Die Verweigerung, sich in moralischer Zufriedenheit einzurichten
‒ Alf Mayer hat exklusiv für CrimeMag ein Interview mit Dennis Lehane geführt, der jüngst mit seinem Roman „In der Nacht“ (Live by Night, zur Rezension bei CrimeMag) bei uns auf Lesereise war und nun bei Diogenes ein neues Zuhause gefunden hat.
Lehane gibt Auskunft, warum er Fernsehen ein aufregend gutes Medium findet, warum er nie einen eigenen Roman fürs Kino adaptieren und nie einen 007-Roman schreiben würde, warum Daniel Craig der beste Bond ist, warum Scorsese die US-Adaption der Hongkong-Thriller-Trilogie „Infernal Affairs“ in Boston ansiedelte, was es mit Dorchester auf sich hat ‒ dem Bostoner Arbeiterviertel, in dem er aufwuchs ‒, was seine nächsten Bücher sind, warum „Game of Thrones“ eine so immens wichtige TV-Serie ist und warum man die Travis-McGee-Romane von John D. MacDonald wieder lesen sollte.
Er hat gerade eine kleine Lebensmittelvergiftung auf seiner ersten Deutschlandreise überstanden, als ich ihn während der LitCologne zu einem Interview treffe. Seine Unterschrift hat sich nicht verändert, merke ich, als ich ihn bitte, meine Erstausgabe seines Erstlings „A Drink Before the War“ ein zweites Mal zu signieren. Nach kurzem Zögern schreibt er lächelnd: „Twenty years later, still (actually) a good book – Dennis Lehane“.
Wir haben dann mehr über Filme als über Bücher geredet. Dennis Lehane wird nächstes Jahr 50 und befindet sich wohl an einem gewissen Wendepunkt seiner Karriere. Sein Leben veränderte sich, als Clint Eastwood persönlich bei ihm wegen der Filmrechte für „Mystic River“ anrief (demnächst in neuer Übersetzung bei Diogenes). Ben Affleck verfilmte „Gone Baby Gone“, es folgte Martin Scorsese mit „Shutter Island“. Drei große Filme, ein Oscar und insgesamt zehn weitere Oscar-Nominierungen (1), Lehane wird seit Jahren zu den heißesten Autoren in Hollywood gezählt. Im Herbst kommt sein erster „eigener“ Film in die Kinos, Deutschlandstart: 14. November. Einige Passagen dieses Pinball-Interviews erfordern kleine Anmerkungen, sie sind am Ende zu finden.
Alf Mayer: Gratulation zu Ihrem neuen Verlag. Sie wissen, in welcher Gesellschaft Sie sich jetzt befinden?
Dennis Lehane: Ja, ich weiß. (Lacht) Ich fühle mich ziemlich gesegnet. Hammett, Chandler, F. Scott Fitzgerald, Faulkner, Ambler, Simenon …
AM: Ich würde sagen, Sie sind angekommen.
DL: (Lacht.) Gut zu wissen. Ach (sagt er zu Ruth Geiger, der Pressechefin von Diogenes, als ich den Sammelband „Boston Noir“ aus der Tasche ziehe), das ist das Buch, von dem ich vorhin erzählt habe. Es hat die Geschichte drin, die dann zum Film geworden ist. „Animal Rescue“ hieß sie, jetzt ist „The Drop“ daraus geworden. (2)
AM: Sie haben auch das Drehbuch geschrieben. Ist der Film fertig? Haben Sie ihn schon gesehen?
DL: Ja, einige Male schon. Er musste durch ein paar Tests. Es ist ein seltsamer kleiner Film. Sonderbar. Ich hab’ die erste Version gesehen und dann eine zweite, in der dann alles stimmte. Er ist wunderbar, einfach klasse. Ich fühle mich sehr glücklich damit. Wunderbare Schauspieler: Tom Hardy, Noomi Rapace, James Gandolfini und ein prima Schauspieler namens John Ortiz.
AM: Es war James Gandolfinis letzter Film?
DL: Ja, leider. Traurig genug. „Die Sopranos“ war eine der Fernsehserien, die mich mächtig und auf immer beeindruckt haben. (3)
AM: Ist „The Drop“ ein europäischer oder ein amerikanischer Film?
DL: (Lacht.) Ein amerikanischer, in Amerika gedreht. Aber ja, der Regisseur ist Belgier, der Drehbuchautor Amerikaner, der Hauptdarsteller britisch, der eine Co-Star amerikanisch, Noomi ist schwedisch, der vierte Co-Star ein Belgier.
