Biographien per se sind schon eine schwierige Angelegenheit. Das Leben einer Persönlichkeit ist selten so geradlinig, dass es sich leicht in seiner Komplexität zwischen zwei Buchdeckel pressen lässt. Die Biographie einer fiktiven Persönlichkeit, vor allem auch noch die unautorisierte Biographie des größten Detektivs der Weltgeschichte zu schreiben, ist noch schwieriger. Der Engländer Nick Rennison hat sich dieser Aufgabe angenommen, aus den insgesamt 56 Kurzgeschichten und vier Romanen, die autorisiert von Watson und seinem literarischen Paten Doyle sind eine Biographie zu zimmern. Natürlich weiß er um die Schwierigkeit, die vielen tausend anderen Romane, Geschichten, Hörspiele, Kino- oder Fernsehfilme nicht gänzlich zu ignorieren, aber mehr als einmal widersprechen sich diese Texte oder Spiele, Holmes wird in eine andere Zeit transportiert siehe die gerade wieder aufgelegten Basil Rathbone Filme oder sie sind nicht genauestens recherchiert worden. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat sich der Autor entschlossen, nicht nur Holmes Leben aus dem Blickwinkel seines Weggefährten Watson in den Mittelpunkt zu stellen, sondern er geht auch auf Arthur Conan Dyle ein und versucht vor allem das ist das interessante an diesem sehr kurzweilig zu lesenden Buch die Anspielungen Watsons auf einige nicht skizzierte Fälle in das historische Zeitgeschehen zu integrieren und aus dem Mythos Sherlock Holmes einen abgerundeten Charakter zu machen.
Auf Holmes Jugend wird in den Geschichten kaum eingegangen, hier hat es Rennington sicherlich am schwersten, nach den Wurzeln des späteren Detektivs zu suchen. Er vermutet, dass Holmes nach dem frühen Tod seiner Mutter und Großmutter zumindest an einem latenten Autismus gelitten hat und begründet diese These sehr überzeugend. Zu seinen Wander- und Studienjahren schlägt er den Bogen zu Holmes Hang zur Schauspielerei und seinen sportlichen, aber rudimentären Ansätzen Boxen. Der Autor macht nicht den Fehler, Holmes von Beginn an als Heroen darzustellen, auch wenn Eitelkeit sicherlich zu dessen Charakterzügen gehört, zeigt er ihn als verletzlichen jungen Menschen, der durch den frühen Tod seiner Verwandten, seinem an einem anderen Ort studierenden älteren Bruder und dem unterkühlten Verhältnis zu seinem Vater entwurzelt wirkt und sich in seine eigene Welt sicherlich auch geprägt von der eher profanen und nicht selten obskuren Lektüre auf der häuslichen Bibliothek geprägt zurückzieht. Aus dieser Nische des Beobachters heraus entwickelt er später seine einzigartigen deduzierenden Fähigkeiten.
Rennison begeht nicht den Fehler, sehr ausführlich auf die bekannten Fälle einzugehen. Vielmehr versucht er Querverbindungen herzustellen. So beschreibt er sehr ausführlich den britisch- irischen Konflikt mit einer Reihe von Attentaten. Mycroft Holmes hat auf der Insel mehr oder minder als freischaffender politischer Repräsentant gearbeitet. Eine andere Theorie ist gewagter. Professor Moriarty könnte irischer Abstammung gewesen sein und da Holmes zu Beginn seiner Karriere insbesondere mehr den überforderten Polizisten bei Scottland Yard geholfen hat als selbst Geld zu verdienen stammt der Hass der Holmes- Brüder auf den Paten des Verbrechens vielleicht auch dessen politischen Aktivitäten. Der Autor stellt aber diese Art von Thesen nicht nur in den Raum, er bemüht sich mit historischen Fakten einen überzeugenden Hintergrund aufzubauen und malt ein interessantes, historisches korrektes Gemälde des viktorianischen Englands und seiner inneren wie äußeren Konflikte. Damit schlägt er den Bogen zu den später im STRAND Magazin veröffentlichten Tatsachenberichten. Es ist amüsant zu lesen, dass Holmes Portrait inklusiv Pfeife und Hut in dieser Form auf einem Zufall basiert der Auftrag, die ersten Holmes Geschichten zu illustrieren erreichte den falschen Bruder. Rennison beschäftigt sich zwar immer wieder mit der Frage, warum erstens nur eine Handvoll seiner Fälle niedergeschrieben und veröffentlicht worden sind er geht insbesondere in den achtziger Jahren von vielleicht drei bis vier Prozent aus und verweist auf eine Bemerkung Watsons, der davon spricht, sehr viele Manuskripte in einem Koffer in einer im Zweiten Weltkrieg zerstörten Bank gelagert zu haben. ER verbindet allerdings nicht die originalen Aufzeichnungen mit den unzähligen Romanen und Geschichten anderer Autoren, wobei er dabei sehr viele schlechte Geschichten aber auch eine Handvoll gute mit Missachtung straft. Auf der anderen Seite verbindet er die Lücken zwischen den aufgezeichneten Fällen allerdings mit geschichtlich fundierten Spekulationen und erhöht so den Reiz der Lektüre insbesondere für Holmes Fanatiker.
