Geschrieben am 4. November 2018 von für Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special UNO

Robert Macfarlane: „Die verlorenen Wörter“

macfarlane dt cover-9783957576224Der Name der Rose und all der andern

Nicht nur als eines der schönsten Weihnachtsgeschenke 2018 geeignet: Alf Mayer über „Die verlorenen Wörter“ von Robert Macfarlane & Jackie Morris in der von Judith Schalansky herausgegebenen Reihe Naturkunden.

Nomina si pereunt, perit et cognitio rerum, heißt es bei Carl Linnaeus: „Mit den Namen vergeht auch die Kenntnis der Dinge.” Ulrich Baron, hier in diesem Special mit einem schönen Text vertreten, hat mich darauf hingewiesen.

„Breitband“, dieses Wort nahm 2007 das „Oxford Junior Dictionary“ neu in seine Seiten auf, gleichzeitig wurden mehrere Worte des Naturlebens gestrichen. Die Richtlinien des Wörterbuchs, so verteidigte sich der Verlag, wollten es eben, dass das Lexikon „die gegenwärtige Worthäufigkeit in der Sprache der Kinder“ wiedergebe. Das rief Opposition hervor, die beständig wuchs und 2015 in einem „Offenen Brief“ an den Verlag kulminierte. Koordiniert vom Naturkundler Laurence Rose unterschrieben viele Künstler und Autoren, darunter Margaret Atwood, Sara Maitland und Michael Morpurgo, die Illustratorin Jackie Morris und der Dichter Robert Macfarlane. (Seine „Karte der Wildnis“ und „Alte Wege“ sind wunderbar ausgestattet in der von Judith Schalansky herausgebenen Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz erschienen. 2019 erwartet uns „Underland“, eine Reise in die Höhlen der Welt.)

„Es gibt einen schockierenden Zusammenhang zwischen dem Niedergang der Kinderspiele im Freien und der Natur und dem Wohlbefinden der Kinder“, hieß es in dem – immerhin vieldiskutierten – Brief. Viele der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner schworen, das Thema nicht ruhen zu lassen. Jackie Morris fasste sich ein Herz und schrieb Robert Macfarlane eine Mail, schlug eine Zusammenarbeit vor. Der saß von sich aus schon an einem Projekt, schlug glücklich ein.

So entstand ein wunderschön illustriertes Kinderbuch der bis ins hohe Alter verzaubernden Art. Zusatzfarbe Gold beim Druck inklusive. Buchstaben, die sich teils hinter Bäumen verstecken. Ein „Buch der Beschwörungen“, wie der Untertitel lautet. In einem kleinen Video der BBC sitzt Robert Macfarlane im Wald an einem kleinen Bach und sinniert (siehe unten): „Mit den Worten verlieren wir die Natur. Lerche, Stare, Igel, Molche, Wiesel … Eine Esche nicht identifizieren können, eine Schleiereule… Eine fundamentale Lesefähigkeit der Welt ist am Verschwinden. Namen, gute Namen, oft benutzt, helfen uns zu sehen. Und sie helfen uns, zu schützen. Es fällt uns schwer, etwas zu lieben, dem wir keinen Namen geben können. Was wir nicht lieben, das erhalten wir uns nicht.“

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Doppelseite über den Otter, Zeichnung: Jackie Morris; zitiert aus ihrem Blog (www.jackiemorris.co.uk)

Also beschwört das Buch in spielerisch feinen Illustrationen und wohlgesetzten, gleichwohl alltagstauglichen Worten Blauglöckchen, Brombeere, Efeu („ein wahrer Luftpirat“), Eichel, Eisvogel, Elster, Farn, Heide, Kastanie, Lerche, Löwenzahn, Molch, Natter, Otter, Rabe, Reiher, Star, Weide, Wiesel und Zaunkönig.

Übersetzerin Daniela Seel (Verlegerin des unabhängigen Verlags kookbooks und selbst Lyrikerin, zuletzt: „was weißt du schon von prärie“) hatte eine sehr anspruchsvolle Aufgabe – und hat sie bravourös gelöst. Ihre Übertragungen sind feingliedrig und kostbar, auf absoluter Augenhöhe mit dem Original.