AM: Aber der Hund ist Amerikaner?
DL: Der Hund ist Amerikaner. Es waren zwei Hunde, beide amerikanisch.
AM: Und: „No dogs were harmed …“?
DL: No dogs were harmed at all. Tom Hardy hat am Ende sogar einen adoptiert. Nicht einen der Filmhunde, aber er besorgte sich einen Pitbull-Welpen.

Naomi Rapace (Iker Arbildi/wikimedia Commons)
AM: Wird der Film auf einem Festival laufen?
DL: Ja, ich weiß aber nicht, wo. Es gibt eine ganze Anzahl von Möglichkeiten, wenn der Film dann zum Ende des Sommers herauskommen soll. Es könnte Telluride/Colorado oder Toronto sein. Oder New York.
AM: Und Ihre anderen Filmprojekte? Was ist mit Travis MacGee? (4)
DL: „Travis“ macht Fortschritte. Ich soll bald ein paar Polituren im Skript machen und es wurde ein Regisseur benannt.
AM: Darf ich fragen, wer?
DL: James Mangold.
AM: Wow, der Mann, der Regisseur von „Cop Land“ und „Walk the Line“. Ist Leonardo DiCaprio noch an Bord?
DL: Nein. Nicht dass ich wüsste. Es gibt keine Möglichkeit, dass er die Hauptrolle übernehmen kann, wie er das eigentlich mal wollte. Da läuft einiges hinter den Kulissen, von dem wir nichts wissen oder von dem ich nichts sagen kann.
AM: Sie haben eine Regel für Hollywood?
DL: Die wäre?
AM: „I don’t …“
DL: „… call them. They call me.“ Ja, genau. Sogar jetzt noch, wo ich doch jetzt dort wohne. Ich denke, das ist ein guter Grundsatz. Ich will mich mit ihnen nur so weit einlassen, wie sie es mit mir tun. Wenn sie dein Buch kaufen, um einen Film daraus zu machen, bedeutet das ein gewisses Maß an Respekt. Ich denke, meine Aufgabe ist es dann, beiseitezutreten und die Talente ihre Arbeit machen zu lassen. Also tue ich das. Wenn sie mich involvieren wollen, um etwas Bestimmtes aus dem Roman zu kondensieren, okay, dann können sie mich holen. Aber sie müssen mich holen. Bis jetzt hat sich das bewährt. Ich war in all die Verfilmungen meiner Romane auf eine gute Art eingebunden, und die Filme sind ja auch prima. Ich habe keinen Grund, mich zu beschweren.
AM: Wie steht es mit dem Projekt mit Ben Affleck?
DL: Er hat ein Skript von „Live by Night“. Er hatte vor, Regie zu führen und wurde abgezogen, um im nächsten „Superman“ den Batman zu spielen. (5) Also liegt das erst einmal auf Eis. Aber soweit ich weiß, soll der Film im Dezember 2015 in die Kinos kommen, also denke ich, bis Jahresende wird es da einiges an Fortschritt geben.

James Gandolfini (Isabelle Vautier, wikimedia commons)
AM: Film ist etwas, das Sie wirklich interessiert, nicht wahr?
DL: Oh ja. Ich liebe Filme. Ich bin damit aufgewachsen. Meine große Liebe der letzten Zeit aber ist das, was wir bei uns in USA „Premium Cable Television“ nennen.
AM: Das wäre meine Frage gewesen: Film oder Fernsehen?
DL: Premium Cable TV ist das perfekte Zuhause für Romane. Weil es den Platz bietet, den das normale Fernsehprogramm nicht bieten kann. Im regulären Fernsehen produzierst du 26 Folgen, das ist der Wahnsinn. Ich könnte das nicht. Sicher gibt es Leute, die das können, aber nicht ich. I’m not that guy. Im Premium Cable TV dagegen kannst du alles machen, von dreizehn bis runter auf acht Folgen, zum Beispiel. Das ist ein wirklich attraktives Umsetzungsfeld für Romane, denn acht Stunden, zehn oder zwölf, das bietet ein wirklich wunderbares Fenster, innerhalb dessen du deine Geschichten erzählen kannst. Ich denke, wir stehen gerade am Beginn einer Renaissance von epischen Ausmaßen im Fernsehen. Für mich fühlt es sich sehr natürlich an, in diesem Format zu arbeiten.
