
Mit Erinnerungen an alte Zeiten, die ein wenig golden waren, auch bei aller Wehmut …
1
Lauschte Beethovens Harfen-Quartett – und im Waschraum
Rumpelnd mein Trockner. Ach, himmlischer Alltag. Ich kann mich
Nicht erinnern: was habe ich all die Milliarden Jahre davor
Getan? Geträumt? Was? Dieses Universum?
Es scheppert der Trockner am helllichten Tag: ‚klipp, klapp‘.[1]
2
Schauspiel in einem Akt
Basel, ein Kaffee, 2019
Freund: „Diese Torte schafft normalerweise niemand!“
Dichter: „Wow, das Äquivalent eines Neutronensterns, nur aus Schokolade …“
(Seufzer)
Freund: „Die haben sogar da drin noch drei Schwarze Löcher versteckt. TEXT TEXT TEXT … (erschrocken) Wo ist der Kuchen hin? … Man sollte Dich nie unterschätzen.“
(Dichter lächelt selig.)
Ende
3
Entsetzen
Heute auf dem Markt,
Bewegte Bilder, Phänomene,
Geister. Und Geräusche,
Gerüche.
Maskenball.
Ich denke mich sprechen.
Nur ich. Allein. Wessen
Bild bin ich?
4
Theologengespräche in Flensburg
Personen: Marcello und Markus
Orte: Uni-Büro, Restaurant, Küche
„Dein Kühlschrank ist wieder leer.“
„Er frisst nur Strom und kauft nicht von selbst ein!“
„Du solltest ihn entlassen!“
„Ein Dichter lebt nicht nur vom Wort,
sondern auch von Brot und Spaghetti!“
„Du bist der einzige Dichter, den ich kenne,
der mit einem Bein in der Realität steht.“
„Wir können und müssen anderer Meinung sein,
aber wichtig: dass wir abends zusammen Spaghetti essen!“
„Cremini sind das Wirklichkeit gewordene Paradies.“
„Wo ist meine Salami?“
„Ich war hungrig!“
„WAHHHH …“
„Ich habe Angst, dass auf deinem Schreibtisch die
Bücherberge sich tektonisch bewegen – und dich
begraben!“ „Dann muss Italien eben seine Außengrenzen öffnen!“
„Bei uns im Büro ist das kein Problem.“
„Hast du diese Ausschreibung gelesen?“
„Unfassbar viel. Die wollen alles!“
„Das hätte Jesus nicht einmal an seinem besten Tag geschafft.“
„Das Übliche: Ideologische Blindheit und danach
totale Verantwortungslosigkeit.“
„Sie wissen nicht, was die Realität zusammenhält.“
5
Friedlich
Hölderlins Gedichte: leben zu können
Davon, wie von Brot und Wein, das
Dürfen wir, willkommene Gäste bei
Einem Fremden, der uns nahe steht.
6
Aus dem Leben eines Dichters
…, der an einem Mittwoch in Flensburg
Drei Gedichte an XYZ verschickte und vom
Postkasten auf eine Bäckerei zusteuerte, um
Sich mit Kuchen zu stärken. Als alle Wasser,
In Donner und Hagel, vom Himmel brachen,
In das Kaffee liefen, unaufhaltsam, und der Dichter
Seine Straße weggespült auf dem Markt wieder fand,
Und über den Klimawandel nachdachte, der
Ja nicht menschengemacht sei, der ja woanders
Geschehe, den es ja überhaupt nicht gäbe, den ja
Nur Wissenschaftler erfänden.
Künftige Generationen? Gib Ihnen
Unsere Schulden, Plastik im Meer, im Fisch, müssen
Das ausbaden, wörtlich, Gier frisst den Planeten,
Kein Morgen, keine Vision,
Aber wenigstens steigende Aktien?

7
Einsamkeit
Ein altes Weihrauchfass bin ich,
Doch älter dieser Tempel, in dem ich vor mich hin roste.
Die ältesten Wände nur noch aus Wind und Moos, der Boden
Morsch. Kommt aber jeden Morgen
Die Sonne zu Besuch. Und dann wählt
Sie verschiedene Farben aus und manchmal,
Manchmal glänze ich wieder ein wenig.