Die Wortanfänge geben noch einmal eigenen Sinn

Als besondere Feinheit galt es dabei, für die Bauweise der Verse als Akrostichon deutsche Entsprechungen zu finden. Die Wortanfänge des je ersten Wortes einer Zeile ergeben dabei hintereinander gelesen einen Sinn, hier noch einmal den Namen des im Bannspruch beschworenen Tieres oder der Pflanze. Diese Buchstaben sind im Buch je goldfarbig abgesetzt, ein diskret magisches Element.
Vielleicht der schwierigste Name beim Übersetzen war der des Zaunkönigs, im Original kommt er als „wren“ mit vier Zeilen aus, in der Übertragung aber braucht er deren neun. Daniela Seel hat das meisterhaft gelöst.

Die Bannsprüche sind dafür gedacht, laut gelesen beziehungsweise vorgelesen zu werden. Den Geist ihres Subjekts tragen sie je in ihrer Struktur. Etwa im 

verlust macfarlane UK DED1SNIWsAAQSqEElsternmanifest:
Läster jedes Nest!
Schwätze, kecker, zank und mecker jederzeit!
Trag in jeden leeren Winkel Streit!
Eklig sei! Greif ein, quatsch rein, stör dabei!
Ruf jeder Elster für jede Elster gegen
jedes andere Viech, das auf Erden
läuft, fliegt, schwimmt und kriecht!

Oder beim Efeu:

Efeu bin ich, wahrer Luftpirat.
Fasse Stein und Borke,
Erklimme First und Krone.
Unkt ihr: Bodendecker, ruf ich: Himmelsdraht.

Das Buch hebt an:

Es waren einmal Wörter, die sich herausschlichen aus der Sprache der Kinder. Sie verschwanden so leise, dass es kaum jemandem auffiel – ein Verdunsten wie von Wasser auf Stein. Es waren Wörter, mit denen Kinder die Natur um sich herum benannt hatten: Blauglöckchen, Brombeere, Eichel, Eisvogel, Farn, Heide – dahin! Kastanie, Natter, Otter, Rabe, Weide, Zaunkönig … alle dahin!

Die Wörter gingen verloren: Flatterten nicht mehr durch Kinderstimmen, fielen aus ihren Geschichten.

In deinen Händen hältst du ein Buch der Beschwörungszauber für diese verlorenen Wörter. Willst du es lesen, musst du suchen, finden und sprechen. Es handelt von Dingen, die fehlen, und Dingen,
die verborgen liegen, vom Ausbleiben und Erscheinen. Es folgt dem Gold – dem Gold der Goldfinken, die zauberflink über die Seiten stieben – und birgt keine Gedichte, sondern vielmehr Sprüche, die vielleicht durch die alte, machtvolle Magie des laut Aussprechens Träume und Lieder entspinnen und verlorene Wörter zurück in den Mund und vor das innere Auge rufen.

Das Format: 22,9 x 33,4 cm. Die englische Originalausgabe, 2017 bei Hamish Hamilton in der Penguin Random House Group, misst sogar noch mehr: 27,6 x 37,5 cm. Jedoch auch jenseits davon ist dies ein wahrhaft großes, ein wunderbares Buch.

 

Alf Mayer, Journalist & Literaturkritiker, Kurator dieses Verlust-Specials, Autor des Ed McBain-Readers „Cops in the City“ (zusammen mit Frank Göhre, von beiden bald auch „King of Cool. Das Elmore Leonard Lesebuch“) und Redakteur von CrimeMag, verfügt über zahlreiche Verlusterfahrungen, hat unter anderem mit Alexander Kluge gearbeitet, kommt vom Bauernhof und lebt in Bad Soden am Taunus. Seine CulturMag-Texte hier.


Textauszüge
mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Robert Macfarlane, Jackie Morris: Die verlorenen Wörter. Ein Buch der Beschwörungen (The Lost Words. A Book of Spells, 2017). Aus dem Englischen von Daniela Seel. Mit 100 Zeichnungen von Jackie Morris. Reihe Naturkunden, herausgegeben von Judith Schalansky, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. Gebunden, Großformat, 134 Seiten, 38 Euro. Verlagsinformationen.

Blog von Jackie Morris.
Robert Macfarlane bei Twitter.

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