Ein Hinterstirnfilm von Mechthild Curtius
Eine schmale Frau im Strickkostüm sitzt in der hintersten Reihe des Warteraums, der sich gegen zehn Uhr immer mehr füllt, mit Menschen und Stimmen vielsprachig, Alt und Jung, Hell und Dunkel. Dicht unter der Fensterreihe vor Bäumen und Regenfäden lauscht sie eher als dass sie schaut, Kopf wie ein Vogel vorgesteckt und leicht seitwärts gelegt, wendet sich zu mir, als ich mich neben sie setze. Sind Sie bald dran. Ist es schlimm? Hier meine Idiosynkrasie ...
Angenehme Pfade am Hang. Jochen Arlt im Gespräch mit dem Übersetzer und Lyrikverleger Rüdiger Fischer.
Von bislang rund 300 Autor/inn/en übertrug er zeitgenössische Gedichte vor allem aus dem Französischen. Hinzu kommen seit Mitte der 1980-er Jahre kaum zählbare Poeme aus dem Italienischen, Griechischen, Englischen. Selbstredend, dass der 69-jährige überdies deutsche Dichtkunst in steter Folge für französischsprachige Zeitschriften übersetzt. ...
Kolumne 44 / Blanka sucht den oder das Lux der Zeit und gerät an den Rand der Tagebuchstaben 2012
Morgens mittags abends Wörter und immer nur als Salat. Mag man’s? Blanka jedenfalls flieht ein Stündchen und sucht den oder das Lux der Zeit. Auf der kurzzeitig vereisten Fläche der Poesie. Mit Taschenlampe und Lupe bewaffnet geht sie vor die Tür und entdeckt eierrunde Hundeexkremente. Schneepfützen und Graues liegen daneben. Blanka schimpft mit dem Zufalle und stopft ihren Blick in eine Sternchendekoration. ...
Weihnachtskartoffelheld
Mein Freund A., der sich schon immer davor gefürchtet hat, in einer Kolumne von mir verwurstet zu werden, hatte mich letztes Jahr gefragt, ob ich am heiligen Abend gegen sechszehn, siebzehn Uhr schon etwas vor hätte. Ich könne mir zwanzig Euro verdienen, meinte er. Was sollte ich vorhaben, zu einer Zeit, da der Baum halbwegs gerade steht, die Geschenke fast alle eingewickelt sind, im Fernsehen „Drei Haselnüsse für Aschenputtel“ läuft, ...
Vogelchrist oder Die Revolution des Allahteilchens / 43/ tnen u arba*ein
Wer glaubt denn schon an den Urknall, wenn es das Gottteilchen gibt? Blanka Beirut jedenfalls nicht. An ihrer Tür steht eine Frau, die einen merkwürdigen Ring trägt, klobig oder üppig, überlegt Blanka angesichts des sektflaschenverschlussartigen Talmidiamanten. Klunkergeflunker. ...
"Weiß grüne Pfirsiche fallen" Hochzeitsreise nach Triest von Mechthild Curtius.
Im "Hotel di Teatro" beim alten Hafen von Triest haben wir vor zehn Jahren gewohnt und die Gassen bergab und bergauf abgesucht in dem Viertel, wo Italo Svevo gewohnt und James Joyce kennengelernt hat, der dort als Sprachlehrer lebte. Meterhoch sind die Hotelzimmer gewesen, Tanzsäle um ein quadratisches Bett, durchgelegen die Matratzen und voller graubrauner Flecken, das Doppelwaschbecken eine Meterspur nur. Nun sind die oberen Etagen zugenagelt, ...
FÜR DEN GEISTESGABENTISCH – Andreas Greve rät ab und zu
Zu Weihnachten darf man Bücher verschenken, die man selber nicht gelesen hat. Diese Erleichterung gilt leider nicht für den, der versprochen hat, sie zu besprechen. In diesem Fall waren und sind das drei Namen aus den Suchbereichen Theater, Satire und Legende. Die beiden ersten – Reza und Gsella – würde ich zwar sehr gerne empfehlen, allerdings nicht just die von mir zu besprechenden Bücher. Das kommt vor, gilt aber nicht für den dritten Fall, bei Benn. Hier gibt es ...
