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Magazin für Verrisse aller Art     Archiv

Herausgegeben von Dieter Conen & Hadi Eberhard

   




AUSGABE 3    August 1999

Akzente 2/99: Verriss II (Niemann)


Es blamiert sich: Norbert Niemann

Der Autor Norbert Niemann verfaßt ein Tagebuch, elf Seiten lang, in welchem er vor allen Dingen davon berichtet, wie er Georg Oswalds eben besprochenes Traktat (das ihm vor Redaktionsschluß der Akzente zugespielt wurde) erlebt, und was er in Erwiderung darauf denken zu müssen gemeint hat.
Nun ist der Text zu umfangreich, um ihn Satz für Satz zu untersuchen (wie es eigentlich geboten wäre bei einer bodenlosen Sprachveranstaltung wie dieser). Ich bin gezwungen wenige, typische Passagen zu Analysezwecken aus dem Zusammenhang zu reißen, einem Zusammenhang, den es, dessen sei der Leser versichert, in diesem Beitrag allenfalls in Form einer mehr oder weniger gelungenen Simulation, also gar nicht, gibt. Niemann leidet am Oswaldschen Syndrom, nur um einige Grade schlimmer als dessen Namensgeber. Zur Sache:

Niemann möchte die 'Diskursivität im Literarischen' neu beleben. Sehr gut. Wie macht er das? Zunächst stellt er fest, daß viele Autoren seiner Generation in manchen Punkten, welche die Literatur betreffen, derselben Meinung sind. Er sagt allerdings nicht, an welche Autoren er dabei denkt und um welche Meinungen es sich handelt. Dafür bringt er den Gedanken selbst extrem gediegen zum Ausdruck. Er spricht von Autoren, die bei aller 'Divergenz' und 'Differenz' durchaus eine Reihe von 'Konvergenzpunkten' aufweisen. Um diese müsse es der Literatur a u c h gehen, wolle sie sich nicht den 'negativen Produktionsbedingungen' des Betriebs überlassen. Na gut, denkt man sich rudivöllerhaft, wenn er unbedingt meint.

Was sind denn nun diese ominösen 'negativen Produktionsbedingungen'? Antwort: Dazu "gehört es jedenfalls unter anderem, daß der Versuch, im literarisch-ästhetischen Diskurs überhaupt noch zu einer Begrifflichkeit zu gelangen, [...] an denjenigen medialen Orten, die traditionell ihre Geschichte in Form von Kritik einmal dargestellt haben, einfach nicht mehr unternommen, als Thema und Aufgabe nahezu gänzlich ignoriert und durch ökonomische Gedankengänge, die mit ästhetischen verwechselt werden, ersetzt wird."
Piano bitte. Also der Versuch, zu einer Begrifflichkeit zu gelangen wird durch ökonomische Gedanken ersetzt? Hmm... Oder werden ästhetische Gedanken traditionellerweise mit ihren medialen Orten verwechselt? Nee, auch nicht... Dann ignoriert gewiß der literarisch-ästhetische Diskurs die Geschichte der Begrifflichkeit als sein Thema und seine Aufgabe gänzlich? Wieder daneben?

Zum Glück nimmt der Autor sich selbstkritisch vor, "seine Begrifflichkeiten klarer, genauer zu fassen zu versuchen", sich die Mühe zu geben, "vom Pathos des Pamphlethaften in den tatsächlichen Diskurs vorzustoßen." Er will, mit anderen Worten, also fortan nachdenken, bevor er lauthals etwas in die Welt posaunt. Ein höchst löblicher Vorsatz, den drei Seiten früher zu fassen vielleicht erwägenswert gewesen wäre. Aber bitte, besser spät als nie. Und es geht auch sofort los mit der denkerischen Präzisionsarbeit. Niemann will "zuerst für mich noch einmal klären, was ich mit dem Begriff der 'Idiosynkrasie' oder Überempfindlichkeit genau meine." Und er definiert wie folgt: "Die Idiosykrasie hat die unmittelbare Nachfolge des Diskurses angetreten.., sie ist zum Agens öffentlicher 'Diskussionen' geworden." Aha, nun sind wir absolut im Bilde. 'Idiosynkrasie' ist..., ähm, was war das gleich noch mal...?

Es geht weiter in diesem Stil. Sein solchermaßen 'definierter' Betrachtungsgegenstand wird nun attackiert: "Im Grunde nämlich - ... - ist alle Engstirnigkeit und Codiertheit auf der Seite des Idiosynkraten, wenn er wie ein Pawlowscher Hund auf jedes, naturgemäß niemals restlos zu definierendes Abstraktum mit einem Katalog eingeübter Abwehrvorstellungen reagiert, die wahrscheinlich aus Ablösungsprozessen von früher vertretenen Anschauungen und Utopien stammen. Statt das Abstraktum je aus dem eigenen, zum Beispiel essayistischen Kontext heraus mit Inhalt, Position, Meinung, ja Wahrheit zu füllen. Dekonstruktion als Selbstzweck und von einem Nullvakuum, einem Nicht-Ort aus."

