Geschrieben am 1. Februar 2021 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2021

Sonja Hartl über Michael Robothams „Schweige still“ und „Fürchte die Schatten“

Für „Schweige still“, den ersten Teil seiner Reihe um den Psychologen Cyrus Haven und Evie Cormack, hat Michael Robotham 2020 den Gold Dagger Award erhalten, im Dezember 2020 ist der zweite Teil in deutscher Übersetzung erschienen. Sonja Hartl hat sich die Reihe angesehen.

Ein Psychologe und ein „gutes“ Mädchen

Der forensische Psychologe Cyrus Haven wird von einem Sozialarbeiter gebeten, sich einen seiner Schützlinge anzusehen: die Teenagerin Evie Cormac, die in der geschlossenen Jugendeinrichtung Langford Hall in Nottingham lebt. Der Sozialarbeiter glaubt, Evie sei ein „Truth Wizard“, eine Person, die erkennen kann, ob jemand die Wahrheit sagt. Cyrus Haven hat darüber seine Dissertation geschrieben, aber das ist es nicht, was letztlich Havens Interesse weckt: Evie Cormac ist auch unter dem Namen Angel Face bekannt. Sie wurde vor sechs Jahren in einem Haus in einer versteckten Kammer gefunden, nachdem der Mieter des Hauses gefoltert und ermordet wurde. Niemand kennt ihren Namen oder ihr Alter, sie selbst sagt, dass sie sich an erinnern könne. Aufgrund festgestellter Verletzungen wird angenommen, sie wurde dort festgehalten und war schwerer sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Aber Evie schweigt. Seit sie gefunden wurde, war sie bei verschiedenen Pflegefamilien und in wechselnden Einrichtungen, aber sie gilt als nicht zu kontrollieren und gewalttätig. Deshalb ist sie in Langford Hall, will aber, dass sie volljährig anerkannt und aus staatlicher Obhut entlassen wird.

Spiegelungen

Es ist ihre Wut, die Cyrus Haven fasziniert – und die er versteht. Als er ein Kind war, wurden seine Eltern und Schwestern von seinem älteren Bruder ermordet. Er hat überlebt, weil er beim Fußballtraining war und sich in einem Schuppen versteckt hatte. Seither lebt er mit der Schuld und Wut des Überlebenden, dagegen glaubt Evie, sie sei durch und durch schlecht und verdorben. Schon diese Beziehung steckt voller Spiegelungen und Doppelungen: beide haben Kindheitstraumata, die es ihnen erschweren, Menschen zu vertrauen. Cyrus hat wenige Vertraute, weiß aber, dass es Menschen gibt, die gut sind. Evie hört immer wieder, Cyrus sei ein „guter Mann“. Aber erstens weiß sie nicht, was das sein soll. Und zweiten kann sie nichts annehmen – auch nichts Gutes – weil sie gelernt, dass es einen Preis hat, den sie nicht bezahlen will. Doch am Anfang des ersten Teils „Schweige still“ entscheidet sie sich Evie weiß nicht, was ein „guter Mann“ sein soll, sie kann nichts Gutes annehmen, weil sie schlichtweg gelernt hat, dass es einen Preis hat, den sie nicht bezahlen will. Nun aber entscheidet sie sich, Havens Angebot anzunehmen und bei ihm als Pflegekind zu leben.

Es ist die Beziehung Evie und Cyrus, die im ersten Teil „Schweige still“ von Michael Robothams Reihe im Mittelpunkt steht. Die vorsichtige Annäherung zweier Menschen, die viel durchgemacht haben und irgendwie weitermachen. Außerdem stimmt die Vermutung des Sozialarbeiters: Evie erkennt, wenn jemand lügt. In „Schweige still“ trägt das aber weit weniger zur Aufklärung des Falls der ermordeten 15-jährigen Jodie Sheehan bei als man vermuten könnte. Die hängt dann doch mehr von Cyrus ab.

Gute Mädchen, schlechte Mädchen

Stattdessen liefert auch Jodie Sheehan eine weitere Spiegelung: sie war eine talentierte Eiskunstläuferin, galt als zukünftige Olympiasiegerin. Dieses Talent bringt Aufmerksamkeit und Ruhm, es zeichnet aus. Evies Talent, Lügen zu erkennen, macht es dagegen fast unmöglich, jemanden zu vertrauen. Sollte aber bekanntwerden, dass sie tatsächlich Lügen erkennen kann – Cyrus zweifelt es erst an, später sieht er es als erwiesen an –, werden die Versuche, Experimente und klinische Studien, zu denen Evie gezwungen wird, niemals aufhören.

Im Original heißt das Buch „Good Girl, Bad Girl“ – und das spielt auf eine weitere Doppelung an: Jodie gilt als gutes Mädchen, aber es stellt sich heraus, dass sie durchaus einige Geheimnisse hatte. Dagegen glaubt Evie zwar, sie sei ein schlechtes Mädchen, tatsächlich aber hatte sie vor allem Pech. Sie sind komplizierte Menschen mit Geheimnissen, zwei talentierte Teenagerinnen, deren Leben verschiedener nicht sein könnten – und deren beider Leben von sexualisierter Gewalt bedroht ist. Während Evie über ihre Erlebnisse schweigt, wird im Laufe der Ermittlungen zu Jodies Ermordung jedem männlichen Verdächtigen vorgeworfen, die Ermordete zu sexuellen Handlungen gezwungen zu haben – bis dann schließlich die Wahrheit herausgefunden wird.

