Geschrieben am 15. Juni 2016 von für Crimemag, Film/Fernsehen, Kolumne

Kolumne: Max Annas: On Dangerous Ground (8)

OUTrage poster-2Film, Verbrechen und ungleiche Mittel

Heute: Ida Lupino – „Outrage“. 73 Minuten, und keine Szene zu verschenken. Von Max Annas.

Eine Minute und noch eine Viertelminute obendrauf dauert der Vorspann von Ida Lupinos zweitem Spielfilm „Outrage“. Eine leere Straße in der Nacht. Schwarzweiß. Eine Frau, die läuft. Die Frau blickt sich im Laufen um. Dann bleibt sie stehen, klammert sich an einen Laternenmast. Sie blickt sich wieder um, schaut in alle Richtungen. Das ist die Sekunde, in der wir die Panik im Gesicht der Frau ahnen. Der Titel taucht klein in der Bildmitte auf und wird schnell größer, bis er den zentralen Teil der Leinwand ausfüllt. „Outrage“ steht dann da also. Ein flexibler Begriff, der sowohl die Empörung über ein fürchterliches Ereignis meint als auch das Ereignis selbst. Während die Credits weiter präsentiert werden, sehen wir die Frau zum ersten Mal etwas näher. Von hinten zuerst. Ihre Kleidung ist nicht ganz sauber. Eingerissen vielleicht. Auf jeden Fall aber nehmen wir die Flecken auf der weißen Bluse wahr. Wie sie sich auf einen Hydranten lehnt, erzählt viel über die Geschichte, aus der die Frau kommt. Oder besser: entkommen ist. Denn das gibt diese Körperhaltung zum ersten Mal preis. Die Panik der Frau wurzelt nicht in der Angst vor jemandem, der sie verfolgt. Sie hat den (ersten) Alptraum längst hinter sich. Unter dem Namen des Produzenten und Drehbuch-Coautors James Collier wendet sie sich noch einmal um. Und als „Directed by Ida Lupino“ erscheint, ist sie schon wieder in vollem Lauf.

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Eine Frau, die wegrennt. Nachts.

Gut 70 Sekunden alt ist der Film hier. Urbanes Umfeld, Nacht, eine Figur ist in Gefahr, rennt davon. 1950. Noir-Bilder. Alles passt. Und auch nicht. War Film Noir nicht gerade dabei, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern neu zu ordnen? Warum also beginnt dieser Film mit einer Frau, die in großer Panik durch eine verlassene Gewerbegegend rennt?

„Outrage“ fehlt in den Kompendien der Geschichtsschreibung gemeinhin, wenn es um Film Noir geht. Und das, schon, durchaus zu Recht. Die Bilder nach dem Vorspann zeigen ein Leben, das von Erwerbsarbeit und Familienleben geprägt ist. Ein Kaffeetruck, eine Fabrik, Leute in der Pause, eine Frau kommt zum Truck gelaufen, in großer Eile. Sie bestellt Schokoladenkuchen und muss sich vom dem Putzlappen, der den Truck bewirtschaftet, zuschleimen lassen. Die Figur muss wichtig werden, so viel Dialog kriegt sie. Wir sind in einem 73-Minuten-Film, da gibt es keine Szene zu verschenken. Also textet der Kaffeemann die Frau zu, die erste Grenzübertretung inklusive. Dann geht es weiter. Der Verlobte. Die Familie. Eine angekündigte Heirat. Ein Büro, Überstunden, und in der schwächsten Szene des Films sitzt die Frau, die wir jetzt als Ann Walton kennen (Mala Powers) über einer Akte im Büro und bemerkt, dass es schon beinah 22 Uhr ist. Höchste Zeit also, endlich nach Hause zu gehen.

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Es direkt zu zeigen, verbot der Production Code

Die nun folgenden Minuten gehören zum Härtesten, was das Kino bis dahin präsentiert hat. Es ist die vergebliche Flucht von Ann Walton vor dem Betreiber des Kaffeewagens. Beginnend mit dem beobachtenden Blick des Mannes und seinem so hilflosen wie vergeblichen Kontaktversuch bis zur Vergewaltigung in einem gewerblich dominierten Nirgendwo unter dem Sound eines dauerhupenden Lastkraftwagens. Die Flucht, von der wir wissen, dass sie vergeblich ist, weil wir die Bilder unter dem Vorspann gesehen haben, führt durch dunkles, nicht belebtes Gelände. Die ausufernd lange Fluchtszene – mehr als 6 von 73 Filmminuten gibt ihr die Regisseurin – ist aus zwei Gründen dramaturgisch notwendig. Die Vergewaltigung selbst muss im Off stattfinden, weil der Production Code zahlreiche „don´ts“ listete, die ein solches Verbrechen undarstellbar machen – beginnend damit, dass eine Vergewaltigung darzustellen zwar nicht prinzipiell verboten war, aber unter Verdacht stand, in verbotenes Terrain hinein zu spielen. Guter Geschmack sollte schließlich formuliert und gefördert werden, eine Vergewaltigung fiel nicht unter dessen Distribution. Lupino wollte aber die Brutalität der Tat darstellen, und griff also zu einem Mittel, das legal und nicht angreifbar war. Eine Verfolgung, eine Jagd, deren Ausgang bekannt und deren Dauer brutal lange ausgedehnt wird, in filmischer Zeit gemessen, um einen Weg zu gehen, dem Schmerz und der Demütigung Ann Waltons Raum zu geben.

