AUSGABE 3 August 1999
Akzente 2/99: Verriss I (Ostermeier, Oswald)
"Alle Kritik ist Sprachkritik. Wenn sie das nicht ist, ist sie gar
nichts." - Volksgut - Das also ist neue deutsche
Literatur. Aha. Na dann gute Nacht... Nein, ich muß anders anfangen: Die
Akzente, Heft 2/99, haben mein Denken in Schwung gebracht. Man kann, glaube ich,
Nachteiligeres über ein Verlagsprodukt sagen, dessen Intention es laut Vorwort
ist, "über diese Dinge ins Gespräch zu kommen". Gespräch setzt ja gemeinhin
Denken voraus, sofern es sich nicht um ganz spezifische Branchen handelt
(Politik, Fußball o. ä.). Damit wäre der Herausgeber schon mal aus dem
Schneider.
Apropos Vorwort: Dasselbe schwirrt nur so von jenen
wunderbaren, weitgehend bedeutungsfreien Allzweckformeln, die in
Literatenzirkeln offenbar unvermeidlich sind, wenn es um den tieferen Sinn und
Zweck von Literatur geht: "Der kulturkritische Jammerton ... nimmt der
Literatur die Möglichkeit, sich wirklich auf die Verhältnis einzulassen." Helau!
"Denn eine Literatur, die den Begriff Gegenwartsliteratur ernst nimmt, müßte
doch zumindest den V e r s u c h unternehmen, die Gegenwart so warzunehmen, wie
sie ist..." Alaaf! "Ein neues 'Unbehagen in der Kultur' macht sich
mancherorts breit, ein Unbehagen jedoch, das kaum imstande scheint, über sich
selbst hinauszukommen." Da capo! "[Wir wollen versuchen], eine Art
Topographie der jüngeren deutschsprachigen Literaturgeneration und ihres
Verhältnisses zur Lebenswirklichkeit zu finden.." Der Wahnsinn! Bereits in
der Einleitung auf dieses feuilletonistische Standardgeschwafel zu stoßen, hat
mich mutlos gemacht und ein Zuklapp- und Fortlegebedürfnis erzeugt, das nur
unter Aufbietung aller Diszipinierungsenergie zu bezwingen war. Wer derart
hohltönende, dabei großspurige Sprüche klopft, den kann ich mir nur als
literarischen Dünnbrettbohrer vorstellen, der solche Fanfarenstöße bitter nötig
hat, weil ohne die kein Mensch merkt, was ihm da Epochales vorgesetzt wird. Er,
der Dünnbrettbohrer, leiht sich sozusagen eine Sprechweise aus, die im
Literaturbetrieb in den Ruf gekommen ist, gehaltvoll und intelligent zu sein
(ich weiß nicht, aus welchen Gründen) und hofft nun inständig, davon möge ein
Abglanz auf seine dürftigen Erzeugnisse fallen. Und ich fürchte, genau so
verhält es sich mit der Akzentenummer 2/99.
In den Ring steigt: Albert Ostermeier. Wir haben es mit
einem Gedicht zu tun, das heißt, mit dem Auszug aus einem szenischen Werk, Radio
Noir, das man durchaus als Gedicht lesen kann oder soll. Dagegen ist nichts
einzuwenden. Nur frage ich mich, warum mir bei der Lektüre des Poems hartneckig
das Bild eines dick eingeölten, studiogebräunten Bodybuilders vor Augen tritt,
der vor Publikum posiert. Ich frage mich, warum ich das Gefühl habe, hier handle
es sich um einen megalomanen Betroffenheits-Fake, der einem Gemüt entspringt,
das eigentlich nichts empfindet außer dem dringenden Wunsch, als wortgewaltiger
Dichter zu gelten. Die Frage muß offen bleiben, weil ich für Lyrik nicht
zuständig bin. Die sollen andere Leute beurteilen.
