Multiperspektivischer Blick
Vier Jahreszeiten, aber sie haben nichts mit Musik und nur wenig mit Natur zu tun. Es geht um Zustände und Stimmungen in Großbritannien, einige Themen und Figuren ziehen sich, nur locker verbunden, durch alle vier Bände dieses “Quartetts”, wie Ali Smith diese Gruppe nennt. Der erste Band, “Herbst” ist in England im Oktober 2016 erschienen, kurz nach dem Referendum, es folgt Winter und Frühling, und der letzte Band, “Sommer” wurde bereits im Lockdown geschrieben, behandelt Corona, und auch Black Lives Matter konnte die Autorin noch einfügen. In Großbritannien wurde sie als “Genie” gefeiert, sie hat zahlreiche Preise gewonnen, ist Mitglied der Royal Society of Literature und kommt, wie gerne erwähnt wird, aus der Arbeiterklasse. Auf deutsch ist der erste Band, “Herbst” 2019, der Folgeband, “Winter”, 2020 erschienen, der “Frühling” ist für Ende März dieses Jahres angekündigt, den habe ich noch nicht gelesen und fürchte mich schon ein wenig davor. Denn so schön die Stimmungen, die Träume und Rückblenden auf das England des 20. und frühen 21. Jahrhunderts sind, so deprimierend ist die Entwicklung, um die es geht.
“Herbst”: Daniel Gluck, der hundertjährig im Sterben liegt, wird von einer noch jungen Frau besucht, der er, als sie ein Kind war, die Welt der Kunst, der Literatur und Schönheit eröffnet hat. Auch Vertrauen. Sein Sterben und ihre Zuneigung sind anrührend, Träume und Nacherzählungen verschwimmen, und zwischen den Geschichten, die die nunmehr 30jährige Kunsthistorikerin mit dem Mann verbindet, der schon alt war, als sie ihn kennenlernte, sind die Absurditäten englischer Bürokratie, Rassismus, die katastrophale Lage von Studierenden, die sich hoch verschulden und keine Aussicht auf Jobs haben, der alltägliche Irrsinn zwischen heiler Werbewelt und gespaltener Gesellschaft samt Schuldzuweisungen, der Spaltung zwischen sehr Reichen und sehr Armen, Schauplätze eines Englands, das für den Austritts aus der EU votiert hat. ”Rule Britannia, hatte eine Horde Schläger am Wochenende […] gegrölt. […] Zuerst holen wir uns die Polen, schrieen sie. Und dann die Muslime. Danach die Zigeuner und die Schwulen”.
Der sterbende Hundertjährige, erinnert an eine Gegenwelt mit anderen Maßstäben. Und der Band mündet in eine hommage an eine fast vergessene Künstlerin, von deren Bildern er einst dem Kind erzählt hatte.
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Frohgemut nahm ich den zweiten Band, “Winter”, zur Hand. Und es wurde düster.
Der Roman beginnt mit einer Todesanzeige all dessen, was noch im Band davor wichtig war: Poesie, Romantik, Malerei, Kunst, Theater, Kino, alles ist tot. “Das Denken war tot. Die Hoffnung war tot. Wahrheit und Fiktion: beide tot. Die Medien waren tot. Das Internet auch. Twitter, Instagram, Facebook, Google: tot. Die Liebe war tot […] Manches jedoch war nicht tot oder noch nicht.” Es steht so da, als wollte die Autorin den Gegenbeweis antreten.
Hier sind die wichtigsten Protagonisten ein Mann, der seine Berichte für einen “Nature-Blog” faked und eine Freundin, die er sich ausborgt, um Weihnachten zu seiner Mutter zu fahren – Charlotte, die “richtige” Freundin, hat ihn verlassen – und seinen Laptop kaputt gemacht. Der Streit Arthurs mit der Freundin hat mit all den Katastrophen zu tun, die Charlotte umtreiben, und Arthur, der sich Art nennt, eher gleichgültig sind. Klimawandel, Kapitalismus, Plastik, Börsenkurse. Die bunteren Hauptpersonen sind die zwei – zerstrittenen – Schwestern – Sophie, Arthurs Mutter und Iris. Die eine bürgerlich, erfolgreiche Geschäftsfrau, tendenziell irre, die andere war und ist immer noch Rebellin, Aussteigerin, mutig und politisch engagiert. Die als Legitimation aufgeklaubte Ersatzfreundin, sie nennt sich “Lux”, entpuppt sich als klug, gebildet und geschickt im Umgang mit der verrückten Mutter, außerdem ist sie Kroatin, also eine Eingewanderte.
Die Autorin jongliert mit den “echten” Katastrophen: Wettrüsten, Polizeigewalt, Flüchtlinge, Weltraumschrott, Giftgas und die verkommenen, weil privatisierten, öffentlichen Einrichtungen. Alles wirbelt durcheinander, Wahrheit und Fake und auch noch Trump, stets mit scharfen Schnitten, wie ein postmoderner Film. Arthurs Vater ist nicht der echte Vater, Geschwisterstreit, Assoziationen und unterschiedliche Erinnerungen lassen den Boden wackeln, alles durcheinander, der Daniel aus dem vorigen Band hat einen kurzen Auftritt, wieder wird eine Künstlerin entdeckt, Kritik und Zuversicht, Realitätspartikel, Erinnerung, Gedankenstrom und Meinung wechseln in immer rasenderem Tempo ab. Es gibt keine Einheit von Raum, Zeit und Handlung, wie in den Dramen der Vergangenheit. Der Text ist so verwirrend wie die Gegenwart, und das könnte der Grund sein, warum die Kritik so begeistert ist.
Ali Smith: Herbst (Autumn, 2016). Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Luchterhand Verlag, München 2019. 272 Seiten, 22 Euro.
Ali Smith: Winter (2017). Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Luchterhand Verlag, München 2020. 320 Seiten, 22 Euro.
Frühling erscheint am 29. März 2021. Sommer hat noch keinen Erscheinungstermin.
Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs. Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de
Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.