Die Einstellung, in der nicht zu sehen ist, was geschieht, folgt auf den Schnitt vom Bild der gestürzten Ann Walton. Der Kaffeewagenmann wird von der sich schnell zurückziehenden Kamera gezeigt, eine Häuserecke, hinter der Walton liegt, ein paar Stufen, die der Mann nehmen muss, während unter dem Hupen des LKWs, der noch im Bild zu sehen ist (Walton hat diese Hupe versehentlich ausgelöst), ein anderer Mann im ersten Stock, gestört vom Lärm der Hupe das Fenster öffnet, um zu sehen, was draußen geschieht. Wie das Kinopublikum hört er nur den Lärm der Hupe und nicht, was direkt hinter der Häuserecke geschieht. Der Production Code hätte sicherlich auch die Hilferufe von Ann Walton missbilligt.

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Wer ist diese Ida Lupino?

Ida Lupino war ein echter Star in jungen Jahren ihrer Schauspielkarriere. Wer sich noch einmal mit Raoul Walshs „High Sierra“ beschäftigt, kann das auf verblüffende Weise sehen. Im Alter von 23 Jahren wurde sie mit einer eher traurigen Rolle, die deutlich weniger Leinwandzeit erhielt als jene Humphrey Bogarts, über jenem auf dem Plakat zum Film genannt. Eine Pre-Film-Noir-Frauenrolle, ein dummes Anhängsel des Mannes, das am Ende dessen Untergang besiegelt. Vielleicht hätte ein talentierterer Regisseur als Walsh mehr aus der Beziehung zwischen Lupino und Bogart herausholen können, so aber bleibt der Film ein Beispiel für die mangelnde Qualität der Rollen und der Arbeit generell in Hollywood, über die sich Lupino schließlich beschwerte. So gründete sie dann zusammen mit dem Gatten James Collier ihre eigene Produktionsgesellschaft, The Filmmakers.

Zwischen 1949 und 1953 drehte sie fünf Filme als Regisseurin, dazu kommen zwei, bei denen sie nicht genannt ist. Elmer Cliftons „Not Wanted“, den sie co-geschrieben hatte, drehte sie zu Ende, als der Regisseur erkrankte. Und bei Nicholas Rays „On Dangerous Ground“, nach dem diese Kolumne benannt ist, sie spielte die Hauptrolle neben Robert Ryan, wird sie häufig als Co-Regisseurin genannt, weil sie auch hier den erkrankten Ray vertrat. Bei vier dieser sieben Filme ist sie Co-Autorin, und so lässt sich aus diesen Filmen, entstanden in wenigen Jahren, ein recht präzises Bild ihrer Arbeit machen. Vor allem waren es ihre Themen, die einen direkteren Zugang zu Gesellschaft und Individuum suchten, als das in den Jahren um die Dekadenwende 1940er und 1950er üblich war. Die Probleme ihrer Protagonisten und Protagonistinnen nehmen den Style raus aus dem Noir, dem sie sich ganz sicher verwandt fühlte, aber sie situieren ihr Kino in anderem Rahmen. Ideen und Bilder von Alltag finden sich in „Outrage“, aber auch in anderen Filmen, in „The Bigamist“ zum Beispiel, der einen Handlungsreisenden zeigt, der zwei Ehen führt. Auch in „Outrage“ geht es um Arbeit, um Arbeitsalltag. Walton geht in ein Büro, um dort ihren Job zu verrichten. Wie sie sitzen dort andere Leute über Büchern. Später wird Walton in einer Orangenfarm arbeiten. Wir sehen, wie Kisten mit Früchten gefüllt werden. Walton wird dann auch dort wieder über Büchern sitzen.