Auf tritt: Georg M. Oswald Der Autor befaßt sich in
Essayform mit der Lage der deutschen Gegenwartsliteratur beziehungsweise mit der
Diskussion um diese Lage. Was Oswald bietet, ist zunächst erfreulich:
- Kurze Bestandsaufnahme: Der deutschen Literatur werde vorgeworfen, es
fehle ihr an erzählerischer Kraft, sie sei - bei ungenügendem Realitätsbezug -
zu wenig sinnlich, kurz, es herrsche ein künstlerischer Mangel, der zu
schlechten Verkaufszahlen führe.
- Plausible Hypothese: Der mangelnde Markterfolg, sagt Oswald, ist nicht zu
bestreiten. Seine Ursache liegt aber nicht im oben Angeführten, sondern in der
Tatsache, daß die Deutschen ihre Gegenwart nicht mögen - ergo auch ihre
Gegenwartsliteratur nicht. Die Deutschen präferieren die amerkanische Art, die
Welt zu sehen und zu beschreiben.
- Akzeptable Begründung: Medien sind beherrscht von amerikanischen
Machwerken. Daher die Prägung der deutschen Entertainmentkonsumenten auf ein
amerikanisches Weltbild. Ingo Schulzes Erfolg mit den 'Simple Stories'
beispielsweise beruht auf der Nachahmung des amerikanischen Schreibstils, mit
welchem er eine Geschichte aus der deutschen Provinz erzählt.
Bis
hierher lassen sich Oswalds Gedankengänge problemlos nachvollziehen. Der Text
macht Laune, weil er stilistisch schnörkellos und nicht ohne Mutterwitz
geschrieben ist. Freilich drücke ich bei dieser Beurteilung mehrere Augen zu.
Abgesehen von Pauschalisierungen wie 'das Amerikanische' oder 'jeder Deutsche',
die einen per se skeptisch machen, sind solche Äußerungen wie 'die
Literaturkritik müsse Werke an ihren eigenen Voraussetzungen messen, statt an
den dunklen Kriterien eines überholten Kunstrichtertums' ohne weitere
Aufschlüsselungen selbst reichlich opak. Auch leuchtet mir die Schlußfolgerung
nicht ein, daß die Qualität der Literaturkritik daran zu bemessen sei, wie
überzeugend die Begründung ihrer Urteile ausfalle, und daß folglich
"Leseempfehlungen aufgrund persönlicher Präferenzen" den Namen 'Literaturkritik'
gar nicht verdienten - als ob solche persönlichen Präferenzen nicht auch
überzeugend begründet werden könnten.
Nun ja, diese kleineren
Ungenauigkeiten will ich als lässliche Schönheitsfehler in einem ansonsten
durchaus achtbaren Gedankengebäude werten (auch wenn gerade die letztgenannte
Ungenauigkeit darauf hindeutet, daß Oswald die verschwommene Vorstellung hegt,
die Literaturkritik könne 'objektive' Urteile produzieren und nicht - im besten
Falle - bloß solche, die sich an bestimmte Vereinbarungen halten, Vereinbarungen
darüber, wie Literatur beurteilt werden soll; ein denkerischer
Fundamental-Fauxpas). Egal. Wir loben die erste Hälfte des Textes oder tadeln
sie doch zumindest nicht übermäßig.
Mit der zweiten Hälfte indessen
können wir so gnädig nicht verfahren. Hier bezieht sich Oswald auf einen uns
nicht bekannten Artikel des Schriftstellerkollegen Norbert Niemann.
Dankenswerterweise zitiert er die kritischen Passagen. Es geht dabei um den "von
negativen Produktionsbedingungen befreiten Raum der Kunst". In dieser zweiten
Hälfte verläßt den Autor die Lust am (wenigstens halbwegs) genauen Hindenken.
Die Zahl unbegreifbarer, sorglos dem gängigen Jargon entliehener, also
hingeschluderter Sätze wächst rapide. Ein paar Beispiele mit Kommentaren:
"Die Literatur ist doch überhaupt nur interessant, wenn sie sich selbst
als gesellschaftliches Phänomen begreift, als solches wahrgenommen wird und
wirkt. Tut sie das nicht (mehr), ist sie tot." ('Für wen ist sie dann
interessant, die Literatur? Für Herrn Oswald? Für ein paar erlesene Geister? Gar
für uns alle? Und woher kennt der Autor unsere Interessen? Und was ist ein
'gesellschaftliches Phänomen' überhaupt? Wo säße das Hirn der Literatur, mit dem
sie sich selbst als ein solches begreifen oder nicht begreifen könnte? Und wenn
sie sich nicht 'gesellschaftlich' begriffe, wie dann? Ungesellschaftlich etwa?
