Volk ohne Traum

Ein Statement
von Uve Schmidt |
Es lebe der Mai!
Wenn ich mir die vielen guten
Genossen
anhöre, die sozusagen privat ihre Meinung
über ausländische Genossen äußern als
„Ausnahmeerscheinungen“ (wozu sie wohl auch
mich rechnen), dann kommen mir Zweifel an der
internationalen Solidarität.
Rosa Luxemburg, 1913
Wenn ich die vielen 1.Mai-Feiern in meinem unmittelbaren gesellschaftlichen
Leben erinnere als Teilnehmer an „festlichen Ummärschen“ vormittags in der
mitteldeutschen Provinz, an Kundgebungen in westdeutschen Großstädten oder auf
nachmittäglichen Gartenpartys unter befreundeten Genossen, dann kann ich
verstehen, dass der Wochenschaubericht von Hitlers Tag der Arbeit auf dem
Tempelhofer Feld 1933 einen „zutiefst ergreifenden Eindruck“ hinterließ,
zumal, wenn man später Leuten begegnete, die damals dabei waren als
klassenbewusste Industrie- und Bauarbeiter, Reichsbahner oder Postschaffner.
Natürlich waren die Maifeiern in Moskau einsame choreografische Spitze und
gewiss hatten auch die mongolischen Genossen Yakzüchter im fernen Ulan Bator
etwas zu bieten, aber in toto war es Staatszirkus auf den Paradestraßen oder
Ringelpiez mit Freibier & Waldmeisterbowle, denn der viel zitierte „Kampfmai“ in
echt ist meiner Generation erspart worden. Womit ich nicht nur das
Aufeinandertreffen von streikenden Arbeitern und der Gendarmerie meine, die
Straßen- und Saalschlachten zwischen Linken und Rechten und nicht die
Bierzeltraufereien unter besoffenen Volksgenossen aller Couleur, sondern die
deutsche Arbeiterbewegung als Speerspitze sozialer Veränderungen, was Rosa
Luxemburg nicht mehr erleben durfte und was sie vermutlich wenig gefreut und
gewiss nicht befriedigt hätte.
Das Widerspenstige zwischen Theorie und Praxis politischer Arbeit ist leider
(oder gottlob) kein alleiniger Geburtsfehler des Marxismus, sondern inhärenter
Makel aller staatsphilosophischer Retortenbabys, eine Haltungsschwäche, welche
zwar mittels Stahlkorsett ausgeglichen werden kann, das jedoch in unvertrautem
Gelände ein Opfer der Schwerkraft wird, sobald die Stützen des Systems versagen
oder sich entziehen. Ich habe mir das Stahlkorsett als Metapher für totalitäre
Regime gegönnt, weil es taugt, wie ich denke, und weil meine Mutter, die durch
lange peinvolle Jahre ein Stahlkorsett trug, niemals umfiel und keine Gehhilfe
benötigte, sondern nach einer OP kein Korsett mehr brauchte, was zu der Ansicht
verleitet, dass nicht alle Diktaturen chirurgischer Eingriffe bedürfen, um
demokratisch zu funktionieren, solange gutes Zureden und ein personaler
Pferdewechsel ausreicht. Dass das nicht klappt recte genügt, sehen wir in den
meisten der einst kommunistischen Staaten und in fast allen arabischen Ländern
sowie in jenen Demokratien, die sich mit dem Sondersegen des Vatikans
freigewählte Parlamente leisten in Südeuropa und Südamerika, in Mexiko, auf den
Philippinen und in der Karibik.
In solchen Ländern leben wir (u.v.a.)
nicht, doch das kann sich alles noch ändern, wenn der aus dem Griechischen
stammende Begriff Kleptokratie weiterhin nicht ernst genommen wird, weil
er sich dem Kabarett zu verdanken scheint. Tatsächlich scheint das Wort tabu,
denn man hört und liest es beinahe nie, obwohl kein politischer Terminus die
herrschenden sozialen Sachverhalte treffender kennzeichnet: Persönliche
Bereicherung durch Ausnutzen gesellschaftlicher Privilegien. Der Verweis, in
den hellenischen Stadtstaaten (und späterhin anderswo in Europa) seien damit der
Adel, die Beamten und die Priesterschaft gemeint gewesen und diese Stände hätten
a) spätestens seit 1918/19 ausgespielt und b) lebten wir nicht in rechtsfreien
Räumen, ist nur halbrichtig, weil asoziales bzw. kriminelles Verhalten in allen
weltanschaulichen Systemen entstehen, sich entwickeln und enthemmen kann bis zum
Exzess, wozu einem nicht nur die Schrecken des Europäischen Bürgerkriegs (Nolte)
einfallen müssen, sondern auch die Entartungen unserer Tagespolitik auffallen
sollten und das einfache hundsgemeine Leben der sogenannten Ärmsten, denn
privilegiert sind wir mittlerweile alle.
