www.dichtung-digital.com/2001/11/30-Wettbewerb

Wettbewerb Literatur.digital 2001
Autoren und Beiträge
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AutorInnen:

Ursula Menzer, Sabine Orth

Beitrag:

ER/SIE (Review)

Antworten von:

Ursula Menzer



Was ist die Spezifik deines Beitrags als ein Beispiel für digitale Literatur?

Von der poetischen Sprachuntersuchung zum medialen Projekt: Die Internet-Installation, bzw. die multimediale Präsentation meiner poetischen Sprachuntersuchung in Gestalt von Seh-Texten mit dem Titel ER/SIE bildet den Schlußpunkt - und gewissermaßen auch den Höhepunkt - einer Reihe medialer Transformationen, in denen ich verschiedene Aspekte des Themas entfalten, differenzierte ästhetische Mittel und Darstellungsweisen ausprobieren, sowie neue Einsichten in medial-formale Zusammenhänge gewinnen konnte (work in progress).

Die Reihe der Transformationen: Ausstellung, Buch, Fax-Aktivität, Lese-Performance wurde komplettiert durch ER/SIE digital. Jede Phase war in ihrer Weise für mich inspirativ, in jeder Phase produzierte ich neue Texte.

Die Besonderheit der multimedialen Präsentation von ER/SIE ist die Priorität des Sprachlichen, die das Konzept von Literatur im genuinen Sinne ernst nimmt und auf Anreicherungen durch Bilder verzichtet; die selbstverständliche Dominanz des Textlichen, ohne dass genötigt würde, größere Passagen linear durchlesen zu müssen (was am Screen einfach nicht gut funktioniert; Fußnoten bieten bei Wunsch jedoch Einblicke in umfangreicheres Textmaterial, sowie Zusatzinformationen); durch die formale Reduktion auf Schwarz und Weiss, die an den Ausgangspunkt des Projekts zurückbindet (positivistische Untersuchungen, Findungen / Archivierungen / Dichtungen; schwarzer Druck auf weißes Papier); Unterstützung durch dynamisierte Visualisierung (Animation der Typographie) und Töne (Geräusche / Musik / Lesung).

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Wie kamst du zum Schreiben digitaler Literatur? Und wie verhalten sich für dich dabei dessen verschiedene Sprachen - Wort, Programmierung, Bild - zueinander?

Der Wunsch nach Dynamisierung: Seh-Texte und Flash. Wer Erfahrung mit dem Schreiben von Seh-Texten/Konkreter Poesie gemacht hat, versteht wahrscheinlich meinen Wunsch, die Texte in Bewegung zu versetzen; z. B. um Bedeutungen vertiefen, inhaltliche Komponenten, formale Entsprechungen präzisieren zu können. In meiner Poetik-Vorlesung zur "Genese des ER/SIE-Projekts", 1998, sprach ich von diesem Wunsch und davon, dass das Internet mit seinen neuen - damals gleichwohl noch viel unentwickelteren - ästhetischen Möglichkeiten einen Reiz und ein Versprechen für mich darstellte, die Dynamisierung der Seh-Texte zu realisieren.

Zweieinhalb Jahre später begann die Umsetzung des Konzepts mit der Screendesignerin Sabine Orth, die HTML/Flash souverän beherrschte, eine gut funktionierende Navigation entwarf und eine besondere Begabung für Soundunterstützung mitbrachte.

Die Teilnahme am Wettbewerb war eher zufällig: bedingt durch die annähernde Beendigung und den Anlaß, tatsächlich einen Schlußpunkt unter das Projekt zu setzen.

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Welche Erfahrungen hast du bei der Produktion digitaler Literatur gemacht? Wo siehst du die entscheidenden Herausforderungen? Wo lauern die Gefahren?

Arbeitsteilung: Dichtung versus technische Umsetzung: Die Multimedia-Präsentation von ER/SIE ist in Arbeitsteilung zwischen Dichterin und Screendesignerin/Programmiererin entstanden. ER/SIE bestand bereits als Text bzw. als gedrucktes Buch und war überdies als Konzept für eine Multimedia- bzw. Internet-Präsentation in Grundzügen vorbereitet, als die Screendesignerin / Programmiererin in das Projekt einstieg. Sie hatte also die Aufgabe, den Text zu durchdringen und die Absichten der Autorin mittels HTML/Flash in das neue Medium umzusetzen, wobei Ideen der Screendesignerin offen aufgenommen wurden: gegenseitige Inspirationen vermehren die Freude am gemeinsamen Projekt; Synergie verbessert das Ergebnis.

Als wesentliche Voraussetzungen für ein gemeinsames, synergetisches Projekt (nicht im Verständnis einer lediglich additiven Kollaboration) erwiesen sich: eine gute Regie; ein ähnliches Gleichmaß der Differenzierung; kommunizierbare ästhetische Auffassungen, die in abgestimmte Durchführungen münden. Sind diese Voraussetzungen nicht vorhanden oder gibt es keinen Konsens, setzen elementare Probleme ein, die auch zu schwächeren ästhetischen Lösungen führen.

