Geschrieben am 4. Oktober 2015 von für Allgemein, Bücher, Crimemag

Notizen vom alltäglichen Wahnsinn (2)

„Weil es sich rechnet“

Unser monatlicher Ausflug in den alltäglichen Wahnsinn dieses Mal als Hinweis auf sechs Sachbücher, deren undosierter Genuss leider geeignet ist, an der Vernunft als eine besondere menschliche Eigenschaft zu zweifeln. Wobei hier zweifellos lauter vernünftige Leute am Werke sind, denen eben der Zweck die Mittel heiligt – weil es sich rechnet.

chop nf colin crouchDie Wissens-Betrüger

(AM) Er läuft und läuft, der große Betrug. Manipulation und die Verschleierung von Wissen und Informationen gehören zum Alltag der Ökonomie entfesselter Märkte, es gäbe geradezu marktwirtschaftliche Anreize zur Unehrlichkeit, sagt Colin Crouch, 71, britischer Politikwissenschaftler und Soziologe („Postdemokratie“). Schon lange warnt er vor dem nun auch dem letzten VW-Fahrer offenkundigen Verfall letzter Werte, in dem Crouch weniger einen Skandal, denn ein System sieht. Nämlich die Logik der Finanzmärkte. (Siehe dazu auch die CM-Besprechung von „BlackRock“ in dieser Ausgabe.) Er war dann aber doch von sich selbst schockiert, als er sich in den Zeitungs-Kommentaren zur gigantischen VW-Manipulation mit einem Zitat aus dem hier besprochen Buch wiederfand. Bestätigt fand. Nämlich in seiner Warnung vor der neoliberalen Logik der Finanzmärkte, so viele Lebensbereiche wie nur möglich unter rein marktwirtschaftlichen Aspekten zu betrachten und sie damit letztlich auf Kennziffern oder Geldwerte zu reduzieren. Sollte es bei VW einen Techniker gegeben haben, meint er, der gegen die Abgas-Manipulationen Einspruch erhoben habe, so sei seine Teil-Information – wir NeoLibs wollen das ja „ganzheitlich“ sehen – „im Zweifelsfall „der Herrschaft einer ganz bestimmten Kennzahl unterworfen worden: dem Quartalsgewinn, der Mutter als Zahlen“.
Es blieb der FAZ vorbehalten, für den VW-Skandal mit einer Dolchstoß-Legende bester neoliberaler den wahren Schuldigen zu finden. Auch ohne die Puffbesuche von Gewerkschaftern koste „die Mitbestimmung VW im Wettbewerb Beweglichkeit und verteuert das Personal – Nachteile, die zu besonderer Findigkeit an anderer Stelle zwingen. Gar zum Abgasbetrug?“ (Ungelogen wörtlich so in der FAZ vom 30. September 2015, Heike Göbel.)

Colin Crouch, der in „Die bezifferte Welt“ mit vielen Beispielen aus dem britischen Gesundheits- und Schulwesen argumentiert (seine Frau ist Lehrerin), kämpft seit Jahren „gegen ein Kernstück der neoliberalen Lehre, nämlich der Annahme, der Markt sorge schon von selbst für Transparenz und liefere uns alle Informationen, die wir als Kunden oder Unternehmer brauchen“. Pustekuchen. Das Gegenteil ist richtig. Nehmen wir die Polizeistatistik: „Die Politik gab der englischen Polizei Erfolgsquoten für die Aufklärung von Autodiebstählen und Einbruchsdelikten vor, weil Untersuchungen gezeigt hatten, dass das subjektive Sicherheitsempfinden der Bürger vor allem durch diese Straftaten beeinträchtigt wurde – weshalb ein Rückgang in diesem Bereich dem Versprechen wirksamer Kriminalitätsbekämpfung besondere Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft verliehen hätte. Nicht zuletzt diese Vorgabe führte jedoch dazu, dass die Polizeibehörden in mehreren englischen Städten den organisierten sexuellen Missbrauch von Kindern ignorierten, da diese Verbrechen für ihre Leistungskennziffern nur eine untergeordnete Rolle spielten.“

Die Abhängigkeit unserer Gesellschaft vom Wissen verwandelt sich, konstatiert Crouch, schleichend in eine Abhängigkeit von solchen Vertretern privater Interessen, deren Verhalten sich lediglich in dem Maße an Moral und Ethik orientiert, in dem sie vom Markt dazu gezwungen werden – oder eben nicht.

