Den Gräbern welken.
Nun die Angst
Vor der Angst,
Verborgen lauernd in
Möglichkeiten: Winter und
Dass auf einem
Stein eingeritzt auch
Mein Name stünde.

7
Das blinde Monster bleibt.
Wird wohnen unter uns.
Wem mag gehören dieses
Haus? Dem anderen Monster,
Das Mammut, Moa
Und Gletscher fraß?
8
Nö, echt jetzt? Ja,
Am liebsten würde ich eine Flaschenpost
Ins Weltall schleudern: Holt uns hier raus,
Die ihr intelligenter seid! oder Kommt bloß
Nicht hierher! Nein, ich schalte das Radio
Ein, das Internet usw.: die Mordmaschine
Mensch fegt weiter wie eine Seuche
Über seinesgleichen dahin.
9
Manchmal fühle ich
Mich wie ein vergessener
Brief in einem rostenden
Kasten. Einsame, blinde
Nächte. Zwar geschützt vor
Wind, Sturm und Schnee,
Aber niemand liest …
10
Philosophie des Alltags
Seit zwei Wochen das Licht im Bad kaputt.
(Wie kann Licht kaputt sein? Egal …)
Darum Kunstinstallation Marcus Lumen 1
(Mit Taschenlampen und Sich-vor-Tasten.)
Dann endlich ein Elektriker:
Es wurde wieder Licht!
(Gott muss auch so ein
Tüftler gewesen sein …)
Kurz darauf wegen Bauarbeiten
Stromabschaltung.
Nö, echt jetzt?
Gut, es ging ja auch nur um die Lampe
An sich. Oder irgendwie um Dialektik.
Als dann der Morgenhegel, pardon:
-nebel entschwand und es aufklärte,
Kam auch mehr Helle in meine Wohnung.
Als ich aber später wegen der Baustelle
Vor dem Haus auch noch gestürzt bin,
Nein, das lag nicht daran, dass ich mich
Irgendwie mit Kierkegaard
Und Sokrates festgelabert hätte — blöde
Geworfenheit ins Dasein. Buddha sagt,
Komm, hör mir auf … Und um die
Ecke kichern dämonisch Corona
Und ein Trampeltier hinter ihren Masken.
11
Das Haus
Gegenüber
Zerfällt. Dort
Lebte jemand.
Schmerz in
Jenen Räumen,
Irgendwo,
Gezähmt auf einer
Leinwand.
Ab und zu
Betrachtet dich
Dieses Bild wie
Einen Fremden,
Der sein
Schreien mit
Stille stört.
Oh, sieh,
Das Bild
Bewegt sich. Die
Zuschauer, gerührt,
Applaudieren.
12
An Gott mailen.
Nach dem Drücken vieler Zahlen
Auf meinem Telefon
Und nach dem Erleiden automatischer
Ansagen: Wegen Überlastung möge
Ich doch bitte eine Mail schreiben.
Gespräch, das keines war,
Automatisch beendet. Zackbumm.
Tüüüüüüüüt.
Ich warte nur auf die Ansage schlechthin:
Drücken Sie bitte π. Nach wie
Viel Stellen wäre dann
Aufzuhören? Nach Millionen?
Oder: Bitte wählen Sie
i für Gott. Hä? (Aber:
Gott dürfen noch wir
Drücken und knuddeln –
Keine Abstandsregel!
Nicht zu unterschätzen in
Solchen Zeiten imaginäre
Freunde.)

13
Gedanken zu einer Wiese in Dänemark
Ein grünes Meer, wie angehalten die Zeit,
Wogt über die sanften Hügel, fließt und steht.
Im Spätsommer tummeln sich hier summend Bienen.
Sehr zu empfehlen, zum Genießen sehr:
Vanille-Eis mit süßem Honig.
Gigantische Wolken ballen sich zu schwarzen
Gewittern. Wo finden Schmetterlinge Schutz?
Der Geruch verbrannter Herbstfeuer
In der Luft. Dazu Abendnebel: Die Moorfrau
Braut nun Bier, sagen sie hier.
Eine unbekannte weiße Pflanze
Blüht spät noch dort, aber Schönheit
Fragt nicht nach dem Woher.
Morgens Netze aus Tautropfen auf den
Gräsern: glitzernd gefrorene
Stunden, die in einer fahlen Sonne
Zerfließen, deren Aufgehen wie
Sterben und Hoffen zugleich.
(Für die Dauer dieses Gedichtes konnte ich
Den Horror vergessen …)
14
Erkenntnisse, tiefsinnig
Verbrannte Wälder. Holz
Kann brennen! Sinkende
Küsten. Wasser kann
Steigen! Die Erde ist
Rund. Mann kann
Nicht wegrennen!
15
Wir alle nun
Sklaven
(Käufer wie Verkaufte)
Unter dem
Kranz einer Pandemie.
Woher kommt
Der nächste
Pantokrator?
Aus Amazonien?
Aus einem Labor?
Wieder aus China?
Glückwunsch,
Globalisiertes
Anthropozän!
16
Oh, du all-tötendes Raubtier,
Im Fell von
Religion, Politik, Kapital!
Verse und Symphonien?
Mona Lisa weint
Um ihre Kinder.
Markus Pohlmeyer, der in der letzten Ausgabe seinen hundersten Beitrag bei uns vorlegt, bei uns hier.
Sein (bisheriger) Corona-Zyklus: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4. Seine Shut Down Haikus hier.