Eine seltene und vergessene deutsche Schultutopie von 1907 nach 100 Jahren mit den 30 Originalillustrationen , Einleitung, Nachwort, Biographie und Bibliograpzhie in 100 Exemplarennummeriert und handsigniert als Faksimile neu herausgegeben von Detlef Münch
D-44421 Dortmund (Postfach 500163): synergen-Verlag 2007 141 S. _ 24,80
Der Autor dieser seltenen Utopie, nur drei Sammler sollen Exemplare besitzen, darunter Wolfgang Thadewald, der sein Exemplar für diese Reproduktion zur Verfügung gestellt hat, war Lehrer und veröffentlichte auch zahlreiche Schulbücher. In der Rahmenhandlung wird vom Besitzer der "Schweigmühle", Herrn Wunderlich, erzählt, in dessen Familie sich ein paar uralte Stiefeln vererbt haben, die es ihren Besitzern ermöglichen, die Zukunft vorauszusehen, Recht interessant wird ausgeführt, wie diese Warnungen nicht immer ernst genommen wurden, sehr zum Schaden der Gemeinde, welche die Schweigmüller helfen wollten und so auch im Dreißigjährigen Krieg vor der Brandschatzung durch Schweden bewahrten. Münch bezieht sich auf Andersens Märchen von den Galoschen des Glücks, aber eher denkt man an ein anderes Märchen, das von den Siebenmeilen-Stiefeln, nur dass hier die Stiefeln nicht im Raum, sondern in der Zeit befördern, in Riesenschritten von fünfzig Jahren. Die Stiefel sind auch mit einem Hörrohr und einem Spiegel verbunden, mittels denen man sich mit den Menschen der Zukunft verständigen kann. Wunderlich reist mit seinen Stiefeln mehrmals 500 Jahre in die Zukunft, ins Jahr 2407, und zeichnet seine Erlebnisse auf, die er dann seinem Freund Schuler zukommen lässt. Für ihn endet die Sache nicht glücklich, denn einmal hat er vergessen, seinen Raum abzuschließen und wird überrascht, wie er anscheinend on den Spiegel guckend Selbstgespräche führt und wird von seinem Hausarzt, dem sarkastisch gezeichneten Dr. Himbeer (der nur zwei Mittel kennt, Himbeersaft für die Kinder, Rizinusöl für die Erwachsenen) ins Irrenhaus eingeliefert.
Der Autor zeichnet ein düsteres Bild des Schulwesens seiner Zeit, das engstirnig ist, aufs Pauken und Auswendiglernen ausgerichtet und die Macht von Krone und Kirche befestigen soll, ohne auf das Wohl der Kinder Rücksicht zu nehmen. Er führt in Fußnoten Fälle von fortschrittlichen Pädagogen an, die wegen ihrer fortschrittlichen Ideen schikaniert und aus dem Schuldienst gedrängt wurden. Und während Behörden oder kaiserliche Verwalter für Fischteiche, "Lawn tennis-Plätze" oder Kaisers Geburtstage Geld in Hülle und Fülle zur Verfügung hatten, wurden den Lehrern selbst Mittel für Kreide oder Schwämme nicht bewilligt oder Schulzimmer nicht beheizt, obwohl Holz gratis zur Verfügung gestanden wäre, weil kein Geld für den Transport ausgegeben werden sollte. Lehrer mussten nötige Unterrichtsmittel aus der eigenen Tasche bezahlen, manche wurden für ihre Verbesserungsvorschläge oder Beschwerden sogar gerichtlich verurteilt. Ganz anders die Welt der Zukunft. Die Schulen sind hell und freundlich, die Lehrer sind die besten Fachleute, weil man erkannt hat, wie wichtig die Kinder für den Fortschritt künftiger Generationen sind, das Lehren erfolgt spielerisch, ohne Zwang, es gibt keine geisttötenden Schönschreibübungen mehr, das Rechnen erfolgt praxisbezogen mit denselben Maschinen, die im Wirtschaftsleben verwendet werden, kein stumpfsinniges Bruchrechnen mehr, das niemand in der Praxis braucht. Früh werden die Kinder in die wirtschaftliche Praxis eingebunden, arbeiten in echten Firmen mit. Es gibt die modernsten Lehrmittel, Fernseher ermöglichen es, jeden geographischen Ort ins Klassenzimmer zu holen und den Unterricht anschaulich zu gestalten. Für den Naturkundeunterricht gibt es die besten Präparate, und dreidimensionale Modelle des Sonnensystems, in denen sich die Schüler frei bewegen können. Die Hälfte des Unterrichts wird auf Reisen verbracht, die jungen Leute können die Orte und Länder, von denen sie erfahren, aus eigener Anschauung kennen lernen, Luftschiffe bringen sie überall hin, ganze Ballonzüge verkehren zum Nordpol, und sie werden über die betreffenden Länder von Personen unterrichtet, die von dort stammen. Die Mittel für diesen großzügigen Unterricht stammen aus der Abschaffung des Militarismus. Abgeschafft sind auch alle Titel, Orden, Ehrenbezeichnungen, es gibt keine Standesunterschiede von hoch und niedrig mehr, keinen Adels- und Fürstenkult, kein Duckmäusertum. Der Autor tritt entschieden gegen die klerikale Einengung in Dingen des Unterrichts auf. Im künftigen Unterrichtswesen stehen die Frauen gleichberechtigt neben den Männern.
Zu den technischen Neuerungen der Zukunft gehört das Fernsehen, es gibt auch keine Zeitungen mehr, nur ein zentrales Pressewesen, die Nachrichten werden überall in der Welt in "Bildrahmen" sichtbar gemacht und können allerorten abberufen werden. Bildtelephonie ist in Gebrauch, und außer der entwickelten Luftfahrt mit Ballons und "Selbstfliegern" gibt es auch Schiffe, die je nach Bedarf über oder unter Wasser fahren können. Versuche, mit den Marsmenschen, deren Existenz erwiesen ist, in Verbindung zu treten, sind bislang erfolglos geblieben, weil die Marsmenschen auf Kommunikationsversuche nicht reagiert haben. Die Zukunft hat aber auch Nachteile, die vom Autor vielleicht nicht als solche gesehen werden: der Regenwald am Amazonas ist bis auf kümmerliche Reste verschwunden, und viele Tierarten sind ausgestorben, so Elephanten und Löwen. Auch der deutsche Nadelwald ist vom Untergang bedroht, was jedoch nicht weiter thematisiert wird.
Erstaunlich an dieser Schulutopie ist die scharfe Kritik des Autors an den schulischen Erziehungsmethoden im wilhelminischen Deutschland, seine heftige Verurteilung von Untertanengeist und klerikaler Bevormundung und sein Eintreten für eine Erziehung, welche die Persönlichkeit der jungen Menschen nicht vergewaltigt und ihnen eine spielerisches Aneignen von Wissen ermöglicht, ohne den sinnlosen Ballast, der in der Zeit als unumgänglich für die Erziehung galt. Der Autor handelt den an sich trockenen Stoff mit beträchtlichem Witz ab.
04. Mai. 2007 -