Den Vater verlieren – und mehr als ihn
Ein Textauszug aus dem Thriller „Niemals“ von Andreas Pflüger
Ein Blitz zerschneidet die Welt wie Papier. Dann noch einer. Innerhalb einer Nanosekunde ist die Welt weg. Bei Tempo zweihundertfünfzig verliert die Polizistin Jenny Aaron auf Seite 19 von „Endgültig“ ihr Augenlicht. Eine blinde Heldin in einem Actionthriller? Es ist die Kunst von Andreas Pflüger, uns mit der wehrhaften Jenny Aaron in bisher zwei Büchern – „Endgültig“ und „Niemals“ – den Puls auf ungeahnte Höhen zu beschleunigen. Ein Umgang mit Verlust , wie er aufregender kaum sein könnte. Aber das Augenlicht ist nicht das Einzige, das Jenny Aaron geraubt wird. Hier ein Textauszug aus „Niemals“. Es geht um ihren vom Organisierten Verbrechen ermordeten Vater.
Was könnte Aaron benennen von all dem, was ihr Vater ihr geschenkt hat? Was wäre es wert? Die eine Nacht, als Spinnfäden im Mondlicht glitzerten und er ihr die Sterne erklärte und mit dem Polarstern begann, weil der im Dunkeln den Weg weist?
So kostbar das ist, rechtfertigt es Rache?
Als sie vier war, brachte er ihr das Zaubern bei. Über die simplen Sachen, wie eine Münze verschwinden lassen, Karten raten, eine Schnur zum Schein durchtrennen, waren sie rasch hinaus. Jenny lernte »Die unsichtbare Hand«, »Die geheime Kammer«, »Das Pferd ohne Schwanz«.
So kostbar das ist, rechtfertigt es Rache?
In seinen Geschichten gab es stets einen Logikbruch, den sie finden musste. Dass eine Träne nicht in eine Nase laufen, eine Hummel nicht schwimmen, ein Stein nicht auf der Stelle schweben kann. Und jede hatte eine Moral. Manch eine war tröstlich. Dass es nicht schlimm ist zu weinen, die Physik keine Wunder erklärt, man das Unmögliche wagen muss. Anderes war bitter und grausam und dennoch wahr. Die wichtigste Lektion lautete, nur jemandem zu vertrauen, in dessen Obhut man das eigene Leben geben würde.
So kostbar das ist, rechtfertigt es Rache?
Aaron erinnert sich, dass sie Wimmelbilderbücher anschauten und ihr Vater ihr eine Minute Zeit gab, sich die Details einzuprägen, ehe er das Buch zuklappte und sie alles aufzählen ließ. Wenn sie nicht mehr als drei Fehler gemacht hatte, durfte sie sich eine Belohnung aussuchen. Am allerliebsten mochte sie die Kissenschlacht.
Einmal waren es Bilder von einem Kaufhaus. Sie sollte sagen, wie sie am geschicktesten dort einbrechen würde. All ihre Pläne waren zum Scheitern verurteilt, denn stets hatte sie etwas übersehen. Den Wachmann mit dem gezwirbelten Schnauzbart, den großen, satten Hund, das Zwinkerauge der Kamera, das Schloss mit sieben Siegeln. Am Ende gelang es ihr doch, und ihr Vater hatte keinen Einwand mehr. Er fragte sie, was sie stehlen würde, und sie sagte: »Ein Prinzessinnenkleid.« Da warf er sie hoch in die Luft und fing sie auf, und sie war wieder fünf.
So kostbar das ist, rechtfertigt es Rache?
An einem Sommersonntag saßen sie am Baggersee und ließen die Gedanken purzeln. Schnaken woben ein schwarzes Spitzentuch überm Wasser, die Luft war wie Brausepulver.
Ihr Vater nahm eine kleine Phiole aus der Tasche und träufelte eine Flüssigkeit auf ihre Schulter. »Guck mal, was gleich passiert.« Bald schwirrte ein Schwarm von Libellen herbei, und jede versuchte, einen Platz am Nektar zu ergattern. Jenny war inmitten des flirrenden Regenbogens so gebannt, dass sie den Atem anhielt. Heute weiß sie, dass mit diesem Pheromon Stellungen von Snipern beschossen und markiert werden, um die gegnerischen Schützen beim Anvisieren eines Ziels zu irritieren.
An dem Tag am Baggersee war das ganz weit weg, es gab nur die Magie eines perfekten Moments.
So kostbar das ist, rechtfertigt es Rache?
Im nächsten Sommer waren sie auf einem alten Industriegelände am Rhein. Ihr Vater ging mit ihr in eine leere Fabrikhalle, in der keine Maschinen waren, keine Steine, kein Loch im Boden, nichts, wo man sich hätte verstecken können. Sie sollte die Augen schließen, bis zehn zählen und ihn suchen. Nach zwanzig Minuten gab sie auf und rief nach ihm, voller Angst, dass er sie alleingelassen hatte.
Das war ihr erstes Adrenalin, und sie war sechs.
