Geschrieben am 1. Juni 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2021

Hazel Rosenstrauch über Alberto Vigevanis „Spaziergang“

Ein erzählender General

Die hübschesten Kleinode finde ich nur selten beim Durchpflügen von Verlagsvorschauen oder Rezensionen, im breiten Fluss der Bücherproduktion übersieht man sie leicht. Zuverlässiger sind die Empfehlungen von lesenden Freunden. Die nur 77 Seiten dünne Erzählung von Alberto Vigevani beginnt harmlos mit der Wiederentdeckung eines monströsen Überseekoffers, der den Autor an seine Hochzeitsreise erinnert, an all die Hindernisse, die das Trumm überwinden musste, als sie ihn auf Fuhrwerken, in der Bahn, auf ungeebneten Wegen mitnahmen. Das Paar war noch jung und übermütig und wollte sich von dem unbequemen Gefährten nicht trennen. Noch ist der schwere Koffer ein Gegenstück zur Leichtigkeit der Reise an italienische Ferienorte. 

Erst nur leise klingt die Ermächtigung Mussolinis an, eine jüdische Herkunft, die Proklamation der Rassegesetze, die in Italien „nach dem Vorbild der Nazis nicht ganz so grausam, aber mit grotesker Regie in Kraft traten“. 

„Der General“, wie sie das möbelgroße Stück nennen, war ein Geschenk von Tante Jole, und der Erzähler hat die Erinnerung an sie und ihren Mann Giorgetto ein halbes Jahrhundert weggeschoben. „Das Lächeln, die Tränen, ihre typischen Gesten“ hatten sein Gemüt wie ein spitzer Dorn durchdrungen, er hatte sie weggeschoben, bis er „den sogenannten General wiedersah“. 

Selten ist jemand so zart mit der Erinnerung an die „schon allgemein bekannten Bilder nackter, zu Gerippen abgemagerter in Massengräbern übereinander gestaptelter Leichen“ umgegangen, vorsichtig, ohne die Keulen, die wir hierzulande aus dem Gemisch von Schuldgefühlen und Bewältigungsversuchen kennen. Der nun reife Mann sieht die Gesichter Giorgettos und Joles wieder, versucht ihre Gesichtszüge wiederaufleben zu lassen und zu verstehen, wieso sie nicht rechtzeitig geflohen waren. „Der Überseekoffer war nur ein Talisman gewesen, eine Art Kristall, der sie in der nicht mehr unterbrochenen Woge der Erinnerung widergespiegelt zurückzugeben vermochte“. Es gab so viele Gründe, warum schlichte Gemüter wie diese Beiden die Wirklichkeit geleugnet und auf die Warnungen nicht gehört haben. Sie hatten sich erst auf den Weg gemacht, als es zu spät war, und sie waren zu naiv und zu ungeschickt, um, wie der klügere Schwager und manche Bekannten, rechtzeitig zu entkommen. 

Nicht die harten Kanten, die wir aus der „Aufarbeitung“ kennen, eher Belanglosigkeiten, Gedanken und Gefühle, die Vigevani den wenigen Informationen hinzufügt, die er durch Zufall erfährt, lassen ein Bild, nein, eine Ahnung entstehen, wie es Onkel und Tante ergangen sein könnte. Scharf konturiert aber sind die Berichte, wie italienische – betrügerische – Fluchthelfer und Schweizer Gendarmen ihr Teil zur „Rückführung“, dann Gefangennahme und schließlich Deportation der Beiden beitrugen. 

„Ich glaube, es fällt jetzt schwer, sich daran zu erinnern, dass man in der Vergangenheit vermied, an Jole und Giorgetto zu denken. Als es geschah, lehnte es der Geist ab, sich damit zu befassen.“ Dann aber hat sich der General mit Erinnerung gefüllt „jede Schublade erzählt mir etwas, wenn ich sie öffne“. Am Ende des Textes ist er nicht mehr leer, er ist mit der Erinnerung gefüllt und begleitet den Autor auf seinen „Spaziergängen unter dem hohen Laubwerk der Bäume“, bei denen er an Joles Leberpastete mit Pistazien oder die „mit Humor und gütiger Schläue gesättigte Maske Giorgettos“ denkt. 

Als ich den kleinen Band zuschlug wusste ich wieder, was Literatur im Unterschied zu Gedenkveranstaltungen, Journalismus oder Interviews kann. Es ist, natürlich, eine schreckliche Geschichte, Jole und Giorgetto sind letztlich in Auschwitz umgekommen. Und doch steckt in der Erzählung über diesen Überseekoffer Trost, Schönheit und Wärme, so dass die Erinnerung auch den Hauch eines anders möglichen Lebens enthält. 

Alberto Vigevani: Ein kurzer Spaziergang. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Friedenauer Presse, Berlin 2021. 77 Seiten, 16 Euro.

Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.

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