Vermutlich meint Georg Oswald mit dem verschwiemelten Satz schlicht und einfach:
Das Lesen macht ihm persönlich dann Spaß, wenn ein Text sich mit den
Verhältnissen der Menschen beschäftigt. Ach nee. Und warum sagt er das nicht?
Und übrigens: wie müßte man sich 'tote Literatur' vorstellen? So mit Trauerrand
auf jeder Druckseite? Oder übelriechend? Oder beerdigt und physisch aus der Welt
entschwunden? Oder darf ich die Worte eines professionellen Schreibers nicht auf
die Goldwaage legen? Und wohin dann, bitteschön? In den Mülleimer vielleicht?)
"Wenn es die Literatur versteht, sich einzumischen, indem sie mit ihren
spezifischen Möglichkeiten auf die Gegenwart reagiert, kann sie sich auch in den
Zeiten weltweiter multimedialer Vernetzung, nachhaltigen Interesses gewiß sein."
('Einmischen', aha. Reicht zum Tatbestand des Einmischens, daß ein Text
publiziert ist? Oder muß er eine Mindestauflagenzahl erreichen? Oder muß er ein
bestimmtes Thema anschneiden? Oder muß er eine bestimmte Reaktion beim Publikum
hervorrufen? Ist es dazu nötig, daß er in Feuilletons besprochen wird? Wenn ja,
in wievielen? Oder muß der Autor gar in Talkshows mit seinem Anliegen auftreten.
Wenn nein, warum nicht? Und dürfte ein Text auch auf die Vergangenheit (statt
Gegenwart) reagieren, um den Tatbestand 'Einmischung' zu erfüllen? Und was ist
mit der Zukunft? Usw. usf. An dieser Fragelitanei (die auch bei den
'spezifischen Möglichkeiten der Literatur' und dem 'nachhaltigen Interesse'
angebracht ist), wird deutlich, wie unsinnig, weil völlig inhaltsleer Oswalds
Einlassungen sind. Wieso schämt der sich nicht, solche erbarmungswürdigen
Sprüche in die Welt zu setzen? Wo hat der junge Mann das Denken gelernt? Auf der
Hans-Meiser-Akademie für die mittlere Talk-Gast-Laufbahn?
Ein letztes
Beispiel, sonst wird es zuviel für den Leser: "Ich denke, man muß sich
vergegenwärtigen, daß die Kitschproduktion, soweit sie in Büchern stattfindet,
mit Literatur nichts als das Medium gemein hat." (Als ob die Frage, was
'Literatur' - resp. 'Kitsch' - sei, nicht Gegenstand unzähliger Debatten war und
ist. Wie kann jemand, der alle Sinne beisammen hat, diesen Tatbestand
unterschlagen und so tun, als ob alles geklärt wäre? Wenn ihm, dem Herrn Oswald
höchstpersönlich, diesbezüglich alles klar i s t, soll er den wißbegierigen
Leser gütigst teilhaben lassen an der Erleuchtung, die ihm widerfahren sein muß.
Tut er aber nicht).
Unterm Hagelschlag solcher Passagen löst sich
Oswalds Plot in der zweiten Hälfte des Textes rest- und spurlos in Wohlgefallen
auf. Ich konnte, selbst bei äußerstem Bemühen, nach Abschluß der Lektüre nicht
angeben, worum es in diesem famosen Aufsatz gegangen ist. Verglichen allerdings
mit dem, was Kollege Niemann abliefert, kommt mir Oswalds Essay noch
ausgesprochen gelungen vor.
Fritz Gimpl
AUSGABE 3 August 1999
INHALTSVERZEICHNIS:
|