Immer diese Töne!
Notizen zu einer Rezension von Sloterdijks „Nach Gott“. Zunächst das Original:
„Das Leitwort der Aufklärung war jene von Immanuel Kant beschworene Mündigkeit, die als Vermögen, sich des eigenen Verstandes ohne die Leitung eines anderes zu bedienen – namentlich in Religionssachen-, definiert wurde.
Nun ist Mündigkeit ein Begriff, den man als psychoanalytisch trainierter Leser von historischen Texten nicht mehr ganz ohne Hintergedanken aufnehmen kann. Ihn einfachhin mit Autonomie oder Selbstbestimmung zu übersetzen wäre eine ungerechtfertigte Naivität – auch wenn diese den Antipsychologen unter den Philosophen vom Fach höchst willkommen wäre. Mündigkeit – dies hört das dritte Ohr von Anfang an – bedeutet ein Phantasma der in die politische Sphäre verlängerten Oralität. Dem Ideal der Mündigkeit liegt die Vorstellung zugrunde, ein Subjekt habe von seinen oralen Kompetenzen, namentlich von der Sprache, so weit Besitz ergriffen, daß es für sich selber – so sogar für die Menschheit in der eigenen Person – das Wort führen kann. In der Idee der Mündigkeit artikuliert sich ein Erziehungsprogramm, das eine Bildungsgeschichte des Mundes vom ersten Schluck bis zum letzten Willen, vom Urschrei bis zur parlamentarischen Rede umspannt. Daher sind die oralen Schicksale des Menschen mit dem Weltlauf moderner Epochen intim verknüpft.
Geschichtsphilosophie ist ihrer Natur nach immer auch Bildungsphilosophie, sofern sie normative Prozesse beschreibt und in Gang setzen hilft, die von der Sprachlosigkeit auf die Höhe der Weltsprache und aus der Hilflosigkeit in die umfassende Selbsthilfe führen sollen. Am Fluchtpunkt der Idee der Mündigkeit steht eine Phantasie von radikaler Selbstversorgung unddefinitiver Abkoppelung vom materiellen wie psychischen Einfluß anderer. Der Sinn von bürgerlicher Erziehung besteht darin, die Individuen so zu beeinflussen, daß in ihnen die Vorstellung aufkommt, sie hätten, unabhängig von jedem Einfluß, immer schon ihre Mündigkeit begehrt.“
Soweit ein Zitat aus dem aktuellen Buch „Nach Gott“ von Peter Sloterdijk.
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Sammelbildchen: Wunderdoktor (um 1600)
Und hier das, was der Rezensent Rudolf Walther in der taz draus macht:
„Als eine Epoche der Beseelung gilt ihm auch die Aufklärung mit ihrem „Ideal der Mündigkeit“. Dabei tritt er allerdings in die Falle der vulgär-etymologischen Scharlatanerie. Er führt das Wort „Mündigkeit“ auf „Mund“ zurück und spricht von Mündigkeit als dem „Phantasma der in die politische Sphäre verlängerten Oralität“ beziehungsweise vom „oralen Substantialismus.“ Er folgt damit seinem Lehrmeister Heidegger, dem Ernst Bloch einmal unterstellte, er würde in seinem etymologischen Furor wohl auch das Wort „ Rose“ vom „Gerösteten“ herleiten.
Mündigkeit ist kein Synonym für Großsprecherei
Mit dem Wort „Mund“ als Gesichtsöffnung haben die Wörter „Vormund“ oder „mundtot“ wie auch der aufklärerische Begriff „Mündigkeit“ gar nichts zu tun. Im Mittel- und Althochdeutschen meinte „munt“ nicht Mund, sondern „Hand“ und „Schutz“; „mündig“ bedeutet demnach „fähig, sich selbst zu schützen und rechtlich zu vertreten“. Das Gegenteil war „mundtot“, also „unfähig, Rechtshandlungen auszuführen“, und nicht etwa „zum Schweigen bringen“, wie der heutige Ausdruck, „jemanden mundtot machen“, suggeriert.
Sloterdijks Versuch, „Mündigkeit“, den zentralen Begriff der Aufklärung, ein Synonym für Autonomie und Selbstbestimmung, als orale Selbstüberschätzung und Großsprecherei zu denunzieren, ist ein Schlag ins Wasser. Die Spekulationen über den Zusammenhang der „oralen Schicksale des Menschen mit dem Weltlauf moderner Epochen“ sind – ganz ohne „drittes Ohr“ des „psychoanalytisch trainierten Lesers“ (Sloterdijk über sich selbst) – als substanzloses Geklingel zu erkennen wie über weite Strecken das ganze Buch.“
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Sorry: die einzige Großsprecherei, die ich hier ausmachen kann, ist das bewußte argumentative Schieflegen des Gesagten durch Rudolf Walther. Er gehört zu den „üblichen Verdächtigen“, die sich beim öffentlichen Schlachten von Sloterdijk seit vielen Jahren (ja Jahrzehnten) regelmäßig an vorderster Front zu Wort melden und keinerlei rethorischen Trick scheuen, um Sloterdijk zu einem philosophischen Hampelmann zu machen.
Ich wollte es mir eigentlich sparen, wieder als PS-Verteidiger aufzutreten, aber weil ich eigentlich nicht PS verteidige, sondern die gute und kluge Schreibe (dazu gehört PS eindeutig!), hier doch diese Notiz: Mündlichkeit ist definitiv nicht gleichzusetzen mit Mündigkeit, aber das, was dem Menschen an Mündlichkeit zugestanden wird in der Oralität seiner Kultur, sagt Entscheidendes über dessen Mündigkeit. Das ist der Zusammenhang den PS hier vordenkt und den Walther deshalb versäumt zu sehen, weil er dem PS ans Leder will und jede kleinste Chance dafür nutzt.
Und zwar in einer Weise, die mich an eine Definition in Pierer’s Universal-Lexikon von 1857 erinnert, als jemand der: „es versteht, sich den Schein von Gelehrsamkeit u. Weisheit zu geben u. durch niedere Mittel die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen sucht, besonders wird darunter ein Quacksalber verstanden, welcher sich durch Marktschreierei ankündigt. Ein literarischer Ch. ist ein Schriftsteller, der ohne gründliche Studien, die Arbeiten Anderer zu Plagiaten benutzt u. die Meinung des Publikums über seine Fähigkeiten u. Leistungen zu täuschen weiß. Daher Charlatanerie, Charlatanismus…“ (Quelle: wikipedia)
Man müßte nur den letzten Satz ein bißchen umschreiben und wir wären bei Herrn Walther: „Ein literarischer Charlatan ist ein Schriftsteller, der ohne gründliche Studien, die Arbeiten Anderer dazu benutzt die Meinung des Publikums über dessen Fähigkeiten und Leistungen zu täuschen.“
Irgendwie trifft das. Herr Walther ist übrigens mit diesem Wortschatz durchaus vertraut, hat er selbst doch Peter Sloterdijk nach dem TV-Aus des philosophischen Quartetts mit einer entsprechenden Schlagzeile verabschiedet: „Ein Scharlatan muß gehen“.
Töne sind das alles. ...
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