AM: Das heißt, Sie sind ein Cinemascope-Autor geworden?
DL: (Lacht.) Oh, Sie meinen die breite Leinwand? Ja, ist wohl so, wenn Sie das so sagen. Deine Geschichte kann sich im Premium Cable TV einfach Zeit zum Entfalten lassen. Kinofilme sind mehr wie Kurzgeschichten, da kannst du keine Minute verlieren, da muss man sofort mitten rein. Ich hätte keine Idee, wie man einen Roman in einen Film kondensieren kann.
AM: Also würden Sie keinen eigenen Roman fürs Kino adaptieren?
DL: Nein. Niemals. Da bin ich mir sehr sicher. Es wäre, als ob ein Arzt sein eigenes Baby operiert. Ich reiße mir den Hintern auf, um ein Buch auf 350 oder 400 Seiten zu bringen, oder auf 700 wie bei „The Given Day“. Ich sage doch nicht, ich will einen 700-Seitenroman schreiben. Ich frage mich, was ist das Minimalste an Worten, mit dem ich diese Geschichte erzählen kann. Und wenn ich an diesen Punkt gelangt bin, drehe ich mich doch nicht herum und sage, jetzt schnipple ich auch noch den Rest davon weg und kondensiere alles auf 135 Seiten für ein Drehbuch. Das könnte ich nicht. Da wäre ich der Allerletzte, dem ich trauen würde.
AM: Zu „The Drop“ aber haben Sie das Drehbuch geschrieben.
DL: Ja, aber das war eine Kurzgeschichte.
AM: Was macht Ihre Bücher so anziehend für Filmemacher?
DL: Keine Ahnung, wirklich nicht. Keine meiner Geschichten erfindet das Rad neu, wir haben das alles in anderer Form schon gesehen. Was ich merke, ist, dass ich anscheinend Figuren schreibe, die Schauspieler gerne spielen mögen. Drehbücher, die auf meinen Romanen basieren, ziehen große Schauspieler an, was wiederum andere große Darsteller anzieht. In dieser Hinsicht bin ich bisher sehr glücklich gewesen.
AM: Sie wohnen mittlerweile in Hollywood?
DL: Ja, wir haben ein Haus. In West Los Angeles, der The West Side, wie wir sagen. Ich lebe dort mit meiner Familie:
AM: Und Sie schmeißen Partys?
DL: (Lacht.) Nein. Doch. Ja. Nein, wir gehen zu Partys. Und ja, es wird eine Party geben. Für meine kleine Tochter, zu ihrem zweiten Geburtstag. Wir haben zwei Mädchen.
AM: Was ist eigentlich mit Florida? (6)
DL: Florida hat sich erledigt.
AM: Sie sind kein Professor mehr?
DL: Oh nein. Es war mehr wie ein Writer-in-Residence, wie ein Stadtschreiber. Ich hab jeden Januar eine Autorenwerkstatt veranstaltet, aber ich war nicht wirklich Teil des akademischen Lebens. Sie wissen, ich bin dort zur Schule gegangen. Und ich hab meine Frau in Florida kennengelernt. Das ist Florida. Mein Lebensmittelpunkt ist inzwischen Hollywood.
AM: Kommen wir zu Boston. Dahin haben Sie Verbindungen?
DL: Aber ja. Ich habe dort meine Orte, ich erkenne immer noch so vieles wieder. Dorchester, wo ich aufwuchs, ist ein richtiger Brückenkopf für jede neue Immigrantengeneration. Als ich klein war, war das alles Irisch-Polnisch, denn das waren die Immigranten, die sich dort vor dem Zweiten Weltkrieg niedergelassen hatten. Heute leben dort Einwanderer aus Kambodscha und Vietnam, was bedeutet, dass all die Leute, die ich kannte, weggezogen sind. Ich fühle mich dort immer noch wohl, aber ich kenne niemanden mehr. Das ist die amerikanische Erzählung. Was heute Brasilianisch ist, war Schwedisch vor hundert Jahren. Ich denke, das ist der amerikanische Traum. Meine Eltern und ihre Bekannten kamen aus Irland herüber und richteten es sich in ihrer Gemeinschaft ein. Sie taten sich zusammen und sie hielten zusammen („they clanned up“, sagte Lehane, AM). Das ist es, was die Menschen tun. Und wenn ihre Kinder sich assimiliert haben, weil sie zur Schule gehen (können), wird der Zusammenhalt der Community schwächer. Sie zerstieben in alle Winde und die nächste Gruppe lässt sich nieder. Das ist wunderbar. Aber Erfolg killt die Zusammengehörigkeit. Das muss man sehen.
