Geschrieben am 1. Februar 2021 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2021

Hartl on Highsmith (5)

Männer, die (keine) Morde begehen

Über „Der Geschichtenerzähler“ und „Venedig kann sehr kalt sein“

Bei Patricia Highsmith ist jede Figur grundsätzlich zu jeder Tat fähig – mit dieser Prämisse spielen ihre Romane „Der Geschichtenerzähler“ und „Venedig kann sehr kalt sein“, die nacheinander in den Jahren 1965 und 1967 erschienen sind. In beiden werden die Hauptfiguren des Mordes an ihren Ehefrauen verdächtigt – in beiden, so viel kann verraten werden, haben sie diese Tat nicht begangen. Der Schriftsteller Sydney Bartleby gefällt sich in „Der Geschichtenerzähler“ in der Rolle des potentiellen Mörders, dagegen fühlt sich der Galerist Ray Garrett an dem Selbstmord seiner jungen Ehefrau dennoch irgendwie schuldig.

Englisches Landleben – aber ohne Idylle

Sydney Bartleby hat sich zu Beginn des „Geschichtenerzählers“ mit seiner Frau Alicia nach Suffolk zurückgezogen. Das englische Landleben, so hoffen sie, ermöglicht ihnen ein kostengünstiges Leben sowie ausreichend Ruhe und Inspiration für ihre künstlerischen Ambitionen. Alicia ist Malerin. Sydney ist Schriftsteller. E arbeitet gerade mit seinem Bekannten Alex an dem Drehbuch zu einer Fernsehserie, die sie hoffentlich reich machen wird. Aber jede Kleinigkeit stört ihn bei seiner Arbeit und in der Regel macht er Alicia als Quelle dieser Störung aus. Er glaubt, sie nehme seine Arbeit nicht ernst, außerdem gibt es zwischen der englischen Alicia und dem US-amerikanischen Sydney auch kulturelle Unterschiede. Dazu sind sie abhängig von dem Geld, dass Alicias Eltern ihnen zur Verfügung stellen – und das trägt nicht zu seinem Selbstbewusstsein bei. Also stellt er sich regelmäßig vor, er würde sie ermorden. Sie sind unglücklich miteinander, das ist offenkundig, aber anders als die Van Allens in „Tiefe Wasser“ beschließen sie, sich für eine Zeit zu trennen.

„Manchmal würdest du mich wirklich gern umbringen, hab ich recht, Syd?«
Er starrte sie nur stumm an, als habe es ihm die Sprache verschlagen.
Sie merkte ihm an, daß sie ins Schwarze getroffen hatte, daß dies die Wahrheit war oder doch fast. »Manchmal würdest du mich gern aus dem Weg schaffen. Womöglich nicht nur manchmal. Als wäre ich eine Figur in einer deiner Geschichten, die du einfach wieder streichen kannst.«
Er betrachtete die halb geschälte Kartoffel in ihrer linken, das Schälmesser in der rechten Hand. »Ach, hör schon auf mit diesem Theater.«
»Also, warum tun wir nicht eine Weile so als ob? Ich kann für mehrere Wochen wegfahren. Arbeite so hart, wie du willst …« Ihre Stimme zitterte ein bißchen, das ärgerte sie. »Und dann werden wir sehen, was passiert. In Ordnung?«
Sydney preßte die Lippen zusammen und sagte dann: »In Ordnung.“

Alicia tut also, was sie verabredet haben, und verschwindet für eine Weile. Ihr Verschwinden bleibt nicht unbemerkt: Ihre Nachbarin Mrs. Lilybanks, ihre Freunde, ihre Eltern vermissen sie. Sie wissen zudem, dass es Probleme in der Ehe gab. Deshalb beginnen sie, Sydney zu verdächtigen, seine Frau ermordet und ihr Verschwinden nur vorgetäuscht zu haben. Sydney gefällt sich in dieser Rolle, er glaubt, sie sei gut für seine schriftstellerischen Ambitionen und liefere ihm Einblicke in das Wesen und Verhaltens eines Täters. Schließlich wird die Polizei eingeschaltet, aber das ist für Sydney kein Grund, sein Verhalten zu ändern. Er verwickelt sich zunehmend in dem Spiel, an dem er Freude hat: er redet sich ein, er habe Alicia ermordet, beruhigt sich gleichsam mit dem Wissen, dass er es nicht getan hat, und spielt gegenüber der Polizei den unschuldigen, verdächtigen Ehemann.

Das US-Hörbuch-Cover greift den Verdacht gegen Sydney auf.

Unvernunft und Struktur

Sydney macht einige täppische Fehler, die die Glaubwürdigkeit des Plots strapazieren – es ist beispielsweise mit der ersten Erwähnung seines Notizbuchs klar, dass er es früher oder später verlieren und es ihn belasten wird. Auch Alicia verhält sich seltsam. Sie erfährt von dem Verdacht gegen Sydney, ahnt, dass ihm diese Rolle gefallen wird. Aber sogar nachdem sie durch ein Foto in ihren Zeitungen erfährt, dass sie vermisst wird, will sie in ihrem neuen Leben bleiben. Sie hat eine Affäre mit einem anderen Mann, der besser zu ihr passt (glaubt sie zumindest), sie scheut den Skandal. Also tut sie nichts. Und Sydney, der herausfindet, wo sie sich aufhält, tut ebenfalls nichts. Vielmehr sorgt er noch dafür, dass Alicia nicht entdeckt wird. Das ist ebenfalls typisch für Highsmith: Sobald sich die Verwicklung in Gang gesetzt hat, entwickelt sie eine eigene Dynamik, die destruktiv ist und oftmals nicht mit der Vernunft in Einklang zu bringen ist.

