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Magazin für Verrisse aller Art     Archiv

Herausgegeben von Dieter Conen & Hadi Eberhard

   




AUSGABE 3    August 1999

SZ-Literaturbeilage: Verriss III (Genazino, Basse, Auffermann)


Wilhelm Genazino über Jürgen Becker


Wir kommen zur Lyrik. Gedichte sind das gefundene Fressen für einen redseligen Rezensenten. Zu ausuferndem Schwadronieren eignen sie sich besser als jede andere Literaturgattung, weil sie bei weitem die größten Deutungsspielräume lassen. Nun ist es indessen keineswegs so, daß Herr Genazino schwadronierte. Im Gegenteil. Er sucht so knapp, präzis und gehaltvoll wie möglich seinem Untersuchungsobjekt beizukommen, jedenfalls über weiteste Strecken. Und genau das ist der Fehler seiner Abhandlung. Die konzis angelegte Analyse vermittelt uns unbedarften Lesern den Eindruck, daß das, was Gedichte sagen wollen, mit dem Rechenschieber des kalten Verstandes nachzuhalten sei. Und da Herr Genazino daran wohl selbst nicht recht glauben mag, gestattet er sich hier und da dann doch ein paar ausufernde Sentenzen, die zum Unglaublichsten gehören, was wir in Rezensionen uns je haben bieten lassen müssen. Nur zwei Beispiele:

1. "Ihn [Becker; d. V.] interessiert etwas ganz anderes; nämlich die Verwunderung darüber, daß wir in verschiedenen Zeit-Intervallen leben, die an bestimmten Schnittpunkten zwar zu einer Zeitsumme zusammenfallen, in der inneren Erfahrung aber doch voneinander getrennt bleiben. Die Zeit vereinheitlicht uns und dissoziiert uns gleichzeitig."
2. "Das Beispiel macht deutlich, worauf es Becker ankommt, nämlich auf die Überblendung von Zeit und Geschichte, auf die Parallelität von innerer, biologischer Zeit und äußerlicher, fremder Zeitempfindung. ... [Hier fragt] die Vehemenz der Zeit, die ihre Wucht und ihre Bodenlosigkeit erst in der nachträglichen Reflexion preisgibt."

Alles klar auf der Andrea Doria? Man möchte eigentlich nur noch 'Scheiße!' brüllen. Wenn's nicht so traurig wär', wär's ja fast lustig, was der Herr Genazino da geruht, zum besten zu geben. Aber im Ernst: Selbst wenn diese Sätze einen nachvollziehbaren Sinn besäßen, also nicht bloß als gelehrt klingende Unsinnsphrasen à la Hoven (nur in höherer Potenz) abgetan werden müßten, wenn sie also sozusagen Hand und Fuß hätten, hätten, hätten..., dann wären sie immer noch Anmaßung und Lächerlichkeit zugleich; anmaßend weil sie Bedeutung oktroyieren, lächerlich, weil sie mit apodiktischem Gestus e i n e Lesart herauseinzeln aus dem grenzenlosen Bedeutungskontinuum von Gedichten und zur alleingültigen erklärten.
Wer vor solchen rhetorischen Furchtbarkeiten nicht zurückschreckt, was muß der für Romane schreiben. Tut Herr Genazino doch. Oder bin ich falsch informiert?

Michael Basse über Joachim Sartorius

Wir bleiben bei der Poesie, genauer gesagt, bei der Poetik. Michael Basses Beitrag ist insofern brauchbar, als er dem Leser das besprochene Buch nicht vollkommen widerwärtig macht. Allerdings ist sein Thema schon fast Esoterik: ein rezensentischer Aufguß von Reflektionen über Poesie. Da gibt es ohnehin nur ein paar Sonderlinge, die sich dafür interessieren. Und bei denen könnte der Rezensent nicht viel verderben. Es handelt sich also um ein Randgebiet, das ein freier Mitarbeiter beackern darf, der sich für derlei undankbare, weil wenig Ruhm und Glanz einbringende Nebenaufgaben wohl erst jüngst qualifiziert hat bei der Süddeutschen. Aber - die Prophezeiung wagen wir - man wird ihm bald größere Aufgaben antragen. Noch hat er nicht ganz die professorale Verquastheit der Branchengroßen erreicht, doch er arbeitet erkennbar daran (kommt im Moment noch mit eher kurzen, nicht übermäßig ambitionierten und daher für unsereins halbwegs verständlichen Sätzen aus).