AM: Boston hatte auch ein Mob. War er anders als in New York?
DL: Es war ein seltsamer, merkwürdiger Mob. Die New Yorker Familien kontrollierten und kontrollieren die Ostküste, aber sie konnten nicht überall sein. Okay. Die italienischen Gangster waren alle organisiert und unter der Fuchtel, nicht so die irischen. Die ließen sich nicht so einfach an die Kandare legen, denken Sie an die „Westies“ in New York. Auch Boston hatte da immer seine Renegaten.
AM: Es gibt also einen Grund, dass Scorsese sein „The Departed“ in Boston ansiedelte und nicht in New York?
DL: Das war zum Teil deswegen, weil er die Whitey Bulger Story erzählt. (7) Er sagte das nie so deutlich, aber es ist offensichtlich, was er in seinem Film tut. Die Matt-Damon-Figur zum Beispiel ist klar an den korrupten FBI-Agenten John Connolly angelehnt. Wenn man sich in Boston auskennt, kommt man nicht umhin zu bemerken, dass sogar einige der Mordschauplätze exakt dort sind, wo auch Bulger seine Morde beging. Der Strandabschnitt zu Beginn ist exakt der Strand, an dem ich groß geworden bin. Es ist grad unsere Straße runter. Ich wuchs an der Carson Beach auf, dort wo Bulger einen Gutteil seiner Opfer verscharrt hat.
AM: „Live by Night“, das erinnert mich an einen Film von Nicholas Ray …
DL: … ja, genau, „They Live by Night“. Ich wollte meinem Roman einen wirklich Noir-Titel geben, schließlich handelt er von Personen, die in der Nacht leben. Und dann dachte ich, shit, du kannst „They Live by Night“ nicht verwenden. Aber es ist schon eine Art Verbeugung …
AM: Kennen Sie den Wenders-Film?
DL: Welchen?
AM: Über und mit Nicholas Ray: „Lightning Over Water“. Kurz vor seinem Tod gedreht, eine Art Testament. Ray sieht wie ein griechischer Gott aus in diesem Film. (8)
DL: Oh, den habe ich nie gesehen. Aber ich weiß, dass es ihn gibt. Ich dachte gerade an den „Amerikanischen Freund“ und an Bruno Ganz, wo Nicholas Ray ja einen kurzen Auftritt hat.
AM: In „Prayers for Rain“ (Regenzauber, 2001) lassen Sie zwei Protagonisten über ihre Lieblingsschauspieler reden. Würden das immer noch Denzel Washington und Kevin Spacey sein? (9)
DL: Damals kannte niemand Kevin Spacey und ich wollte das ein wenig pushen. Ich mag Kevin Spacey. Ich weiß nicht, wen ich heute nennen würde. Denzel – immer!
AM: Wie finden Sie Jeremy Renner? (10)
DL: Er gefällt mir. Er ist ein solider Schauspieler. Er war großartig in „The Hurt Locker“ (Tödliches Kommando, von Kathryn Bigelow), diesen Film hab ich im Sommer 2008 dreimal gesehen. Jeremy war erstaunlich in „American Hustle“. Er hat mir in „The Town“ von Ben Affleck sehr gefallen und war sehr gut in diesem vierten „Bourne“-Film.

Jeremy Renner (Eva Rinaldi/wikimedia commons)
AM: Ja, er ist körperlich. Ich denke, er ist besser als Daniel Craig.
DL: Da muss ich Ihnen ernsthaft widersprechen. Da bin ich echt anderer Ansicht. Daniel Craig in „Casino Royale“, das ist der beste Bond aller Zeiten.
AM: Würden Sie je einen Bond-Roman schreiben?
DL: Nein. (Sehr spontan.)
AM: Warum?