Am Beispiel ER/SIE wird deutlich, dass digitalisierte Literatur nicht nur ein modischer Gag ist, sondern durchaus an den Relevanzstrukturen eines Textes ansetzen kann. Daran in Zukunft weiterzuarbeiten, wäre ein Interesse von mir. Die Arbeitsteilung bzw. Abhängigkeit von Programmierern allerdings könnte problematisch werden, wenn diese nicht den Ehrgeiz haben, sich als erstklassige Handwerker einzusetzen, sondern sich als Künstler verstehen (wobei sich freie Künstler ohne weiteres multimedialer Mittel oder Funktionen des webs bedienen können).

Die entscheidenden Herausforderungen digitalisierter Literatur finden dort statt, wo sich stilistische Ansprüche und Rigorositäten gegen den Druck des technisch Machbaren durchhalten; z. B. nicht Bilder/Illustrationen die literarische Produktion dominieren und die Sprachebene unterlaufen. Die Bilderflut - auch in der digitalisierten Literatur - sehe ich als Problem; strengere ästhetische Maßstäbe bedeuten jedoch - wie überall - den mainstream zu verlassen; jenseits dessen aber wird es erst interessant (s. Avantgarde-Konzepte; experimentelle Literatur). Der Inhalt und seine formale Korrespondenz sind wichtig - nicht vordergründige technische Raffinessen - und vor allem sollte die Aufbereitung den Anspruch realisieren, medien-, d.h. webgerecht zu sein. Was nicht automatisch heisst, dass alle vorhandenen Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen.

Interaktivität z. B. ist nicht unbedingt eine der interessantesten Funktionen literarischer Texte; Aufhebung der Linearität dagegen eher.

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Wie siehst du die Zukunft der digitalen Literatur und wie siehst du sie für dich speziell?

Digitalisierte Literatur als Autoren-Literatur: Wichtig für die Definition digitalisierter Literatur (nicht digitaler Literatur) wäre, dass es sich tatsächlich und im eigentlichen Sinne um Autoren-Literatur handelt, d. h. dass ScreendesignerInnen/ProgrammiererInnen mit AutorInnen zusammenarbeiten und sich nicht umstandslos einen Text unterwerfen und nach Belieben damit verfahren (auch eine Frage des Copyrights; Designer-Literatur?). Wobei ich mir selbstverständlich vorstellen kann, dass z. B. Computerspiele nach literarischen Vorlagen erstellt werden (Parallele: Literaturverfilmungen). Wobei diese Produktionen selbstverständlich nicht dem Begriff digitalisierter Literatur im Sinne digitalisierter AutorInnen-Literatur entsprechen würden.

Digitalisierte Literatur wird m. E. nur eine ernstzunehmende Zukunft haben, wenn sie formal anspruchsvolle Kriterien mit den Möglichkeiten forcierter poetischer Intention verbindet. Sonst wird sie wahrscheinlich publiblikumswirksam werden/bleiben - vergleichbar den Musicals oder der Werbung -, ästhetisch jedoch in Bedeutungslosigkeit versinken. Wichtig wäre, die Bedeutung hochklassiger, digitalisierter Literatur für Fördereinrichtungen, Stiftungen, Verlage, Vermittlungsinstanzen etc. zu verdeutlichen, bevor die Verramschung der Poesie das Medium Internet für dieses Genre diskreditiert. Vielleicht ist das Netz aber generell eher ein Medium, das zu Trash tendiert. Das wird sich zeigen.

Als Autorin zählt für mich zunächst der Text. Doch nicht jeder Text ist für das Internet bzw. für multimediale Präsentation geeignet. Was es bedeutet, unpassende Text ins web zwängen zu wollen, lässt sich an manchen traurigen - weil nicht webgerechten - Ergebnissen ablesen: langweilige und unangemessene Darbietungen - auch einiger Verlage mit ihren Autoren. Zwar AutorInnen-Literatur, aber keine digitalisierte Literatur; auch wenn sie im web steht. Aber es gibt auch aufregende und total interessante Dinge. Weiter zu lernen und zu experimentieren ist äußerst spannend; die differenzierte Beziehung von Text und Medium weiter zu untersuchen, scheint mir vielversprechend. Coproduktionen: sehr inspirierend; gerne Angebote und Vorschläge.

Wichtig: Entwicklung unterstützender Software für AutorInnen, Theoretische Arbeit; Begriffsklärungen: Netzliteratur; digitale bzw. digitalisierte Literatur als AutorInnenliteratur; e-poetry, Multimedia-Literatur; literarische Computerspiele etc.

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