Ab heute ständig in CrimeMag – Reading ahead – wir lesen heute schon wichtige Bücher im Original, bei denen wir nicht immer garantieren können, dass es deutsche Übersetzungen geben wird. Aber bitte, liebe Programm-Macher, help yourself.
Neues von Sherlock Homeless
Alf Mayer über „Personal“, Lee Childs Jack Reacher Nr. 19.
Lesestoff, voraus. In lockerer Folge geht es hier um Bücher, für die es absehbar (zu) lange braucht, bis sie übersetzt sind oder überhaupt einen deutschen Verlag gefunden haben. Vorgestellt wurden in diesem Sinne hier schon Robert Littells „Nasty Piece of Work“, Robert Wilsons „You Will Never Find Me“ (erscheint bei uns als „Ihr findet mich nie“ am 29.09. bei Page & Turner), Kem Nunns „Chance“, R.J. Ellorys „A Quiet Belief in Angels“, Charles Bowdens „Murder City: Ciudad Juarez“ und zwei Mal schon Lee Child mit „Never Go Back“ und „Jack Reachers Rules“. (Links dazu siehe ganz unten.)
Auf Stephen-Hunter-Territorium, dem Terrain des Königs der Scharfschützen-Thriller, ist Lee Child diesmal unterwegs, was die tradecraft angeht, lupenreiner als in „Sniper“ (One Shot), das die Vorlage zum achtbaren Tom-Cruise-Vehikel lieferte (siehe CM-Kritik). Wie sicher Lee Child sich in seinem inzwischen neunzehnten Jack-Reacher-Roman fühlt, mag man daran sehen, dass der erste Präzisionsschuss in Paris fällt – Entfernung 1273 m – und dem französischen Präsidenten gilt. Forsyths „Schakal“ lässt grüßen. (CM-Links zu Hunter und Forsyth ebenfalls ganz unten.)
Wie in Stephen Hunters „I, Sniper“ ist es letztendlich ein Stück (fiktiver) Technologie, mit der sich das Rädchen im Stellungskrieg der internationalen Attentäter und Gegenattentäter weiterdreht. Bei Hunter ging es um eine digitale Zieloptik, die unmöglich genaue Schüsse erlaubte. Eine Jane Fonda ähnliche Figur und andere liberale Medienfiguren wurden damit abgeräumt, die Schuld Hunters Helden in die Schuhe geschoben wurden, der sich gekonnt zu wehren wusste. Bei Child fragt Jack Reacher jetzt nicht umsonst immer wieder nach diesem ultraneuen Panzerglas, es hat damit dann eine weitreichende und persönliche Bewandtnis.
Kein Wort zu Susan Turner
Persönlich soll es zugehen, verspricht der Titel. Zuerst einmal muss gesagt werden, dass nicht mit einem einzigen Wort mehr von Major Susan Turner die Rede ist, jene Stimme am Telefon, seine Nachfolgerin bei der Militärpolizei in Virginia, auf die Reacher sich drei Bücher lang quer durch Amerika zu bewegte, ehe es in „Never Go Back“ zu einer heftig-hitzig-witzigen Begegnung kam, die jeder screwball comedy Ehre macht (hier geht es zur CM-Vorschau). Deutsche Leser müssen darauf immer noch warten. Die Jack-Reacher-Romane liegen, obwohl der Blanvalet-Verlag einen Zacken zugelegt hat, übersetzungsmäßig schwer zurück: „Wespennest“ (Worth Dying For), Band 2 der Susan-Turner-Tetralogie, erschien bei uns im April 2014. Noch stehen aus die mit Susan nicht befasste Rückblende „The Affair“ (2011), Reachers letzter Fall in der Armee, dann „A Wanted Man“ (2012) und „Never Go Back“ (2013). Alle vier Susan-Turner-Bücher sind in der dritten Person erzählt, „Personal“ in der ersten.
In der Serie steht es damit insgesamt 13:6 für Er zu Ich. Ich finde, dem wenig fackelnden Zugriff Reachers auf Welt und Umstände steht die „Er“-Perspektive besser als das doch eher zu Zimperlichkeiten neigende, introvertierte „Ich“. Immerhin bleibt uns in „Personal“ mit dieser Erzählperspektive jeglicher love interest und schnelle Sex erspart. Zwar gibt es eine etwa gleichaltrige CIA-Einsatzleiterin namens Joan Scarangelo, im CIA-Speak eine D-DDO, einen „deputy director of operations“, mit guten Heels, dunklen Nylons, silberschimmernd schwarzem Haar und gehörig Selbstbewusstsein, aber in diesem Thriller geht es letztlich ganz wörtlich um die Maxime: „You don’t fuck with the CIA.“
Waterboarding ist außer Mode
Persönlich, suggeriert uns eines der Suspense-Elemente des neuen Romans, sei dieser Fall für Reacher, weil er in der Army vor 16 Jahren eine Mitarbeiterin unter grausamen Umständen verlor und der Scharfschütze davon weiß. Reachers neuer Begleiterin, der 28-jährigen Analystin Casey, soll nicht das Gleiche widerfahren. Bei mir hat das als Spannungsmoment nicht ganz verfangen, weil Reacher a) ein kaltblütiger Hund ist, b) seine Traumata im Griff hat, c) Casey kein erotisches Objekt für Reacher ist und d) solche Offensichtlichkeiten einen halbwegs gewieften Reacher-Leser nicht zum Nägelbeißen verleiten. Auch die Rechenaufgaben, für die der Numerologie- und Mathe-Freak Reacher bekannt ist, beschränken sich dieses Mal eher auf das kleine Einmaleins. Beispiel: Solch einen guten Schützen wie den von Paris gibt es höchstens fünf je Generation, einen bei den SEALS, zwei Marines, zwei bei der Army, die vier bedeutsamen Militärstaaten dazugezählt geht es also um maximal 25 internationale Schützen, die es in Paris gewesen sein könnten. Alibis und Deduktion dezimieren das schnell, alles steuert auf „amerikanische Kugel, amerikanischer Schütze“ zu. Das vermutete Ziel: der G 8 Gipfel nahe London.