Colin Crouch: Die bezifferte Welt – Wie die Logik der Finanzmärkte unser Wissen bedroht (The Knowledge Corrupters. The Financial Takeover of Public Life). Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp, Berlin 2015. 250 Seiten, 21,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch hier und zum Autor hier.

chop nf james risenProfiteure der Angst – Stoff für viele Thriller

(AM) „Heute verlässt sich die CIA in solchem Maß auf externe Kräfte, dass viele Agenten begriffen haben, dass man am besten vorankommt, wenn man kündigt – um dann in der nächsten Woche denselben Job als externer Auftragsnehmer zum doppelten Gehalt zu erledigen.“
Leider ist es ein sehr erfahrener investigativer Journalist, zweimal mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, wegen seiner Quellen von der US-Justiz bedrängt, der solch ein strukturelles Detail benennt, bei weitem nicht das Schlimmste in seinem Bericht zur Lage der amerikanischen Nation (und damit ein Stück weit, Stichwort Wertegemeinschaft, auch der unseren). Sein im kleinen und wachen Westend-Verlag veröffentlichter, hochbrisanter Report böte gleich Stoff für Hunderte von Thrillern (Verlagsslogan: „Bücher für die Wirklichkeit“). Auch der „Folter-Report der CIA“ ist hier erschienen. (Zur CrimeMag-Besprechung hier.)

Der amerikanische Buchtitel „At Any Price“ bezieht sich auf die Antrittsrede von Präsident Kennedy vom 20. Januar 1961. Der proklamierte damals: „Jede Nation, sei sie uns gut oder böse gesinnt, soll wissen, dass wir jeden Preis zahlen, jede Last und Not ertragen, jede Entbehrung auf uns nehmen, jeden Freund unterstützen und jedem Feind entgegentreten werden, um das Überleben und den Sieg der Freiheit zu sichern.“ Nun, in den 14 Jahren nach 9/11 ist das ein bisher mindestens vier Billionen Dollar teurer Preis geworden. 4.000 Milliarden Dollar für einen Goldrausch in der Angstindustrie, wie James Risen, Jahrgang 1955, den „homeland security industrial complex“ nennt: „Wie eine Blase an den Finanzmärkten, so bläht sich in Washington eine ‚Antiterrorkampfblase‘ auf.“

Risens analytischer Fokus liegt auf dem Thema Privat-Public-Partnership im Krieg gegen den Terror. Das Strategiemodell von teilprivatisiertem Überwachungsstaat und teilprivatisiertem Antiterror-Krieg, so zeigt er, erweist sich vor allem als eine Goldgrube für bestimmte Unternehmen. Dick Cheney, aber längst nicht nur er, lässt grüßen. (In Deutschland hat heute die FDP-Kappe Dirk Niebel, ehemals „Entwicklungsminister für die Armen, ein nettes Auskommen als Lobbyist des Rüstungskonzerns Rheinmetal; Lena Blaudez hat das bei CrimeMag entsprechend kommentiert.) Risen sieht weltweit eine neue Klasse von Söldnern und ihrer Strippenzieher am Werk, vergleicht das mit dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert. Seine journalistische Laufbahn begann er mit Enthüllungen über die Autoindustrie in Detroit, als erster Reporter berichtete er 2004 über das „Waterbording“, deckte deutlich vor Snowden die NSA-Überwachungsprogramme im Inland auf. Man muss ihn ernst nehmen.

James Risen: Krieg um jeden Preis. Gier, Machtmissbrauch und das Milliardengeschäft mit dem Kampf gegen den Terror. (Pay Any Price. Greed, Power, and Endless War, 2014). Aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos. Broschur. Westend Verlag, Frankfurt 2015. 312 Seiten, 17,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch hier und zum Autor hier und hier.