8
Tristan
Ich lebe für uns
Ein Leben
Alleine
Das wir nie
Lebten zu zweit.
Bist du noch,
Noch hier?
Ich frage, weine –
Und hoffend,
Dir einst zu erzählen.
Wie
Wir waren.
Geträumte
Liebende
Dort
In jenem
Zweiten Leben,
Nicht alleine.
9
Eine Geschichte
Sie liebten sich so viele Tage,
So viele Nächte liebten sie sich,
Eines Morgens – er schlief – zog
Sie die Decke über seinen freien
Oberköper, damit er nicht friere,
Zog sie das Tuch von seinem
Gesicht, um das Antlitz
Noch einmal zu küssen
Des Toten.

10
Als Anfang
Zuerst, als Anfang
Schrieb Joyce seinen Ulysses,
Am Ende stand Homer, mit
Einer sehr gewagten Variante
Von großen Helden und
Größeren Kriegen. Vergil
Schuf Rom, das erst später
Gebaut wurde, in dem er dann
Als historisch belegbarer Dichter
Leben sollte. Aber das war
Belanglos. Ewig das Werk.
Oder anders?
Oder gerade so? Leiden wir
Mit Odysseus, als er
Den Strand betrat (verloren
Die Schiffe, verloren
Die Gefährten):
Den Strand des Zyklopen,
Den der Prinzessin
Oder den seiner einzigen Liebe.
Manchmal haben Dichter
Und Dichterinnen nichts am
Leib als
Eine gute Geschichte.

11
(Ohne Titel)
I
Das Leben haftet an mir wie
Der unwirkliche Körper eines Gespenstes:
Jede Uhrzeit ist für mich Geisterstunde.
II
Ich habe etwas verloren. Was? Weiß
Ich nicht mehr. Bedeutungslos.
Du wirst es vergessen und es wird
Dich vergessen.
12
Wehmut
Eine Wunde im
Herzen: weder ein
Schmetterlingsflügel
Noch eines Gebirges
Schatten könnten
Sie verbergen …
13
Schokolastik
Engel brauchen keine Zahnbürsten,
Der Heilige Geist tanzt Samba auf
Einer Nadelspitze. Das Sein: all
Seine Möglichkeiten. Seiend, ach,
Wir also mutig! Und: Schokolade
Und Espresso sind wirklich
Geniestreiche der Wirklichkeit.

14
Poesie
Abend. An zünde ich eine Kerze.
Ihr Licht
- Las vielleicht heimlich in meinem Tagebuch
- Entdeckte lebendige Meere auf dem Eismond Europa
- Sang vielleicht ein Gedicht von Hölderlin
- Umrundete die Galaxie
- Sah mich morgen dich küssen
Bevor dieser Kerze Licht
Mein Auge
Erreicht haben wird.
15
Wie fängt man Licht ein?
Heute morgen, zufällig:
Zwischen einer Holzwand
Und zwischen Apfelbäumen
Aufgespannt Spinnweben.
Darin Tausende von Tautropfen:
Perlen aus funkelndem Lichte.
Oder man nehme ein
Schwarzes Loch.