Dem in USA lebenden Briten Lee Child gibt das den Vorwand, Paris zu verlassen, wo er für seine mit Gehirnspritzern befleckte Jacke eh keinen Ersatz fand („This is France. Nothing in the stores is going to fit me.“) und für allerlei freche Bemerkungen über England, über Politiker und ihre Inszenierungen im Rampenlicht. „Mit einem Scharfschützen da draußen“ freilich sieht so eine Schlosstreppe für das große Gipfelfoto schon anders aus. Wir erfahren auch, was es mit dem Zelt auf sich hat, das wir da immer von solchen Gipfeln sehen. Das politische Update ist ganz 2014: „Waterboarding is out of fashion at the moment“, wird unter Agenten gefrozzelt, Reacher ist inoffiziell-offiziell Mitarbeiter der CIA und damit der Weltsicherheit. Beim Abhören und Überwachen gibt es britisch-amerikanische Sport- und Technikkonkurrenz. Zu einem englischen Kollegen sagt er: „You must be listening to the whole world.“ Die drei gefährlichsten Worte heutzutage, lernen wir, sind: „Someone else knows.“
Ein Nahkampfgegner aus Neandertal
Reachers alter Kommandeur wirkt archaisch, wenn er fordert: „I want you to bring me their ears“, als ginge es in den Dschungel von Vietnam. Reacher weiß, er ist nur Köder in einem größeren Spiel, bestenfalls „Sherlock Homeless“, wie ebenjener Altvordere ihn einmal nennt.
Einem wunderbar choreographiertem Nahkampf in einer engen Hütte folgt dieses Mal ein Showdown mit einem selbst vom großen Reacher als Giganten angesehenen Gegner namens Little Joey („He looked like a Neanderthal waxwork in a museum“). Reacher erledigt das fast zu schnell, dann aber spielt das entsprechend vergrößerte Haus von Little Joey noch eine hübsche Rolle. Anders als bei Stephen Hunters digitalisiertem Gadget hat Reacher Probleme, seine Zieloptik, vulgo: seine Augen, auf die grotesk veränderten Proportionen einzustellen. Das eigentlich Persönliche beantwortet sich ganz zum Ende auf eine sehr böse Weise. Wie Reacher sich das immer wünschte, bekommt da jemand eine Kugel in den Kopf, posthum drei Medaillen und eine nach ihm benannte Autobahnbrücke. Egal, dass das Rinnsal, über das sie führt, meist trocken bleibt.
Besonders schön fand ich den Ausflug an das Grab von Reachers Mutter und die Klammer mit der „Army News“, jener Armee-Zeitung, die Reacher am Anfang und am Ende in einem Überlandbus findet. Lee Child hat den Bogen raus, wie er seinen Lesern den Puls beschleunigt, die grauen Zellen anregt und das Lächeln nicht zu kurz kommen lässt. Bei nun 19 Thrillern seit 1997, gestartet mit „Killing Floor“ (Größenwahn), ist „Personal“ nicht der beste Lee Child – für mich ist das „Never Go Back“ –, aber jeder Jack Reacher ist um Meilen besser als 98 Prozent der laufenden Thrillerproduktion.
Apropos: 1273 Meter sind eine weite, aber keineswegs eine fiktionale Entfernung. Wesentlich weitere Schüsse sind verbürgt. Ich selbst traf auf der einzigen deutschen „longshot shooting range“ – mit einem auf diese Distanz eingeschossenen finnischen Gewehr – ohne Probleme auf 1206 m. Als Amateur. Über ein ganzes Tal hinweg, war das eine Kopfsilhouette auf der gegenüberliegenden Kuppe.
Übrigens: „Targets“, die Fotoausstellung von Herlinde Kölbl über Zielscheiben und damit die Entkörperlichung des Krieges, gibt es noch bis zum 5. Oktober 2014 im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Hier geht es zur CM-Besprechung.
Alf Mayer
Lee Child: Personal. A Jack Reacher Novel. 354 Seiten. Seit 2. 9. 2014 bei Delacorte Press, New York, und seit 28.8. 2014 bei Bantam Press, London.
Zum Autor und seinen Büchern bei Bantam Press und Blanvalet. Mehr zu Jack Reacher bei CrimeMag hier, hier und hier sowie bei kaliber.38. Zur Homepage von Lee Child.Hier die CM-Links zu den bisher voraus gelesen Büchern:
Robert Littell: A Nasty Piece of Work (2013)
Kem Nunn: Chance (2013)
Robert Wilson: You Will Never Finde Me (2014)
R. J. Ellory: A Quiet Belief in Angels (2007)
Murder City: Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Ground (2010)
Lee Child: Jack Reacher’s Rules (2012)
Lee Child: Never Go Back (2013)Das Stephen-Hunter-Porträt findet sich hier: Teil eins und zwei. In der daraus erwachsenen „Kulturgeschichte des Scharfschützen“ wird auf Frederick Forsyths „Der Schakal“ ausführlich im Teil 6 eingegangen: „Den Lauf der Welt mit einer Kugel ändern“.