DL: Der einzige Bond, an dem ich interessiert bin, ist Daniel Craig, weil das ein tougher 007 ist. Bond ansonsten ist ein imperialistisches Arschloch. Er kann nicht getötet werden, er macht sich darum auch nie Sorgen. Er ist ein Roboter, du fühlst nichts für ihn. Connery war cool, das war klasse. Er hatte eine Präsenz, du wolltest an seiner Stelle sein. Manchmal. Aber nach ihm wurde es nur dumm und unendlich langweilig. Für mich ist da Hopfen und Malz verloren, der Appeal dieser Filme erschließt sich mir nicht. Und dann kommt Daniel Craig daher und spielt ihn, neue Autoren kommen dazu, ein neuer Regisseur. Sie alle sagten, wir müssen diesen Kerl neu erfinden als einen, für den man sich interessieren kann. Also trifft man diesen neuen Bond und er hat eine Art Seele. Das Einzige, was er am Ende über Vesper Lynn dann noch sagen kann, ist „That bitch!“ Q. hält dagegen, „Aber sie hat dies und dies für Sie getan“, aber er aber ist so außer sich, so verloren an diesem Punkt, dass er da nicht rauskommt. Es ist ein wirklich trauriger Film. Unglaublich aufregend, eine erstaunliche Arbeit. Martin Campbell hatte auf solch einem Niveau noch nie Regie geführt. Das ist der Grund für meine Begeisterung. Aber BOND? Das sind Männerphantasien. Es muss Fleming großen Spaß gemacht haben, auf Jamaika zu sitzen, eine Zigarette zu rauchen und ein Glas zu heben, aber die ganze Sache ist einfach nicht mein Stil.
AM: Welche andere Charaktere interessieren Sie denn zurzeit?
DL: Was ich wirklich bewundere, ist dieses ganze „Game of Thrones“. Was ich dort so erstaunlich finde, ist die Verweigerung, sich in moralischer Zufriedenheit einzurichten. Da gibt es kein „Dies ist ein guter Kerl und er wird davonkommen“. In „Game of Thrones“ heißt es, wenn du gut bist, bist du tot. Unglaublich, so etwas zu sehen. Ich finde das eine wahrhaft realistische Sicht der Geschichte unserer Zivilisation.
AM: Und es ist noir. Im besten Sinne noir. Nicht?
DL: Ja, in gewissem Sinne unbedingt. Ja, definitiv. Englische mittelalterliche Geschichte und eine Menge römischer, erzählt in einer Fantasy-Saga. Es ist eine großartige Schilderung dessen, was abgeht auf der Welt.
AM: So etwas wie Shakespeare heute?
DL: Ja, aber nicht mit dem Holzhammer. Es ist eine abwegig trügerische Show. „Game of Thrones“ ist so gut, dass man gar nicht merkt, wie gut es ist.
AM: Können Sie mir von Ihrem nächsten Buch erzählen? Von „World Gone By“, das in den USA im August erscheinen soll?
DL: Es erscheint nicht im August. Das Buch, das da herauskommt, heißt „The Drop“ und ist der Roman vom gleichnamigen Film.
AM: Oho.
DL: Und das Buch stammt von „Animal Rescue“, einer Kurzgeschichte, die aus einem gescheiterten Roman entstand, der „Missing Dolores“ hieß. Das ist die Genealogie.
AM: „World Gone By“ klingt wie ein Filmtitel. Wird es von dem dritten Bruder handeln, der Filmschauspieler wurde und in „In der Nacht“ einmal auch seinen jüngeren Bruder Joe im Gefängnis besucht?
DL: Nein. „World Gone By“ ist das Abschlussbuch der Trilogie, die mit „The Given Day“ (Im Aufruhr jener Tage) begann. Es geht um Joe und seinen Sohn aus „Live by Night“. Ich habe den Roman in den 1940ern angesiedelt.
AM: Was sind Ihre zehn nächsten Projekte?
DL: Keine Ahnung, was in nächster Zeit in Hinblick auf weitere Bücher in die Gänge kommt. Ich bin an einigen Fernsehsachen dran, und innerhalb der nächsten zwölf Monate kommen zwei Romane von mir heraus. Das sollte eigentlich jedem etwas Zeit geben. Ich weiß ehrlich nicht, was das nächste Buch sein wird. Ich habe so viel Zeit mit dieser Trilogie verbracht.
AM: Es ist die „Great Boston Novel“. Sie erzählen das zwanzigste Jahrhundert mit Blick auf eine oder zwei Familien, mit Gangstern und Polizisten, Rassen- und Klassenunruhen.
DL: Nun ja, es geht von 1919 bis 1943. Blutsverwandtschaften sind es, was diese drei Bücher verbindet. Sie haben fast zehn Jahre meines Lebens verschlungen. Daher weiß ich im Moment nicht, was danach kommt.
AM: Wie wird es denn bei Diogenes weiter gehen?
DL: Als Nächstes gibt es eine Neuübersetzung von „Mystic River“, dann kommt „World Gone By“, ich denke Anfang 2015. Und dann? Wir werden sehen.