Ihr Vater löste sich aus dem Schatten eines rußgeschwärzten Fensters und klopfte den Kalk ab, mit dem er sich eingepudert hatte. »Vorhin hast du direkt vor mir gestanden. Du hast mich nicht gesehen, weil du nur deinen Augen vertraust. Mach sie zu. Merkst du etwas?« Sie rätselte, was es war, bis sie die Körperwärme ihres Vaters wahrnahm. »Und jetzt?« fragte er. Sie hörte kein Geräusch, aber spürte eine Veränderung der Luft; ihr Vater hatte sich bewegt. Er sagte: »Manchmal muss man seine Augen schließen, wenn man sehen will.«
So kostbar das ist, rechtfertigt es Rache?
Er zeigte ihr, wie man ein Fahrrad flickt. Fahren musste sie allein lernen. Wie man sich in einem Wald orientiert. Herausfinden musste sie allein. Wie man sich an ein Kitz anpirscht, ohne gewittert zu werden. Vor einem Hirsch wegzurennen, lernte sie allein. Diese Dinge machte sie sich zu eigen, ehe sie sieben war.
So kostbar das ist, rechtfertigt es Rache?
Mit zwölf, im Steinbruch, brach eine neue Zeit an. Jetztwaren es keine Spiele mehr. »Nicht die Pistole tötet«, sagte ihr Vater, bevor er ihr seine Beretta gab.
Aaron weiß, wie stolz sie war, als sie zum ersten Mal eine Zehnerserie in den inneren Ring der Scheibe gesetzt hatte. Der letzte Treffer war nicht im absoluten Zentrum, kratzte den Kreis.
Na und?
Ihr Vater schaute sie ernst an und meinte: »Dem Zehnten hast du nur das Ohrläppchen weggeschossen, und jetzt bist du tot.«
Die Kunststücke der Folgejahre hatten andere Namen als die Zaubertricks von damals. Sie hießen »Die Spinne mit fünf Beinen«, »Der kalte Kuss« oder »Der brennende Mann«. Sie lernte, Körperkraft durch Hebelwirkung zu ersetzen, mit Rechts so gut zu werden wie mit Links, sich lautlos zu bewegen wie ein Grashalm im Wind, unter mehreren Gegnern mit einem Blick den Stärksten zu erkennen. Dies und dies und dies rettete später ihr Leben und das anderer.
So kostbar das ist, rechtfertigt es Rache?
Kein einziges Mal sprachen ihr Vater und sie darüber, dass sie Polizistin werden würde. Das wäre gewesen, als würde man bei einem Blitz sagen, es kommt ein Gewitter.
Zuhause sah sie den Blick ihrer Mutter. Dann kuschelte Jenny sich an sie und schmuste mit ihr, damit sie nicht mehr traurig war. Doch in Gedanken war sie noch immer im Steinbruch.
Nur Pavlik, Sandra und Lissek wissen das alles. Keiner von ihnen hat ihr je gesagt, was er davon hält. Sie kann es sich denken. Dass sie keine Kindheit und Jugend hatte, nie unbeschwert war, nichts von dem Glück weiß, keine Erwartung erfüllen zu müssen. Das stimmt nicht. Sie könnte so vieles aufzählen, was nichts mit Waffen und Training zu tun hatte.
Aaron erinnert sich an ihren Kummer mit fünfzehn. Sie war einen Kopf größer als ihre Klassenkameradinnen, eine staksige Bohnenstange mit Brüsten wie Mäusefäustchen. Stunden heulte sie die Kissen voll, und es half wenig, dass ihre Mutter sagte, das würde sich verwachsen.
Aber als ihr Vater sie in den Arm nahm und brummte: »Jeder Schmetterling war mal eine Raupe«, war es gut.
Die ersten Jungs, die vor ihrer Tür standen, hatten Angst vor ihm. Er musterte sie schweigend von oben bis unten, und nur einen ließ er ins Haus. Das war Tim, und er war der Richtige.
So kostbar das ist, rechtfertigt es Rache?
Ihr Vater war nicht perfekt, das weiß sie. Aaron ist nicht mehr das kleine Mädchen, das ihn vor achtundzwanzig Jahren im La Mamounia anhimmelte. Als Ehemann hat er versagt, für seine wenigen Freunde hatte er kaum Zeit, und auch für Aaron war er nicht immer da, wenn sie ihn gebraucht hätte. Er ließ ihr nicht die Wahl, etwas anderes aus ihrem Leben zu machen. Vielleicht wäre sie Germanistin geworden, Psychiaterin, Galeristin. Hätte keine Narben, wäre nicht blind, nicht einsam. Darüber nachzudenken ist so sinnlos, wie ihren Namen ins Wasser zu schreiben. Sie ist die, die sie ist.
Sie ist es ihres Vaters wegen. Und sie schuldet ihm mehr, als sie je hätte zurückzahlen können.
Andreas Pflüger: Autor, Theaterautor, Publizist, geboren 1957 in Thüringen; mehr über Pflüger findet sich auf seiner Website.
Textauszug mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag aus: Andreas Pflüger: Niemals. Thriller. © Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
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