Netzwerk des Todes von Daniel M HarrichWaffenexporte – Tod aus Deutschland

(AM) In deutschen Fernsehkrimis ist es ein gerne genommener Stereotyp: Herren in Anzügen und/ oder auch gerne smarte Frauen im Business-Outfit, dazu viel dunkles Geraune von „… aber der Herr Staatssekretär…“, irgendwas mit Waffenhandel. Irgendwas. Eben. Wer am Mittwoch, 23. September 2015, um 20.15 ARD schaute, konnte sich wundern, wie realitätstüchtig deutsches Fernsehen aussehen kann. Da war ungewöhnlich viel echte Welt zu sehen, war viel von realen Konflikten zu erfahren, war auf echten Straßen gedreht worden, sah man nebenbei 50 Mal mehr Alltag als in fünf Monaten steriler TV-Spielfilmatmosphäre. Das lag nicht nur daran, dass Dreharbeiten in Mexiko oder Kolumbien billiger als in Deutschland sind. Es war ein Schwerpunkt-Fernsehabend zu deutschen Waffenexporten mit einer an den Spielfilm anschließenden und das Thema nochmal anders erhellenden Dokumentation, von einer professionellen und sachkundigen Crew verantwortet, nicht von einem proporzmäßig zu einem lachhaften „Brennpunkt“ daher schwatzenden Anstalts-Ochsenfrosch. Etwas leider ziemlich Seltenes, dieser Abend in unserem gebührenfinanzierten Fernsehen: erst der Spielfilm „Meister des Todes“ von Daniel Harrich und danach um 21.45 Uhr die Dokumentation „Tödliche Exporte – wie das G36 nach Mexiko kam“, den realen Fall hinter dem Spielfilm vertiefend. Parallel dazu ein umfangreiches Info-Angebot im Netz.
Nun jetzt dazu deutlich mehr als das normale „Buch zum Film“, nämlich ein aktuelles Kompendium der Problematik unserer Waffenexporte. Deutschland mischt da ganz vorne mit in der Welt. Von Journalisten und Filmemachern gemacht und zusammengetragen, mit 17 Interviews, vielen Dokumenten, einem Glossar, Grundlagentexten und einem Personen- und Sachregister unterfüttert, ist das ein Buch, wie es leider zu wenige gibt. Man kann nun nicht mehr sagen, man habe sich ja nicht ausreichend informieren können.

Jürgen Grässlin, Daniel M. Harrich, Danuta Harrich-Zandberg: Netzwerk desTodes – Die kriminellen Verflechtungen von Waffenindustrie und Behörden. Heyne Verlag, München 2015. 384 Seiten, 16,99 Euro.
Verlagsinformationen zum Buch hier.

Global_Hack_neues_Format.inddVernetzt, abhängig, angreifbar

(AM) Es ist der Stoff vieler Filme und Romane und die pure, nackte Realität: Technologie hat immer schon das Verbrechen befördert, es vorangebracht, ihm einen Vorsprung vor Polizei, Strafverfolgung und Geschädigten verschafft. „Mission Impossible“ ist für gewiefte Cyberkriminelle längst possible – kennen wir es nicht von den Gehilfen von Tom Cruise, die online in Sekundenschnelle und mit dem Helden unter Wasser die kompliziertesten Sicherheitssperren knacken, von abgehalfterten Computercracks, die mal schnell 100 Millionen Dollar von einem offshore-Konto zu kapern in der Lage sind, wenn John Travolta in „Password: Swordfish“ (von 2001) die schöne Halle Berry an einem Stahlseil um den Hals um ihr Leben zappeln lässt? Alles Fiktion? Die Wirklichkeit ist noch viel heftiger – Marc Goodman ist ihr Prophet. 600 fette Seiten stark ist seine Warnung vor den vielen Formen und Techniken der Cyberkriminalität. Ein Buch, das auch Daniel Suarez, der Autor von „Daemon“, „Influx“ und „Kill Decison“ (zu einer CM-Besprechung  hier) zum Fürchten findet. Goodman sieht sich als „your Security Sherpa für das 21. Jahrhundert“, hat für Interpol und Polizei- und Sicherheitsbehörden in mehr als 70 Ländern gearbeitet, 2012 das Eröffnungsreferat bei der 81. Vollversammlung von Interpol gehalten, 2011 in der Harvard Business Review darüber geschrieben, was die Wirtschaft vom Organisierten Verbrechen lernen kann, hat davor gewarnt, dass auch Terroristen Drohnen steuern können und die biometrische Sicherheit sogar des US-Präsidenten eines Chimäre ist. Goodman schreibt im Vorwort: „Eine gutgemeinte Warnung: Wenn Sie weiterlesen, werden Sie Ihr Auto, Ihr Smartphone oder Ihren Staubsauger künftig mit ganz anderen Augen sehen.“ Stimmt. All die filmischen Fiktionen auch ….