AM: Ihre alten Romane sollten wiederaufgelegt werden. Diogenes ist berühmt für seine Backlist. Machen Sie Druck.
DL: (Lacht.) Oh ja, Verleger lieben Druck.
AM: Sie sind zum ersten Mal hier? Hatten Sie schon ein Bier hier in Köln?
DL: Ja, es ist meine erste Reise nach Deutschland und in die Schweiz. Ich bin gerade dabei, mich wieder zu rappeln. Gleich am ersten Abend hatte ich eine kleine Lebensmittelvergiftung, Meeresfrüchte wahrscheinlich. Normalerweise würden Sie mich wahrscheinlich nicht aus den Kölner Kneipen heraus bekommen, ich hab’ so tolle Dinge darüber gehört. Ich liebe deutsches Bier über alles. Es ist mein Lieblingslaster. Ich hatte ein paar seit ich hier bin, aber nicht so viele, wie ich es eigentlich gerne hätte.
AM: Ich habe mich über Travis McGee gewundert. Sie haben ihn ja für die Leinwand adoptiert, eigentlich weil Leonardo DiCaprio die Rolle haben wollte. John MacDonald habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Taugt er noch etwas?
DL: Aber ja. Er ist immer noch großartig. Er ist erstaunlich. Einige seiner Bücher sind überholt, klar. Seinen ersten Travis-McGee-Roman hat er 1964 geschrieben. Unglaublich, wie unverwüstlich er ist. Meine Güte, was er alles vorausgesagt hat. Und es ist alles so gekommen. Traurigerweise.
AM: Ja, Trabantenstädte und die Auswüchse der Firmenkultur, da war er kritisch.
DL: Er steht in Gegnerschaft zu all dem, was große Firmen anrichten. Dagegen, wie sie die Natur zerstören und die Everglades vernichten werden. Als er 1964 darüber schrieb, dachte man, wovon redet der bloß. Aber innerhalb der letzten 45 Jahre sind die Everglades um 75 Prozent geschrumpft. Das Wuchern der Einkaufszentren, der Eigentumswohnungen, Apartments und Ferienwohnungen, all das, was Floridas Landschaft kaputt gemacht hat, um nicht zu sagen Amerika, das war sein Thema. Er hasste Kreditkarten, er kämpfte gegen Kredite, dagegen, dass die Banken dein Leben übernehmen. Und es haut einen um, wie das alles Realität geworden ist. Denken Sie nur an unsere Immobilienkrise, mit der sich bizarrerweise die Herrschaft der Banken über das Wirtschaftssystem erst recht gefestigt hat. Es sind wirklich gute Bücher. Sie halten der Gegenwart stand.
AM: Seine Übersetzungen ins Deutsche sind eher mäßig. Er wurde wie ein Groschenromanschreiber behandelt.
DL: Oh, das ist er. Er war ein pulp writer. Die ersten drei Travis-McGee-Romane schrieb er innerhalb eines Jahres. Kennen Sie die Biographie von Hugh Merrill „The Red Hot Typewriter“?
AM: Ja, Merill nennt ihn darin „eine Brücke zwischen Hammett und Chandler und den heutigen Noir-Schriftstellern“. Lee Child, der ja auch ein Befürworter von John MacDonald ist, sagte einmal, auf der ersten und zweiten Seite passiert bei ihm eigentlich nicht viel, aber auf Seite drei magst du nicht mehr aufhören zu lesen.
DL: Genau. Wenn man einmal in einen Travis McGee von John McDonald eingestiegen ist, merkt man, wie wunderbar diese Romane sind. Sie sind einfach schön geschrieben. Und sie haben ihren Ruf als Ikonen aus gutem Grund.
AM: Was ist mit Ihrem Imprint „Dennis Lehane Books“ bei HarperCollins? Seit „The Cutting Season“ von Attica Locke und „Visitation Street“ von Ivy Pochoda (2013) ist nichts mehr erschienen.
DL: Waren das nicht zwei tolle Bücher? Ich habe gerade ein Manuskript auf meinem Schreibtisch liegen … aber, ehrlich gesagt, muss ich zugeben, dass ich zurzeit einfach zu viel um die Ohren habe.
AM: Warum haben Sie nicht fünf Arme?
DL: (Lacht.) Genau. Sehen wir mal, was als Nächstes passiert.