Eine andere, künftigen Großkritikern unverzichtbare Disziplin dagegen berherrscht Herr Basse bereits tadellos: das latentente, bei Bedarf auch ungeniert offene Wissensgestrunze ("von Else Lasker-Schüler bis Marina Zwetajewa, von Baudelaire bis Mandelstamm"). Einer, dessen Urteil über Literatur nicht einem, sagen wir, unverbildeten Empfindungsvermögen entspringt, sondern einer Ansammlung literaturtheoretischer Kategorien, die er sich auf obskure Weise (autodidaktisch oder akademisch) angeeignet hat, so einer ist sich seiner Sache naturgemäß stets unsicher. Und deshalb beruft er sich nur allzu gern auf einen Kanon branchenweit anerkannten, sogenannten Wissens, damit derselbe seinen zweifelhaften Ausführungen wenn schon nicht Glaubwürdigkeit, so doch einen gewissen Ehrfurchtsfaktor und damit Anschein von Seriosität verleihe.

Und damit sind wir bei der eigentlichen Krux des gemeinen deutschen Kritikers: das händeringende Lechzen nach Seriosität oder sagen wir anders: das Vorherrschen völliger Humorlosigkeit. Auch hier schlägt Herr Basse nicht aus der Art. Literaturkritiker, das weiß jeder, der denken kann, sind Scharlatane und zwar durch und durch. Wenn sie ihren Job gut machen, spielen sie mit Denk- und Deutungsmöglichkeiten und machen das auch - wenigstens zwischen den Zeilen - kenntlich. Achtung: Spiel! Wenn sie ihre Arbeit schlecht tun, dann liefern sie großspurige, besserwisserische Traktate ab, als hätten sie die Weisheit mit Löffeln gefressen. Achtung: großer Zampano! Der letzteren Spezies paßt der Scharlatan überhaupt nicht ins Selbstbild. Das erwartet man nicht anders bei gutdeutschen Kulturschaffenden. Deshalb eben verstecken diese Herrschaften ihn, den Scharlatan, vor dem Blick des Lesers hinter verschärft seriösem Gebaren - und blamieren sich damit bis auf die Knochen. Wer Ernst nur für Ernst hält und Spiel nur für Spiel, der hat die ganze Sache nicht verstanden.

Verena Auffermann über Tanja Dückers

Damit die Damen des Gewerbes, das hier auf dem Prüfstand steht, nicht völlig ungeschoren davonkommen, zum guten Schluß eine Bemerkung zu der von uns hochgeschätzten Frau Auffermann. Ihre Besprechung macht enorm Lust auf das Buch. Offenbar gegen den Willen der Rezensentin, denn sie findet das Erstlingswerk komplett mißlungen, hält es allenfalls für eine brauchbare Materialsammlung. Der eigentliche Roman müsse erst noch geschrieben werden. Zugleich jedoch gerät ihr die Wiedergabe der Geschichte derart lebendig und inspiriert, daß man unweigerlich schließt, sie habe bei der Lektüre starke Eindrücke empfangen, die sich in ihrer Kritik 'durchdrücken', obwohl sie finster entschlossen ist, kein gutes Haar an den Schreibkünsten der Tanja Dückers zu lassen. Man kommt nun nicht umhin zu mutmaßen, daß Frau Auffermanns Bewertung reine Willkür, oder sagen wir vornehmer: von außerliterarischen Erwägungen geleitet, ist. Und welche könnten das sein? Man schaut das abgedruckte Bild der Autorin an und stellt sich im Vergleich Frau Auffermann als eine in Kritikerdiensten ergraute, vielleicht noch nicht alte, aber den Zenit schon überschritten habende Frau vor, die es schlicht und einfach nicht aushält, daß Tanja Dückers tausendmal schöner ist, hundertmal jünger und einen zehnmal besseren Roman geschrieben hat als sie ihn selbst in ihren besten Tagen hingekriegt hätte. Das hält sie nicht aus, sagen wir, und macht deshalb die Schöne recht ätzend nieder. Soviel zum Hohlwort 'Frauensolidarität', denken wir uns und denken zugleich, das wir hier ziemlich chauvinistische Gedanken wälzen, uns aber anders, Verzeihung, die Diskrepanzen in Frau Auffermanns Buchbesprechung beim besten Willen nicht erklären können.


Pater Ralf de Frikassee





AUSGABE 3    August 1999


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