16
Die Nacht
(aus: Rig-Veda[2],
freie Übersetzung – mit Variationen)
Nacht kam, sah sich um überall,
Mit tausend Sternenaugen,
Funkelnd, unwirklich schön,
Ein Kleid aus Gestirnen.
Weite Räume,
Höhen, Tiefen auch
Durchschreitest du, Unsterbliche.
Mit dem Licht ferner Sonnen,
Bleibt die Dunkelheit hier
Nicht finster.
Dämm’rung geht
Bei deinem Kommen,
O Nacht.
Finsternis geht,
Wenn deine
Sterne leuchten.
Wenn du dich näherst,
Möchte ich in mein Bett
Kriechen so wie Vögel
In ihre Nester.
Heim gingen die Dörfler,
Heim alles, was Füße,
Heim alles, was Flüge hat,
Und auch die gierigen Aasgeier.
Die Dunkelheit kam wie
Ein Maler mit schwarzer Farbe,
Mach’ hell meine Welt – so
Wie am Monatsende meinen
Kontostand.
Wie ein Hirte abends Rinder,
So sammelte ich Verse für dich,
O Tochter des Himmels,
Gleich einem Siegeslied.
(Auch wenn ich an einem
Computer saß, auch wenn
Ich keine Rinder heimtrieb:
Du bleibst
Meine Nacht, unsterblich,
Unwirklich schön,
Unerreichbar nah und
Meine Sternenmuse.)
17
Wer sagte denn, Kunst
Sei Nachahmung? Picasso
Meinte, so las ich,
Kunst sei Konstrukt.
Aber auch ein Bild
Konstruiert,
Rekonstruiert mich.
Durch Zufall in einem
Kalender das Blatt
Für den September:
Der Park meiner Träume
Und meiner Kindheit:
Die Fasanerie bei
Fulda. Vor noch grünen,
Alten, schweren Bäumen,
Jüngere, die anfangen, sich
Herbstlich zu röten,
Dazwischen eine weiße,
Verwitterte Artemis-Statue,
Was löst das aus?
Kann ich zurück durch
Die Zeit greifen?
Oder wie mich festhalten
An einem Sonnenstrahl
Im September?
Erinnerung an Spaziergänge
Mit Freunden, an
Barocke Musik,
An Dinge, die einfach
Nur schön sind, an eine
Natur, die konstruiert
Wurde, und eine Natur,
Die mich konstruierte.
Es war doch nur das
Künstliche Kalenderblatt
Eines konstruierten
Parks, den eine Kamera
Nachahmte. Ach …
18
Himalaya
Wer hat dich gefaltet,
Diese vielen Hände
Aus Meer und Erde,
Hinauf in den Himmel?
Den Kosmos zu berühren …
Wer schmückte dich mit
Schnee und Göttermythen?
Mein Körper könnte dich
Nie kennenlernen, du
Würdest ihm den Atem
Nehmen oder den Halt
Auf einst vertrautem Boden.
Meine Füße wären mir
Fremd, träumte ich doch
Von Flügeln.
Aber meine Phantasie, so
Schnell, so hoch,
In allem,
Würde sich nie fürchten vor
Deinem Gewitterzorn oder deinen
Gletschern oder vor der
Schwindelerregenden
Nacht,
Die mich zu den
Sternen zöge.
Auf deine höchste Weisheit
Würde ich mit
Einem Gedicht antworten,
Das nur ein Wort
Wäre: Staunen.
19
Nach Heisenberg
Ich sah es und es ward:
Elektron … in meiner Hand,
In meinem Brillenglas,
Im Stück Brot, in den
Manifestationen des
Chlorophylls, der Birken,
Der Vergißmeinnicht.
In Beethovens Klavier …
Wer aber sieht und es wird:
Dies All?

20
Märchenland und Feengewand,
Nebeldunkel und Zwergengemunkel,
Zauberbäume, Hexenträume,
Liebesleid und Totenkleid,
Schlossruine. Wasserturbine …
Und schwups, vorbei ist’s mit der
Romantik.
21
November. Abends
An der Fassade eines
Barocken Schlosses
(Nebel verbirgt
Fast allen Schmuck.)
Leuchten fahl gelbe
Laternen drei, und drei
Grauschwarze Bögen,
Hintereinander,
Abgeschattet, führen
Den Blick auf eine
Statue – unklar, ist es
Athena, ist es Aphrodite?
Einerlei: Weisheit liegt
Wie Liebe genauso
Im Nebel. Doch wegen
Corona kann ich nicht
Mehr diesen Weg gehen,
Um selbst nachzuschauen.
Das ist wie
In der Romantik: der
Weg ist: Nicht mehr
Da, noch nicht
Da, oder
Nie.
22

Abschluss
I
Dessert auf dem T-Shirt,
Kaffee verschüttet,
Kuchenkrümel überall.
Die Götter lächeln –
Und ich mit ihnen.
II
(nach Kierkegaards Entweder – Oder)
Dichter: „Bitte noch ein Glas Nutella.“
Lieferservice: „Groß oder klein?“
Dichter: „Mittel.“
Lieferservice: „Gibt’s nich. Groß oder klein?“
Dichter (dramatisches Schweigen, dann leise): „Groß …“
Lieferservice: „Geht doch!“
[1] Nach der Vorlage Es klappert die Mühle am rauschenden Bach, in: Das große Liederbuch, gesammelt v. A. Diekmann, unter Mitwirkung v. W. Gohl, mit Bildern von T. Ungerer, Zürich 2001, 36.
[2] Nach Rig-Veda X, 127, in: A. A. Macdonell: A Vedic Reader, 17. Aufl., Oxford University Press, 1990, 203-207.
Markus Pohlmeyer, der vor kurzem seinen hundersten Beitrag bei uns vorlegte, bei uns hier. Sein Corona-Zyklus: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6. Seine Shut Down Haikus hier.
Ein Großteil der Illustrationen hier stammt vom Facebook-Account unserer Kolumnistin Iris Boss – mit herzlichem Dank.