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Auch verdächtig: der Blick auf Arbeit

Der Blick auf Arbeit erstaunt, wenn man US-Filme aus jener Zeit sieht. In Genrewerken wurde Erwerbsarbeit meist vereinfacht, um Figuren zu situieren und Drama zum Laufen zu kriegen, das außerhalb der Logiken, Hierarchien und Brutalitäten dieserart Abhängigkeiten funktionierte. Erwerbsarbeit und ihre simple Darstellung war im Zweifelsfall auch links konnotiert und in etwa so verdächtig wie die Idee, einen Film zu drehen, der sich mit Vergewaltigung beschäftigt. Lupinos Zugriff auf das Nicht-Glamouröse führt weitergedacht vielleicht wirklich zu den Umwälzungen, die das europäische Kino ein Jahrzehnt später durchmachen sollte – wobei ihr Blick dann näher am britischen Free Cinema ist, das die Personen über den Raum stellte, als an jenem der französischen Nouvelle Vague, wo das eher umgekehrt sortiert wurde.

Ann Walton verlässt Stadt, Familie und Verlobten nach der Vergewaltigung, die nicht benannt wird. Das Wort rape wird nie ausgesprochen im Film. Sie irrt durch Kalifornien und landet eher unfreiwillig auf einer Orangenfarm, wo sie von wohlmeinenden Menschen offen empfangen wird. Der Geschichte eines Neuanfangs widmet Lupino mehr Zeit als anfangs dem Setting Familie und sich anbahnende Heirat. Der Mann, der sich um sie kümmert, ist ein Berufener, ein Religiöser, nicht willens, eine Liebesbeziehung einzugehen. Vielleicht auch das ein Kompromiss, um dem Code gerecht zu werden. Es hätte anzüglich wirken können (mit das Schlimmste für den Code: suggestiveness!), wenn Lupino ihre Protagonistin zu schnell in eine weitere Verbindung geschickt hätte. Bei einem Firmenfest kommt es dann zu einem weiteren Übergriff. Ein foreman der Farm nähert sich Walton und wird mit jedem Wort und jeder Geste aggressiver. Walton gibt ihm zahlreiche Hinweise, dass sie auf Flirten und Küssen keine Lust hat, und als er nach mehr als einem Dutzend mal „No“ und Don´t“ und Go Away“ und „Leave me alone“ schließlich halb über ihr liegt, greift sie zu einem massiven Werkzeug und zieht es ihm über den Kopf. Dann tut sie, was sie schon zu Beginn des Film tat. Laufen.

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Auch Carla Bley erzählt davon

Gerichtsverhandlung. Freispruch zweiter Klasse. Versöhnliches Ende. Walton verlässt die Farm und kehrt zu ihrer Familie zurück, wo kein Mensch mit klarem Geist sie eigentlich sehen will. „Outrage“ hat eine ganze Reihe von Schwächen, und nicht immer ist ganz klar, wo ihre Wurzeln liegen. Das Budget des Werks dürfte deutlich unter dem eines durchschnittlichen B-Films gelegen haben, was man an manchen Stellen merkt, auch beim acting. The Filmmakers haben es bis ins Jahr 1955 geschafft, als die Produktionsgesellschaft dann am Ende war. Und das, obwohl „Outrage“ zum Beispiel von Howard Hughes´ RKO verliehen worden war – was Lupino zynisch damit begründete, dass Hughes an allem interessiert war, was irgendwie mit Sex zu tun hatte. Nach 1955 setzte sie ihre Arbeit im TV fort, drehte Serienepisoden bis 1968, unter anderem für Alfred Hitchcock. Aber ihre Kinoarbeiten als Regisseurin, Autorin, Produzentin und Schauspielerin sind ein starkes Statement feministischen Filmemachens gewesen, feministischer Kunst generell.

Jede der vielen Versionen von Carla Bleys Song „Ida Lupino“ – geschrieben 1965 für den damaligen Gatten Paul Bley – erzählt davon. Hier ein Beispiel (s.u.).

Max Annas

Outrage; USA 1950; Regie: Ida Lupino; Drehbuch: Ida Lupino, Melvin Wald, Collier Young;  Kamera: Archie Stout; Musik: Paul Sawtell; DarstellerInnen: Mala Powers, Tod Andrews, Robert Clarke, Raymond Bond u.a.; 73 min.

 

Bisher sind in dieser Reihe erschienen:
(7) Fritz Lang: „Fury“
(6) Claude Chabrol: „Nada“ und die Bücher von Jean-Patrick Manchette im Kino.
(5) David Miller: „Executive Action“, nach einem Drehbuch von Dalton Trumbo.
(4) Anthony Mann: „Devil´s Doorway“

(3) Yilmaz Güney: „ACI“
(2) Carlos Saura: „Deprisa, deprisa“
(1) Pietro Germi: „La città si difende“

Offenlegung: Im Rowohlt Taschenbuch Verlag ist am 21. Mai als zweiter Roman von Krimi-Preisträger Max Annas der Thriller „Die Mauer“ herausgekommen. Besprechung in dieser CrimeMag-Ausgabe.

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