Lettre International 119
Wie immer eine tiefen Blick wert ist die neue Lettre. Meine Favoriten im Heft:
Das Gespräch zwischen Marek Kędzierski und dem polnischen Theatermacher Krystian Lupa kreist um lebenslange Theatererfahrungen, vom Kampf zwischen Regisseur und Schauspieler um Deutungshoheit und Bühnenmacht, von Theater ohne Literatur oder Literatur ohne Theater und vom Theater als metaphysischem Gesamtkunstwerk. Spiritismus und Eruption. Über Theater und Sprache als Instrumente zur Berührung der Welt. Was bedeutet: „inszenieren“? „Der Schauspieler ist von seinem Vermögen her ein tiefer reichendes Instrument, was die Erforschung der menschlichen Natur betrifft, als die Psychoanalyse oder die Psychiatrie. Denn er erfährt an sich selbst aktiv, was es heißt, Mensch zu sein, ähnlich wie der Schriftsteller. Er spaltet die Atome der menschlichen Persönlichkeit in Elementarteilchen auf.“ Begegnungen mit Marilyn Monroe, Andy Warhol und seiner New Yorker Factory sind ebenso Thema wie Tschechow, Kafka; die „österreichische Inspiration“ in Gestalt von Rainer Maria Rilke, Robert Musil, Alfred Kubin und Thomas Bernhard sowie die Gefährdung eines kritischen und avantgardistischen Theaters durch Polens unerbittliche kulturpolitischen Auseinandersetzungen.
Dem Ufer nah ist Volker Demuth. Er denkt nach über die Linie, den Fluß, die Zeit und das Geheimnis des weitesten Weges, über die „unbegreifliche Zeitlichkeit unserer Existenz“ und die Macht der Zeit über unser Leben. „Das vormals Dauerhafte, Solide und Verläßliche verliert an Haltbarkeit. Worauf man einmal bauen konnte, dessen Fundamente sieht man rasch bröckeln. Immer mehr vor kurzem noch Unglaubliches scheint demnächst schon wirklich zu werden. Roboter als Mitmenschen, Marsflüge, ein endloses Leben. Der nächste Mensch formt sich unter dem Projektmanagement der Bioperfektion. (...) Das menschliche Experiment, wie es sich gegenwärtig darstellt, heißt Fluidalexistenz. Die Fluidalexistenz ist vom kontinuierlichen Entgleiten und Davondriften erfaßt. So ähnelt, woran wir Halt zu finden versuchen, dem Treibgut nach einem Schiffbruch.“ Doch könnte sich ein neues geistiges Abenteuer eröffnen: „Inmitten der zielorientierten, zweckrationalen, effizienzorientierten, kurz: der linear übersteuerten Gegenwart liegt uns mit der Flußform, mit dem Mäander ein Hinweis auf den ursprünglich räumlichen Charakter des Utopischen vor. Wir brauchen Utopien nicht zu erfinden und in die Zukunft zu verlagern, wir müssen sie einfach ausfindig machen, ihre Andeutungen aufgreifen und ausweiten. Utopien sind simultane Realitäten.“
Ungewohnte, intensive Einblicke in die Pariser Banlieue ermöglicht die Reportage des britisch-indischen Schriftstellers Rana Dasgupta. Bis in die 60er Jahre bestand die Peripherie aus untereinander vernetzten Dörfern und Städtchen. Nun verbinden sternförmig aufs Zentrum konzentrierte Hochgeschwindigkeitszüge das Umland mit Paris, um Menschen zu ihren Arbeitsplätzen und zurück zu transportieren. Moderne Architekten verwandelten gewachsene Ortschaften in Schlafstädte. Die Schnellzüge der RER rhythmisieren Kommen und Gehen. Dasgupta erkundet das Leben in Grigny, dem freudlosen Wohnort des islamistischen Terroristen Amedy Coulibaly. Beton, Graffiti, tätowierte Körper, Schulen mit Stahltoren und Kameraüberwachung bestimmen das Bild. Drogen, Desintegration, Atemnot, polizeiliche Gewalt sind allgegenwärtig. Die Jugendlichen retten sich in die Netzwerke der sozialen Medien mit ihrem Exhibitionismus und Voyeurismus, dort spielen sich heute Dramen und Tragödien ab: Selbstmord in Echtzeit rekonstruiert die spektakuläre Videoinszenierung der Selbstzerstörung einer 22-jährigen Gedemütigten und Verzweifelten aus Immigrantenkreisen.
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