Weihnachtsenge und das tiefe C des dicken Pitter 42/ tnen u arba*ein
Ohne den Nymphensittich ist Blankas Tag liederlich aus Handlungsflicken zusammengesetzt. Oder Gedankenflicken. Die Nachrichten holen auch nur die letzten Tassen aus ihrem Schrank. Ist das wirklich richtig? Gegen die Rechten lässt sich nichts machen? Und ein Scheich mit Migrationshintergrund aus dem Morgenland fordert,...
Inspiration - ein in der Vorweihnachtszeit häufig benutztes, phathosverdächtiges Wort. Ein Geschenk aus Geschwindigkeit und Zeitlupe von Ulrike Draesner.
So geht es nicht. Es geht nicht. Ein Gedicht herzustellen wäre nicht so schwierig: „schreib doch mal ein Sonett“. Bitte sehr. Oder ein anderes Gebilde, das jedenfalls graphisch wie ein Gedicht aussieht. Das Handwerkliche beherrscht man, und doch bleibt das Produkt falsch: es wird nicht mehr als seine Form. Etwas läuft innerlich leer, zumindest für mich, ich würde diesem Gedicht selbst nicht glauben, kein Wort. ...
Schreckenslogik und weißer Donner/ 41/ wahid u arba*ein
Schneesternschwarz die heutige Ruhe vor dem Fenster, denkt Blanka Beirut in der Früh‘ und kämmt dem Nymphensittich das Gefieder in Reih und Buch. Dabei versucht sie ihm nochmal die Logik des Verfassungsschutzes zu erklären. Nazis kriegen Geld für ihre Arbeit und Initiativen gegen Nazis werden geschlossen. Eigentlich ist alles ganz logisch, oder? Warum schreit der Nymphensittich dann so herzzerreißend? Liegt‘s am Kamm? ...
Spinnenweb-Spätsommer von Mechthild Curtius
Sarah Siebenlicht heißt sie und erklärt, dass dieser Name von ihren Großeltern aus Lothringen sei. Auf einem Pferdemarkt haben sie sich kennengelernt. Und die Familie ihres Mannes hat auch einen sprechenden Namen. Boobsde heißen sie auf Oerewällerisch. Pabst ist hochdeutsch. Region Bergstraße -Odenwald. Die Pabst gehören zu den ältesten Familien des Dorfes, bei denen stets ein Sohn dem Vater als Hofbesitzer folgt. Der erste Pabst, Philipp Heinrich, stammte ...
Kolumne 40 : Verfassungsschmutz vor den Toren des Advent/ arbaa’in / November
Auf einer fremden Tastatur mit Fettkrüstchen auf e und r und enter, und zwischen Paketen aus Sojabohnen und roten Linsen schreibt Blanka Beirut Tagebuchstaben, die eigentlich nur aus Licht und babyblauem Westfalenhimmel bestehen sollen. Und Fasanfasern ...
Und wenn ja, wie viele? * Laudatio und einführende Bemerkungen zu dem Roman "Also bin ich" von Jörg Kremers und Gerd Sonntag
Also bin ich" ... betitelt sich der im Pop-Verlag Ludwigsburg erschienene 486 Seiten starke Roman, den ich Ihnen heute näher bringen will. Ich denke, das Buch "Also bin ich" ist eine echte Herausforderung an den Leser, denn der innere Schweinehund will schon getreten sein, bis man sich heutzutage aufmacht, ein halbes Tausend Seiten zu lesen. Auch wenn die Autoren ihre schriftstellerische Identitätssuche - im Parallelgang zu den Protagonisten des Buches ...
ZUM LAUNCH VON NÄHEKURS - Schreibende Paare. Das Jüngste Gericht wird abgesagt. Über Sarah und Rainer Kirschs gemeinsames Debüt von 1965.