In der Tat gibt es keine soziale Randgruppe, keine gesundheitlich, ethnisch,
konfessionell oder sexuell beeinträchtigten Bittsteller, die nicht umgehend das
Mitgefühl kirchlicher, staatlicher und privater humanitärer Einrichtungen finden
bzw. veranlassen, entsprechende Beratungs- und Betreuungsstellen zu schaffen,
nicht zu reden von den sich täglich gründenden sogenannten Selbsthilfekreisen,
Hauspflegediensten und Kontaktagenturen aller Art, die sich sowohl dem Fiskus
als auch jeder rechtspflegerischen Aufsicht entziehen, um sich kraft des
gesellschaftliche Privilegs der Gewerbefreiheit zu bereichern, indem
sie die Dummheit oder Demut ihrer Pfleglinge und Ratsucher gezielt ausnutzen,
und natürlich schlägt am meisten zu Buche die Ausnutzung von
Gesetzeslücken und Blinden Flecken im Sozialstaatsunwesen. Zusätzlich werden wir
von polnischen Fahrzeugdieben, Buntmetallhehlern und Enkeldarstellern
geschädigt, von westafrikanischen Pseudoadvokaten geschröpft und von
serbokroatischen Totogangstern abgezockt, und für das Gedeihen der
kosmopolitischen Kavaliersdelikte sorgen die Deutschen selbst, wenn sie zum
Schein exotische Wanderhuren heiraten, Rattenlöcher an illegale Ausländer
vermieten und die selben als Schwarzarbeiter vermitteln oder beschäftigen zu
kriminellen Bedingungen. Man/frau ist ja solidarisch, vor allem aber deutsch:
Von der geburtlich erlangten Staatsbürgerschaft (ggf. eine
Religionszugehörigkeit durch Taufe o.ä.), von Erziehungsberechtigten gebotene
heizbare Heimstätten und regelmäßige Nahrungszufuhr, amtlich gebotene
Gesundheitskontrollen, Schulpflichtigkeit (plus Lernmittelfreiheit), Spiel- und
Sportangebote sowie kulturelle Sozialisierung durch musisch- technische
Interessenpflege und –förderung, und selbstverständlich werden im Zusammenwirken
von Elternhäusern und Schulen auch Vorbereitungen zur Berufsfindung und
Arbeitsplatzwahl getroffen.
Dies ist das Trampolin für
jedermann, seit ich 1946 in der Ostzone (SBZ) eingeschult wurde, und weil ich
ein intaktes Elternhaus hatte, war ich zwar begünstigt, doch privilegiert nur
insoweit, als auch mir von Amts wegen zustand, was alsbald das parteigesetzliche
Privileg der Arbeiter- und Bauernkinder sein sollte, konkret, sie genossen
gewisse Rücksichten und Vorteile und sollten unbedingt zum Abitur geführt
werden, was Kindern bürgerlicher Herkunft nur noch bei Bestleistungen und
tadelloser gesellschaftlicher Mitarbeit ermöglicht wurde. Heute riskiert man
hierzulande den außenpolitischen Knatsch mit ehemaligen Ostblockstaaten, weil
man nicht weiß, wie man minderjährige Roma & Sinti der Studienstiftung des
Deutschen Volkes nahe bringt, ohne die analphabetischen Eltern aufzubringen.
Tatsächlich ist das altindische Wandervolk in unseren Breiten und Tagen die
privilegierteste Volksgruppe überhaupt: Als geschützte und gehegte historische
Minderheit, als Überlebende des faschistischen Genozids, als eurasische Nomaden
(die einzigen neben den arktisch begrenzten Samen) und als asoziale
Außenseiter. Solange die Europäische Union und die UNO (UNESCO) kein
defensives Konzept zur Zivilisierung der ziganischen Migranten vorlegen und
durchsetzen, bereichern wir das persönliche Gewissen der
gesellschaftlich Privilegierten ebenso wie das ihrer diesbezüglich
gewissenlosen Schützlinge unter Ausnutzung einer desolaten Gesetzeslage
und einer verunsicherten gutbürgerlichen Bevölkerung, welche nicht nur ihre
Sozialkassen bedroht sieht, sondern auch den multikulturellen Burgfrieden.
