Memoreiser
Nico Bleutge hat ein Metier für sich entdeckt – die Lyrikkritik – und ist dafür auch ausgezeichnet worden. Heute bespricht er in der NZZ den Band „Tumor linguae“ von Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki:
„Selten ist ein Leser schneller aus dem Spiel gekegelt worden als hier; gleich zu Beginn warnt Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki ihn ausdrücklich: «lies mein buch nicht / wenn du dich vergessen willst / gib dich lieber lastern hin / statt dem geruch muffelnder gedichte». Und mit ein paar geschickt gesetzten ironischen Volten lässt er den Leser ahnen, was ihm bei der Lektüre droht: ein «netz» von Zweifeln, das der Dichter wie eine Spinne um ihn webt: «wenn du mit mir ringst / wirst du unterliegen wenn du mit mir / ringst wirst du ein noch grösserer idiot / als der autor dieses buchs».
Das Wort «idiot» indes ist keineswegs nur negativ gefasst. Vielmehr meint es auch eine bestimmte Rolle, die demjenigen von der Gemeinschaft zugewiesen wird, der anders sieht, der sich nicht den Normen fügen will. Der scheinbar Geisteswirre hat den eigentlich klaren Blick, zugleich ist er für die Erinnerung zuständig, ist einer jener «Memorizer», wie sie der Dichter Thomas Kling einmal benannt hat: «Sie sind die Gedächtnisverantwortlichen unter den Clanmitgliedern. Kapazitäten der Sprachwirklichkeit.»
Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki: Tumor linguae. Gedichte. Polnisch/Deutsch, übersetzt von Michael Zgodzay und Uljana Wolf. Mit einem Nachwort von Michael Zgodzay. Edition Korrespondenzen, Wien 2015.
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