Da sich eine Biographie aus einem Netzwerk der Originalgeschichten nur schwerlich alleine trägt, ändert sich der Fokus mit dem sechsten Kapitel. Jack the Ripper betritt die Bühne. Rennison bereitet auf der einen Seite im Vergleich zum zu kurzen Professor Moriartystück - nicht nur den historischen Hintergrund auf, sondern versucht eine weitere Theorie zu etablieren, die allerdings nicht nur die vorliegenden Geschichten Doyles belegt werden kann, noch wird der Bogen zu den sehr guten Verfilmungen Mord an der Themse oder Sherlock Holmes größter Fall geschlagen. Im Vergleich zu der sehr guten Exposition wirkt die Auflösung dieses Kapitels fast einfach und vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, diesem zweiten großen Kontrahenten entweder mehr Raum zu schenken oder zumindest auf Holmes selbst Kennern der Doyle- Geschichten unbekannte Vorgehensweise besser zu erläutern. Auch in Hinblick auf Holmes Verhältnis zu Frauen konzentriert sich der Autor natürlich auf Irene Adler, stellt aber weniger ihre Weiblichkeit als ihre Intelligenz in den Vordergrund. Am Gegenbeispiel Doktor Watson versucht er zu eruieren, ob Holmes latente homosexuelle Neigungen verspürt hat und wie weit er sich emotional von seinen Mitmenschen nicht zuletzt aufgrund seiner Jugenderfahrung entfernt hat. Ohne zu provozieren kommt er zu sachlichen Schlüsseln, zieht sich aber nach der ersten Deduktion wieder in den gesicherten Bereich des allwissenden Berichterstatters und nicht wie in einem Roman Erzähler zurück. Die interessanteste und gleichzeitig frustrierende Spekulation bezieht sich auf die verlorenen Jahre, in denen Holmes nach eigenem Bekunden auch nach Tibet und durch den fernen Osten gewandert ist. Auf der einen Seite sehr faszinierend und überzeugend versucht Rennington Holmes mit anderen, realen Europäern in Verbindung zu bringen, die zu dieser Zeit diese Gegenden auch bereist haben. Bei Holmes Besuch in Mekka geht er zwar auf andere Reiseberichterstatter ein, die diesen Besuch vorgeben, erwähnt aber nicht, daß eine andere sehr berühmte fiktive Figur wie Kara Ben Nemsi ebenfalls Mekka als Ungläubiger wahrscheinlich nur wenige Jahre vor Holmes besucht hat. Hier wäre es interessant gewesen, einen entsprechenden Bogen zu schlagen. So farbenprächtig die Reisen auch beschrieben werden, so distanziert und ein wenig ermüdend wirkt zumindest in diesem Abschnitt des Buches Rennisons sachlicher, unterkühlter und manchmal zu distanzierter Schreibstil. Ein wenig mehr Euphorie in der Manier Watsons hätte dem Buch gut getan. Auch Holmes Kokainabhängigkeit wird mehr Beschäftigung eines in diesen Phasen nicht geforderten Geistes abgetan, auch wenn der Verweis auf andere, sehr populäre Personen der Künste und ihre Süchte nicht unbedingt ein Argument sein kann. Mit Holmes überraschenden Umzug aufs Lande und den nicht mehr so ausführlich und oft dokumentierten Ausflügen und Fällen in London beschließt Rennison nicht etwa seine Biographie, sondern sehr geschickt schlägt er den Bogen zu den ersten Theaterstücken er stellt sogar die Theorie auf, dass Holmes zumindest in einem Stück auf der Bühne sich selbst gespielt hat und vor allem den ersten Holmesverfilmungen zu dessen Lebzeiten. In diesen letzten Kapiteln gelingt es ihm, sich gänzlich von diesem fiktiven Leben zu lösen und es mit der Realität auf eine verblüffende, aber vor allem sehr lesenswerte Weise zu verbinden. Auf den letzten Seiten wirft er noch einen Blick auf den Kriminalfall Dr. Crippen, später erfolgreich als neue Fassung unter The Fugitive allerdings mit einem unschuldigen Protagonisten verfilmt. Am Ende des Buches versucht der Autor die Faszination Holmes zusammenfassen. Sicherlich ein Kind seiner Zeit, ein Nonkonformist, der aber unbedingt den Status Quo eines sich in den letzten Zügen befindlichen Königsreiches erhalten wollte, ein Einzelkämpfer gegen das Verbrechen, oft gegen die Verbrechen des einfachen Mannes, die ihm Vergleich zu seinen zumindest durch Doyle/ Watson niedergeschriebenen Ausflügen in die Aristokratie überwiegen. Dem Autoren gelingt es, die Widersprüche in seinem Charakter genauso gut herauszuarbeiten wie die Ambivalenz, mit der er auf seine Umwelt reagieren oder sie verachten konnte. Mit der gut zu lesenden und manchmal ein zu wenig zu fiktiven immer wenn ein großer hagerer Mann auftaucht, versucht Rennison den Bogen zu Holmes zu schlagen Kombination historischer Ereignisse und verschlüsselter Anspielungen aus Watsons Tatsachenberichten liefert er eine sehr reichhaltige Fakten/Fiktion Sammlung, die nicht nur Fans des Detektivs begeistern wird, sondern vor allem Gelegenheitsleser ansprechen könnte, die Holmes mehr aus dem Fernsehen denn aus den auch heute noch ungemein gut zu lesenden Kurzgeschichten und Romanen Doyles kennt.
29. Jan. 2007 -