© Alf Mayer
Dennis Lehane: In der Nacht. Roman. Aus dem Englischen von Sky Nonhoff. Diogenes Verlag, Zürich 2013. 592 Seiten. 22,90 Euro. Auch als E-Book. 20,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Anmerkungen:
Der 1965 geborene Lehane wuchs in Dorchester auf, einem Arbeiterstadtteil in South Boston, von dein Eingeborenen liebevoll „Southie“ genannt. Dies in einer turbulenten Zeit voller Aufruhr, Proteste und sozialer Verwerfungen. Schon als Kind hatte er ein Auge für Rassen- und Klassengegensätze: „It was a time of huge upheaval, and Dennis was very absorbent, very observant“, sagt sein Bruder Gerry, ein Schauspieler in New York. „Even as a kid, he took a lot of it in — issues of class and race — and that shows up in his books.” Siehe auch das Lehane-Porträt bei CrimeMag.
- Lehane und die Oscars, von all dem anderen hier nicht aufgeführten Preisregen zu schweigen: Oscar 2004 als bester Hauptdarsteller für Sean Penn in „Mystic River“, ebenso Nominierungen als bester Film, als beste Regie (Clint Eastwood), Tim Robbins als bester Nebendarsteller, marcia Gay hayden als beste Nebendarstellerin, Brian Hegeland für das beste adaptierte Drehbuch. Oscar-Nominierung als beste Nebendarstellerin für Amy Ryan in Ben Afflecks „Gone Bay Gone“ (2007), vier Oscar-Nominierungen für Martin Scorseses „Sutter Island“: Leonardo DiCaprio als bester Hauptdarsteller, Scorsese als bester Regisseur, Mark Ruffalo als bester Nebendarstelle rund Dante Feretti für die beste Ausstattung.
Lehane wurde als Consulting Producer und Writer/Editor für die vierte Staffel von „Boardwalk Empire“ verpflichtet, war besonders bei den Folgen „New York Sour“ und „Resignation“ involviert. Bei „The Wire“ war er einer von 13 Autoren, hat an drei der insgesamt 60 Episoden geschrieben: „Dead Soldiers“ (3.03.), „Refugees“ (4.04), „Clarifications“ (5.08). Über seine Arbeit für „The Wire“ sagt Lehane, dass er bei der Fernseharbeit viel über das Schreiben lernte, zu destillieren nämlich und zu strukturieren. „The novelist’s structure is unwieldy, and you don’t realise how much so until you try an epic. Without The Wire I might have produced a 900 page book“, sagte er über „The Given Day“.- „The Drop“ handelt von einem zwielichtigen Barkeeper in Brooklyn, einen Neffen von James Gandolfini. Über einen Baby Pitbull wird Bob Saginowski (Tom Hardy) in einen Überfall und einen Mord verwickelt – „A crime-drama centered around a lost pit bull, a wannabe scam artist, and a killing“ -, dies in einer Nachbarschaft, in der alle sich durchschlagen müssen und eisern zusammenhalten. Regie führt der 2011 mit „Bullhead“ für einen Auslands-Oscar nominierte belgische Regisseur Michaël R. Roskam. Auch Matthias Schoenaerts, der Hauptdarsteller aus „Bullhead“, zuletzt in „Der Geschmack von Rost und Knochen“ zu sehen, spielt in „The Drop“ mit. Der Kinostart in Deutschland ist für den 13. November 2014 angekündigt. (zum Trailer)
Aber Achtung, es gibt einen wunderbaren Roman des Briten Howard Linskey: „The Drop“, auf Deutsch: „Crime Machine“ (zur Rezension von TW auf CrimeMag) – Linskey ärgert sich schwarz über die Amis, aber Titelschutz gibt es in diesem Fall nicht.- Ein Nachruf auf James Gandolfini findet sich hier.
- Auf Wunsch von Leonardo DiCaprio adaptierte Lehane „The Deep Blue Good-by“ (dt. als: Tausend blaue Tränen/Abschied in Dunkelblau) von John D. MacDonald aus dem Jahr 1964 für das Kino. DiCaprio wollte eigentlich die Hauptrolle spielen. Im angelsächsischen Raum erlebt John D. MacDonald gerade eine kleine Renaissance, nicht zuletzt Kindle und den E-books geschuldet. Lee Child hat jede Menge neuer Vorworte verfasst.
- Superman und Batman sollen 2015 zusammen einen Auftritt im Kino haben. Ben Affleck wurde als Batman verpflichtet (siehe dazu hier).