Marc Goodman: Global Hack. Hacker, die Banken ausspähen. Cyber-Terroristen, die Atomkraftwerke kapern. Geheimdienste, die unsere Handys knacken (Future Crimes: Everything is Connected, Everyone is Vulnerable and What We Can Do About It). Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Karin Miedler, Kathleen Mallett. Hardcover. Hanser Verlag, München 2015. 600 Seiten, 24,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch hier und zum Autor hier.

Tillack_24777_MR1.inddWer zahlt, schafft an

(AM) Die von Colin Crouch (siehe weiter oben) analysierte, unsere Gesellschaft tiefgreifend korrumpierende Verlagerung öffentlicher Aufgaben in die Privatwirtschaft, sei es durch Auslagerung oder Kooperation, ist eines der Recherchefelder in dem bereits 2014 erschienenen, überaus informativen Sachbuch des Stern-Reporters Hans-Martin Tillack. Es ist eine aufregende Reise durch die Welt der geldwerten Vorteile und andere Formen der Einflußnahme.
Autor Tillack findet: „Lobbyisten die Gesetze schreiben, ist es Zeit zu handeln.“ Sogar in den USA gibt es ein Lobbyregister, in dem Firmen vierteljährlich melden müssen, welche Summen sie aufgewendet haben, um auf die Politik in Washington Einfluss zu nehmen. Nobert Lammert, immerhin Präsident des Deutschen Bundestags, meinte 2013 in einem FAZ-Interview: „Der Einfluss der Lobbyisten auf die Gesetzgebung ist beachtlich, und er ist in zunehmenden Umfang glänzend organisiert“
Wie sagte Horst Seehofer einmal, dabei ganz der Franz-Josef-Strauß-Nachfolger: „Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.“

Hans-Martin Tillack: Die Lobby-Republik. Wer in Deutschland die Strippen zieht. Hanser Berlin, 2014. 352 Seiten, 24,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch hier und zum Autor hier.

chop nf _Schwarzbuch Markenfirmen_Gross-420x648Was Sie schon immer lieber doch nicht wissen wollten …

(AM) Ebenfalls bereits 2014 erschienen, aber ein geradezu zeitloser Klassiker, das ist das „Schwarzbuch Markenfirmen“ des Journalisten Hans Weiss und des Globalisierungskritikers Klaus Werner-Lobo. Beide sind sie aus Österreich, ihr bestens informierter Schmäh hat Hand und Fuß, wird auf einer Internetseite (siehe unten) immer wieder aktualisiert. Bereits die Erstauflage vom Jahr 2001 wurde mit 200.000 verkauften Exemplaren zum Bestseller und in 15 Sprachen übersetzt.

Für die Neuauflage wurde das Kompendium, ein Sachbuch-Krimi eigener Güte, vollständig neu überarbeitet. Mit im Visier nun auch neue Global Player wie Amazon, Facebook und Google, zusätzlich auch Banken und altbekannte Klassiker wie McDonald’s oder Coca Cola. Was Sie schon immer über Ihre Lieblingsmarke nicht wissen wollten, steht vermutlich hier. Alle Links aus dem Buch finden sich auch auf der Internetseite markenfirmen.com/links/firmenname – also etwa, wenn Sie hinter dem letzten Slash Adidas eingeben.

Klaus Werner-Lobo, Hans Weiss: Schwarzbuch Markenfirmen. Die Welt im Griff der Konzerne. Deutike, Wien 2014. Broschur. 336 Seiten, 19,90 Euro. Informationen zum Buch und den Autoren hier und hier.

Foto Fabeltiere aus Brindisi (c) Wolf Eckart Bühler

Tags : , , , , , , , ,