"Rosenkohlschnauze"
Unter dieser Überschrift besprach unlängst Oliver Jungen in der FAZ die Gesamtausgabe von Hanns Dieter Hüschs Literarischen Texten, von der mittlerweile bereits drei Bände in der edition día erschienen sind, mit kritisch poetischem Material, das Hüsch seit je eine Art Sonderstellung im Kabarett gegeben hat:
„Im Innern dieser hochironischen Texte, fast verborgen unter all den Bezugnahmen, leuchtet einen rein und zart die Komik des an der Sinnfreiheit der Welt verzweifelnden Sinnwesens Mensch an: "Und Hagenbuch / Habe gerufen / Er wolle weder an einen Barren gekettet / Noch an ein Reck / Im Trainingsanzug/ Sein Leben beenden / Er wolle dann lieber jahrelang/ Auf einen Punkt sehen / Aber wenn es sein müsse / Schreie er auch das ganze Abendland zusammen / Damit man ihm zu Hilfe komme." Kann es ein treffenderes Bild für den modernen Menschen geben? So willensstark wie hilflos starrt er jahrelang auf einen Punkt. Hanns Dieter Hüsch hat ihn - ecce homo, nackt und blutend - wieder und wieder umrundet. Er hat seine Ängste durchschaut, seine Lächerlichkeit gefeiert und seine Selbstüberschätzung ins Bockshorn gejagt. Der Erzähler selbst tritt uns als derart Verlorener entgegen, aber auch - der Mehrstimmigkeit der Texte sei Dank - als dessen Gegenteil und dann wieder als Gegenteil des Gegenteils: "Sokratisch nennt man dat / Ich mein in den besseren Kreisen." So spricht ein wahrer Volksphilosoph, den es wiederzuentdecken gilt.“
ICH SING FÜR DIE VERRÜCKTEN
Ich sing für die Verrückten, die seitlich Umgeknickten
Die eines Tags nach vorne fallen und unbemerkt von allen
An ihrem Tisch in Küchen sitzen und keiner Weltanschauung nützen
Die tagelang durch Städte streifen und die Geschichte nicht begreifenDie sich vom Kirchturm stürzen, die Welt noch mit Gelächter würzen
Und für den Tod beizeiten, sich selbst die Glocken läuten
Die an den Imbißtheken hängen, sich weder vor- noch rückwärtsdrängen
Und still die Tagessuppe essen, dann alles wieder schnell vergessenDie mit den Zügen sich beeilen, um nirgendwo zu lang zu weilen
Die jeden Abschied aus der Nähe kennen, weil sie das Leben Abschied nennen
Die auf den Schiffen sich verdingen und mit den Kindern Lieder singen
Die suchen und die niemals finden und nachts vom Erdboden verschwindenDie Wärter stehen schon bereit mit Jacken, um werkgerecht die Irrenden zu packen
Die freundlich auf den Dächern springen - für diese Leute will ich singenDie in den großen Wüsten sterben, den Schädel schon in tausend Scherben
Der Sand verwischt bald alle Spuren, das Nichts läuft schon auf vollen Touren
Die sich durchs rohe Dickicht schieben, vom Wahnsinn wund und krank gerieben
Die durch den Urwald aller Seelen blicken, den ganzen Schwindel auf dem RückenIch sing für die Verrückten, die seitlich Umgeknickten
Die eines Tags nach vorne fallen und unbemerkt von allen
Sich aus der Schöpfung schleichen, weil Trost und Kraft nicht reichen
Und einfach die Geschichte überspringen - für diese Leute will ich singen
"Hüsch ist der einzige Lyriker unter den deutschen Kabarettisten. Andere Kabarettisten machen Verse fürs Kabarett - Hüsch macht Kabarett für seine Verse. Wäre er schärfer und modernistischer, er wäre Enzensberger - wäre er altmodischer und idyllischer, wäre er Ringelnatz. Vor der Schärfe bewahrt ihn die Melancholie, vor dem Idyll der Intellekt: So ist er eine besondere Art von Lyriker, ein Anti-Kabarettist." [Quelle: Karl Günter Simon, Theater heute]
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Das Hüsch-Gedicht "Bedenkt" aus der SR-TV-Produktion "Niemandsland des Lächelns" von und mit H.D. Hüsch, Regie: A.C. Weiland, 1962
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