- Lehane hatte schon zwei Bostoner Colleges verschlissen, ehe er seine Schulbildung am Eckerd College in St. Petersburg, Florida, abschloss und später an der Florida International University deren „creative writing program“ absolvierte. In den letzten Jahren gab er alljährlich Schreibkurse an seiner alten Alma Mater, dem Eckerd College in St. Petersburg. Ein Großteil von „In der Nacht“ spielt in Ybor City nahe Tampa, einem Mini-New-Orleans. St. Petersburg und Tampa, die sich in einer Bucht gegenüber liegen, zogen Lehane eine ganze Zeitlang an: „Tampa was the narcotics capital of America in the ’20s, with a thriving trade in rum and illegal immigrants. But no writers were looking at Tampa—and it’s such a romantic, sexy place. I’d loved Ybor since I went to college there in the eighties.“ Lehane erhielt 2012 den „Florida Book Award“ für seine Darstellung von Florida in „Live by Night“.
- Der 1929 geborene James Joseph „Whitey“ Bulger, jr. Ist eine der großen, wenn auch bei uns (zu) wenig bekannten Gangsterfiguren des 20. Jahrhunderts. Seine längst noch nicht voll aufgearbeitete Geschichte böte Stoff für viele Bücher und wird sicher auch noch deren Subjekt werden. Der von Jack Nicholson in Scorseses „Departed“ impersonisierte brutale Gangsterboss, ist ein Bruder des früheren Senatspräsidenten von Massachusetts, er stand zwei Jahrzehnte auf der „Ten Most Wanted“-Liste des FBI, ehe er am 22. Juni 2011 in Kalifornien verhaftet wurde. Bulger hatte eine ganze Zeit Schutz als FBI-Spitzel genossen, weil er über das Patriarca-Syndikat informierte. Seine Story hat das Zeug mehrerer Justizskandale. Im August 2013 wurde er wegen zahlreicher Delikte, darunter 19 Morden, zu zweimal lebenslänglich plus fünf Jahren verurteilt. Er sitzt in Tuscon, Arizona, ein, jener Stadt, die einst Al capone zum Verhängnis wurde.
- Ein Denkmal aus Zelluloid ist Wim Wenders’ Hommage an den von ihm bewunderten Noir-Regisseur Nicholas Ray aus dem Jahr 1980. Neben vielen schönen Bildern sind mir Rays Diskussionen mit Filmstudenten in Erinnerungen geblieben und das unvollendete Filmprojekt „We can’t go home again…“ in Erinnerung geblieben. (mehr hier)
- „Who’s your favorite actor?“, wird Patrick McKenzie in „Prayers for Rain“ von einem Mann gefragt, der im Rollstuhl sitzt.
„Current or old-time?“
„Current.“
„Denzel“, I said. „You?“
„I have to say Kevin Spacey.“
Und weiter: „Joan Allen.“
„Sigourney. With or without automatic weapon.“
Dann kommen die Alten: „Lancaster. Mitchum. Ava Gardner. Gene Tierney.“
„It’s true what they say about good movies, though.“
„What do they say?“
„The transport you… Good movies, man, they give you another life. A whole other future for a while.“
„For two hours“, I said.
„Yeah.“ He chuckled again.- Siehe das Porträt von Jeremy Renner bei CrimeMag.
- PS: Vierte Staffel gestartet, fünf und sechs in Arbeit: In der Reichweite nur von den „Sopranos“ übertroffen, ist jetzt in der zweiten Aprilwoche 2014 die vierte Staffel von „Game of Thrones“ beim amerikanischen Abosender HBO fulminant gestartet. Die Streaming-Platform „HBO Go“ brach unter dem Ansturm der Nutzer zeitweise zusammen. Der Premium-Kabelkanal kündigte an, bereits eine fünfte und sechste Staffel in Auftrag gegeben zu haben. Die Drehbuchautoren David Benioff und D.B. Weiss arbeiten seit 2011 daran, das sechsbändige Fantasy-Epos von George R.R. Martin fürs Fernsehen umzusetzen. Neun Familien kämpfen in sieben Königreichen kämpfen in „Game of Thrones“ mit allen Mitteln um den Eisernen Thron, während hinter einer gewaltigen Schutzwand im Norden eine große Bedrohung heranwächst. Alle Beziehung hier ist Zweckbündnis auf Zeit, jeder des Nächsten Wolf. Oder wie GoT-Bewunderer Dennis Lehane es im Interview sagt: „If you’re good, you’re dead.“