Womit wir wieder bei den Werktätigen wären, denen am 1. Mai (zumeist schon am
Vorabend) in der DDR ja keine vorrevolutionären Kampfziele gesetzt werden
mussten, denn dank der Roten Armee und der SED hatte man ja alles erreicht. Also
marschierten die Jugendlichen als FDJ, die Kinder als Junge Pioniere, die
Rentner als Veteranen, viele Bühnenkünstler und freischaffende Frauen quasi als
Gäste des Proletariats, welches sich verstärkt hatte vermittels Angestellter und
Angehöriger der schaffenden Intelligenz, womit die Akademiker gemeint
waren, sowie die Delegierten der Bauern und Landarbeiter/innen auf Traktoren mit
Anhängern unter der Parole FÜR FRIEDEN UND VÖLKERFREUNDSCHAFT, und wenn ich mich
recht erinnere, war dergleichen später auch im Westen zu lesen auf
Transparenten, die nicht von K-Grüppchen getragen wurden, sondern von
verfassungstreuen deutschen Linken. Keine Ahnung, was diesmal gefordert oder
gepriesen, gelobt oder geschmäht wird, ganz gewiss etwas wie WIR LASSEN UNS
NICHT VERARSCHEN! Und weil es immer noch der Internationale Kampftag der
Werktätigen aller Länder (o.s.ä) ist, werden auch die nationalen
Großfamilien des antikapitalistischen und antiimperialistischen Widerstandes
auftreten, aber komischerweise keine Zigeuner, obwohl ihnen der 1. Mai aus ihren
volksdemokratischen Heimaten ja noch gut vertraut sein dürfte, als sie nicht
nur Tanzmusik machen mussten, sondern auch mitmarschieren durften, weil alle,
alle noch Arbeit hatten und rote Nelken im Haar…
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Alle Statements auf einen Blick:
Volk ohne Traum
Der türkische Alpdruck und die verschnarchte Demokratie
Nightmare USA und wir Schäfchenzähler
Germania sucht Gralsritter
Ahoi, Arche Nova!
Los der Arbeit oder endlich ausschlafen
Traumatamtam
Gute Nacht!
Schwarzer Schlaf
Liebe Nachtwächter!
Stimmen
aus der Urne
Stille Nacht
Tränen und
Krumen
Im Schlafe kotzen
Der Feind unterm Bett
Nach
Sonnenuntergang
Frag würdig!
Bella Leitfigura
Frauen und Kinder zuerst
Fliegeralarm
Ein
Hermelin aus Tempelhof
Deutschland,
ein Herbstmärchen
Gott ist Atheist
Wetterbericht
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Buben
Was glotzt Du?
Oscar
der Observer
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memoriam 8.Mai 1945
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Der Fall Eva H.
Esra und andere
Belegtes Brot
Der Rentner im Tschibuk
Märzwehen
Jugendsünden (1)
Jugendsünden (2)
Jugendsünden (3)
Sportimportexportweltmeister
Tschingderassassabumbum
Der Preis des Friedens
Stinkegeld
Froileins to the
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Wir wunden Kinder (1)
Wir wunden Kinder (2)
Wir wunden Kinder (3)
Denkmalsdeutsch
Mann oder Frau?
Deutschlandplan (A)
Wahllos in Mainhattan
Heldengedenktag
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Das
wahre Leben
Addio Africa!?
Unter Schneemenschen
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Fass ohne Hoden
Roter Westen
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Von alter Leidkultur
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Patria o Muerte ! (2)
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Grüne Wolken
Thoooooooor!!!
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Christnachtgedanken
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... der werfe den ersten Schuh
Schimpf und Schande
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Herzschrittmacher...
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Beleidigte und
Belämmerte
Ladies first
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Europa, eine verkaufte Braut
Gelbe Gefahren
Urbi et orbi
April, April!
Abendlanddämmerung
Gedichte
mit
Röntgenbildern des Autors
Text lesen
Abendlanddämmerung klingt nach Titelschutzobjekt, ist aber keines, sondern
die Alte Welt im Spätlicht ihrer Zivilisationsgeschichte, wahrgenommen von
der Warte eines Kulturpessimisten. In der Tat verhelfen auch optimale
Observationstechniken nur zu Bildern, welche richtiggedeutet werden ollen,
im Zweifelsfalle zugunsten der jeweiligen Feindbildvorlage. Allerdings
bedarf es keiner Satellitenfotos, um die Mondsichel über Kölln und
Kreuzberg zu erkennen, das Kraushaar im europäischen Milchsee und den
großen Graben zwischen Schlesien und Schwaben, Alt (Franz) und Jung
(Claudia), Pontefix und Cybersex, zwischen Ideal und Kapital: Um die
Eingeweide unserer hirnrissigen Gesellschaft auszuleuchten, langt die
photopoetische Sonde des Uve Schmidt.
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