Weiterentwicklung im Domestic Thriller

Ein Aspekt wurde bislang beim „Geschichtenerzähler“ – wie bei Highsmith insgesamt – wenig beachtet: Wie schon bei „Tiefe Wasser“ und „Schrei der Eule“ ist auch „Der Geschichtenerzähler“ ein Vorläufer für den Domestic Thriller. Allein die Grundzüge des Plots – eine Frau verschwindet, ihr sich sehr ungeschickt verhaltener Mann gerät unter Mordverdacht, Frau nimmt das in Kauf – findet man bspw. in Gillian Flynns „Gone Girl“. Da es hier aber Kapitel gibt, in denen man erfährt, was Alicia tut und dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hat, wird die Spannung untergraben. Damit steht nie zur Frage, ob Sydney Alicia wirklich ermordet hat – es ist klar, dass er unschuldig ist.

Zwei Männer in Venedig

„Venedig kann sehr kalt sein“ wird oft als einer der unterschätztesten Romane Highsmiths angeführt, dagegen würde ich sagen, er macht vor allem noch einmal deutlich, dass Highsmith bestimmte Schemata variiert: Erzählt wird von Ray Garrett, dessen Ehefrau Peggy Selbstmord begangen hat. Aber ihr Vater Ed Coleman ist überzeugt, dass Ray der Mörder seiner Tochter ist – und deshalb verfolgt er Ray und versucht ihn in Rom zu töten. Der Versuch schlägt fehl. Ray beschließt nun, sich der Rache nicht zu entziehen, sondern sie zu konfrontieren. Also reist er nach Venedig, wo sich Ed mit seiner Freundin Inez aufhält. Ray fühlt sich schuldig an Peggys Tod, diese Konfrontation ist sein Weg, mit dieser Schuld umzugehen – wenngleich auch hier sein Verhalten „unvernünftig“ erscheint. Ed begeht in Venedig einen weiteren Mordversuch, Ray fällt in die Lagune und täuscht sein Ableben vor, um seinerseits Ed zu verfolgen.

Zwei Männer, aneinander gebunden durch Schuld, Hass und Liebe, ist ein klassisches Highsmith-Motiv. Dieses Mal verstricken sie sich in ihr tödliches Spiel vor der perfekten Kulisse: das Venedig in diesem Roman fühlt sich kalt und neblig an, es durchzieht eine unheimliche Atmosphäre. Typischerweise für Highsmith ist die Polizei keine Hilfe, ein später von Rays Eltern hinzugezogener Privatdetektiv macht aber gar keinen so inkompetenten Eindruck.

Ein Kriminalroman ohne Mord, es gibt keine richtige Aufklärung, wenig Handlung, vielmehr dreht sich alles um zwei Männer, die einander verfolgen. Das, so führt Slavoj Zizek in der London Review of Books aus, sei der Grund, dass „Highsmith, more than any of her rivals, was responsible for elevating crime fiction to the level of art“. Aus dieser Aussage lässt sich viel mehr auf die Auffassung von Kunst und Kriminalliteratur des Autors ableiten als über Highsmith‘ Werk – es ist eine Auffassung, die sich insbesondere in der Highsmith-Rezeption immer wieder findet. (Das haben auch die Beiträge zu ihrem 100. Geburtstag gezeigt. Zwar wird ihr Antisemitismus, ihre Misygonie mittlerweile durchaus benannt, betont wird aber der „literarische“ Wert ihres Werks, insbesondere durch die wiederkehrenden Verweise auf Poe, Kafka, Dostojewski sowie die Anmerkung, dass Peter Handke sie schätzte.)

Mordlose Spannung

Dass es keinen Mord, aber dennoch Spannung gibt, funktioniert in „Venedig kann sehr kalt sein“ besser als in „Der Geschichtenerzähler“ – vielleicht liegt es daran, dass es in ersterem das Spiel mit Identitäten stärker ausgeprägt ist und es auch weniger Figuren gibt. Sydney und Alicia haben eine Nachbarin, sie haben Freunde, sie sind bekannt in dem Ort, in dem sie leben, in bestimmten Ecken in London. Sie sind eingebettet in einen sozialen Kontext, es gibt aber keine wirklich Gegenfigur zu Sydney. Dagegen sind in „Venedig kann sehr kalt sein“ die Männer in einer fremden Stadt in einem fremden Land. Ed hat zwar seine Geliebte dabei, auch treffen sie sich mit einem anderen amerikanischen Ehepaar, grundsätzlich aber sind sie weniger eingebunden in ein alltägliches Leben. Vielmehr werden dadurch die kulturellen Gegensätze noch stärker akzentuiert: die amerikanischen Touristen stehen den Einheimischen gegenüber, deren Leben(sweise) Ray Schutz bietet, während sie Ed weiter ins Verderben führt. Vielleicht trägt zu dieser Gefahr nicht nur Eds Arroganz bei, sondern dass er ein Mann ist, der tatsächlich bereit ist, einen Mord zu begehen.

Patricia Highsmith: Der Geschichtenerzähler. Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis. Diogenes, Zürich 2008. 384 Seiten. 13 Euro.
Patricia Highsmith: Venedig kann sehr kalt sein. Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis. Diogenes, Zürich 2006. 368 Seiten. 13 Euro.

Hier geht es zu Teil 1, Teil 2, Teil 3 und Teil 4 der Highsmith-Reihe von Sonja Hartl.

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