Der Kriminalfall hat einige Wendungen, von denen manche von allzu langer Hand vorbereitet sind, aber er bietet ausreichend spannende Unterhaltung. Es ist jedoch sehr offensichtlich, dass „Schweige still“ der erste Teil einer Reihe ist: Sehr viel Zeit wird der Einführung von Figuren gegeben, so dass neben den Hauptfiguren ein Stamm an Nebenfiguren etabliert wird. Dadurch wird so manches Mal das Tempo verschleppt.

Fortsetzungsschwächen

Weitaus temporeicher beginnt indes der zweite Teil „Fürchte die Schatten“ (OT When she was good), der im Mai 2020 einsetzt. Cyrus Haven hat endlich Sacha Hopewell aufgespürt, die Hilfspolizistin, die Angel Face alias Evie Cormac damals gefunden hat, und erfährt mehr über die damaligen Ereignisse. Obwohl er Evie versprochen hat, ihre Vergangenheit ruhen zu lassen, will er herausfinden, wer Evie damals festgehalten hat und wer sie wirklich ist. In Sacha findet er eine Unterstützerin und potentielles love interest. Beruflich bekommt er es zudem mit dem verdächtigen Selbstmord eines ehemaligen Polizisten zu tun, der sich für einen abgeschlossenen Fall um einen Pädophilen interessiert hat und offenbar auch eine Verbindung zu Angel Face vermutet hat. Damit verbinden sich die Fälle und insbesondere in der ersten Hälfte schnurren die einzelnen Elemente reibungslos zusammen.

Bereits in dieser ersten Hälfte häufen sich die Zusammenfassungen zu den Charakteren. Sie lassen sich aber noch damit erklären, dass es sich hier um einen zweiten Teil handelt, bei dem auch diejenigen mitgenommen werden, die den ersten Teil nicht gelesen oder aber schon wieder vergessen haben. Wenn dann aber jedes Mal aufs Neue kurz erklärt wird, wer die Person ist und in welcher Beziehung sie zu Cyrus resp. Evie stehen, dann es wird zunehmend ärgerlich. Es sollte doch anzunehmen sein, dass die Leser*innen eines 480 Seiten langen Thrillers in der Lage sind, sich an die wenigen wiederkehrenden Figuren zu erinnern. Abgesehen davon ist die Reihe in den wechselnden Perspektiven von Evie und Cyrus erzählt – und ich glaube nicht, dass er jedes Mal daran denkt, dass Jimmy ein alter Freund ist und sich beschwichtigen muss, dass er ihm doch vertrauen kann.

Umgang mit der Vergangenheit

Auch gibt es Wiederholungen in den gedanklichen Diskursen von Cyrus Haven, sich vor allem um Schuld und Unschuld, Gut und Böse drehen. Vermutlich fallen diese Wiederholungen weniger auf, wenn zwischen der Lektüre beider Teile mehr Zeit liegt als bei mir. Erschienen sind sie mit ungefähr einem Jahr Abstand, ich habe sie an aufeinanderfolgenden Tagen gelesen. Wirklich voran kommt Cyrus bei der gedanklichen Bearbeitung dieser großen Themen indes nicht.

Michael Robotham (c) Tony Mott

Dafür taucht „Fürchte die Schatten“ tiefer in Evies Vergangenheit ein und so manches Geheimnis wird gelüftet, es bleibt aber noch ausreichend Stoff für Fortsetzungen. Und das ist auch gut so: Viele Thriller enden mit dem Auffinden einer traumatisierten Person, es geht mehr um die Rettung als ihr Weiterleben. Hier aber entsteht zwischen zwei traumatisierten Figuren eine interessante Dynamik, dank der ich vorhabe, die weiteren Teile der Reihe zu lesen.

Und noch eine Beobachtung zum Schluss: „Fürchte die Schatten“ spielt ab Mai 2020 – und hier ist Robotham die Realität dazwischengekommen. Die Handlung wäre in diesem Zeitraum gar nicht möglich gewesen. Im Nachwort spricht er es selbst an: Der Roman war zu weit fortgeschritten, als dass er Corona noch einbauen konnte. So gibt es lediglich in einer Begrüßungsszene einen Hinweis auf eine eingehaltene Distanz, auf den er aber auch hätte verzichten sollen. Wenn schon weglassen, dann richtig – oder an dem Zeitraum etwas ändern. Die „neue Lebenswelt, die Corona geschaffen hat“ schlägt sich in diesem Text jedenfalls überhaupt nicht nieder.

Michael Robotham: Schweige still (Good Girl, Bad Girl, 2019). Übersetzt von Kristian Lutze. Goldmann, München 2019. 512 Seiten. 15,90 Euro.
Michael Robotham: Fürchte die Schatten (When She Was Good, 2020). Übersetzt von Kristian Lutze. Goldmann, München 2020. 480 Seiten. 16 Euro.

Michael Robotham im CrimeMag: Hier hat Alf Mayer „Erlöse mich“ besprochen und hier „Sag, es tut Dir leid“. Warum ihn verschwundene Kinder beschäftigen, hat Michael Robotham hier erzählt. Seine Webseite findet sich unter diesem Link.

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