Die Literaturgeschichte ist nicht völlig arm an Künstlerpaaren – oft beflügelt den einen Geist die andere Gepoltheit des Gegenübers … durch den Umstand, dass das ungestüme Aggregat der Liebe (sei es, weil sie frisch ist oder eben aus dem Abyss der Obsession kommt) bereits als eine Art Geisteskrankheit gesehn werden darf, ist die Summierung zweier Obsessionen nicht selten ein gewagtes Spiel. Außergewöhnlich erscheint es, dass sich in einem gemeinsamen Projekt diese Obsession ...
Nur noch Text sein - Theresa Hahl in Hamburg
In Hamburg fanden im Oktober die 15. Deutschsprachigen Poetry-Meisterschaften statt. Es sollten die größten der Welt werden. Das hatten sich die Jungs so in den Kopf gesetzt. Und es wurde auch der größte Poetryslam seit der Erfindung dieses Kulturgenres in den USA vor 25 Jahren. Selbst der Erfinder himself fand den Weg von Chicago nach Hamburg und performte vor Ort (außer Konkurrenz). Sein spoken-word-act war teils aufmunternd und anrührend, teils, ja, halt so kitschig und klischeeverhangen wie Amerikaner nun mal sein können, wenn ...
drei lebensweisheiten in vier strophen / oder: wir sind unsere eigenen philosophen
ich kam einmal vorbei an einem alten schrebergarten / da stand ein graugebückter mann gelehnt auf seinen zederspaten / stand wohl schon lang unübergehbar wartend / und schien kein freund von normkonformen redensarten / als habe er ein bisschen weisheit aufgespart denn / wie ich um die ginsterhecke bog / erkannte man was er bezweckte als er auf halber strecke vor mir filigran den finger hob / und nen gedankenstrang aus seiner schläfenecke zog / und sprach: /„an den schnittstellen der wahrheit faltet man oregami / schließ deine augen ...
Kolumne 39 Braune Spuren und Sitzplatzblockierer/ tisaa u talatin/ Oktober
Blanka Beirut fährt mit der Straßenbahnlinie neun durch das in einer scheußlich feuchten Niedrigwolke ohne Schneesterne steckende Zürich. Sie trinkt einen Leckerschluck Becherkaffee, den sie teuer mit fröhlich buntem Geldschein bezahlt hat ...
Schreibende Paare - für jedes Paar ein Kunstwerk eigener Art, die richtige Mischung zwischen Nähe und Distanz zu finden. Ulrike Draesner nähert sich dem Thema.
Mag sein, dass die Zukunft so aussieht: wirklich erfolgreiche Bücher werden keine Bücher mehr sein, sondern „Inhalte“, die simultan auf verschiedenen Medienplattformen laufen, von Spezialisten jeweils zur Lese-, Film-, Game- und Produktstory verarbeitet. Selbstverständlich sind hier nur mehr Teams am Werk, die Notwendigkeit vielfältigster Ideen und der geforderte Dauerausstoß lassen nichts anderes zu. Irgendjemand oder –etwas speist ein Plot- und Eigenschaftsrepertoire ein, das ständig variiert und weiterentwickelt wird. ...
Konsonantenausfall und Innenministereien/ 38/ tamania u talatin/ November
In der Oper gibt es ewige Ruhe, die von Verdi in dieser Woche. Ein bisschen was davon schwebt anscheinend in Blanka Beiruts Handtasche, denn der Nymphensittich schläft dort die ganze Zeit. Ewig ist unheimlich, findet Blanka und vertauscht Buchstaben und ...
Nach Möglichkeit zum Thema.
Im Anschreiben des Oberbürgermeisters von Magdeburg, in dem die Autoren Sachsen-Anhalts zur Mitgestaltung der Landesliteraturtage aufgerufen wurden, stand folgender Satz: „Diese Jubiläums-Literaturtage stehen unter dem Motto ‚Kaiser-Zeit’ und verweisen auf den in Magdeburg geborenen und aufgewachsenen Dramatiker Georg Kaiser, einem der bedeutendsten Theaterautoren des 20. Jahrhunderts“. Das mußte gesagt werden, damit man ihn nicht mit dem ungleich ...
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