Ich frage nun ohne jede ironische Beigabe: Kann man einen Absatz wie diesen anders bezeichnen als mit 'Geschwafel'. Zentrales Kennzeichen des Schwafelns ist die exzessive Verwendung solcher Begriffe, die weder definiert wurden noch (Mindestanforderung!) eine Prima-facie-Plausibilität besitzen - gepaart mit der Insinuation, über die Bedeutung der Begriffe herrsche völliges Einvernehmen, jedenfalls unter den Eingeweihten, den Code-Kundigen. Und dieser Tatbestand ist durch die zitierte Passage - die nur beispielhaft für zahllose andere derselben Art steht; ja der gesamte Text ist in diesem Stil erstellt - voll erfüllt. Idiosynkrasie wird nicht definiert. Zwar nennt Niemann die deutsche Entsprechung 'Überempfindlichkeit'. Er versäumt es aber anzugeben, was er im Zusammenhang mit dem (von ihm gewünschten) Diskurs darunter versteht. Überempfindlichkeit gegen was oder wen? Und warum wäre es unstatthaft, aus einer (wie immer gearteten) Überempfindlichkeit heraus zu argumentieren? Ein bestimmter Grad der Empfindlichkeit hingegen scheint statthaft zu sein (er geißelt ja nur das Ü b e r empfindliche). Wo liegt dann aber die Grenze zwischen Statthaft-Empfindlichem und Unstatthaft-Überempfindlichem? Und wer dürfte sie verbindlich festlegen? Usw. usf.
'Engstirnigkeit' müßte nicht definiert, aber doch an einem Beispiel anschaulich gemacht werden.
Was 'Codiertheit' in diesem Zusammenhang heißen könnte, erschließt sich mir beim allerbesten Willen nicht, auch wenn der Autor das gerne hätte ("... aus dem essayistischen Kontext heraus ... mit Inhalt füllen"; die Arbeit, zu verstehen, was er denn wohl meint, überläßt er seinem Lesepublikum; vielleicht tut er das deshalb, um auf diesem Weg zu erfahren, was er denn gemeint haben könnte; dem Original-Kauderwelsch dürfte diese Information kaum zu entnehmen sein; seinem Widerhall vielleicht schon eher).
Dann kommen die "eingeübten Abwehrvorstellungen" und die "Ablösungsprozesse von früher vertretenen Anschauungen und Utopien". Mann Gottes, ich ahne natürlich von ferne, was er hier sagen will. Aber warum läßt er mich mit meiner Ahnung allein? Warum erklärt er mir nicht, auf welche Anschauungen und Utopien er anspielt und wie aus denselben Gegenargumente entsprungen sind, die er nicht akzeptieren konnte? Und warum nicht? Das wäre 'Diskurs', wie ich ihn verstehe.
Schließlich die "..Dekonstruktion als Selbstzweck und von einem Nullvakuum, einem Nicht-Ort aus." Heiliges Kanonenrohr! Wie weit kann einer abkommen vom Pfad diskursiver Vernunft (die er selbst beschwört) und sich immer noch für zurechnungsfähig halten?

Anhand der wenigen Stichproben ziehe ich folgendes Fazit: Niemann packt seine Sätze mit rasanten Vokabeln zu, an denen tonnenweise unartikulierte, aber immer mitgemeinte Insinuationen, Ressentiments und subjektivste Konnotationen kleben. Er braucht sich folglich nicht zu wundern, daß er von aller Welt mißverstanden wird. Und wenn ihm gar nichts mehr einfällt zur Verteidigung seiner 'Positionen' (die im Brei seiner Argumente gar nicht auszumachen sind), stellt er seine Denkschwäche, sein mangelndes Ausdruckvermögen als eine Unzulänglichkeit der Sprache hin ("...naturgemäß niemals restlos zu definierendes Abstraktum"). Das Ergebnis solcher Sprechmurkserei ist schlicht und einfach, Entschuldigung, kapitaler Mist, Geschwafel eben. Quod erat.. usw. Zur Erbauung (oder Abschreckung?) des Lesers abschließend noch ein paar Highlights aus Niemanns Beitrag:

"Warum also die Literatur nicht einfach subversiv wird oder werden kann, im Sinne jenes subkulturellen Elements von Kultur, das seit bürgerlichen Zeiten immer zu ihr gehört, die Kultur erst zur Kultur gemacht hat."

"Nicht das Kunst/Literatur immer schon eine 'elitäre' Angelegenheit war - ... -, sondern daß selbst diese 'Eliten' über einen allerengsten Zirkel hinaus - und sogar dort ist es fraglich - die Kunst/Literatur nicht mehr in angemessener Weise wahrnehmen zu können scheinen, ist das Problem."

"Autoren und Betrieb werden sich also fragen lassen müssen, warum es ihnen an Relevanz mangelt bzw. was diese Relevanz so unscheinbar macht."

"Ob es nicht klüger wäre, zum Beispiel auf ganz neue Begriffe hinzuarbeiten, auf solche, auf die man sich erst allmählich verständigen müßte, und die sich aus der Diskussion der alten Begriffe von selbst generierten."

Das Allerklügste wäre es vermutlich gewesen, geschwiegen zu haben.

Fritz Gimpl





AUSGABE 3    August 1999


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