Subkultur, running wild
Alf Mayer über ein scharfes Buch von Andrew Nette und Iain McIntyre.
Die Sache mit der Jugend, das war mal ganz anders. Teen-Ager, damals noch mit Bindestrich geschrieben, waren die kaum zu domestizierenden Bewohner eines wilden, fremden Planeten. Jugendliche Delinquenten. Eine Gefahr für die Allgemeinheit. „Die Halbstarken“ machten Horst Buchholz 1956 zum Star. Marlon Brandos/ Lazlo Bendeks „The Wild One“ hieß auf Deutsch „Der Wilde“ (1953). „Hey, Johnny, what are you rebelling against?“, wird Brando darin gefragt. Er antwortet: „What’ve you got?“
Anders als die gehätschelten Thronnachfolger und das klebrige Verständnis der Erziehungsberechtigen von heute war die Nachkriegswelt der 1960er bis 1970er voller junger Leute, die Leben & Welten ihrer Eltern flohen und in jeglicher Hinsicht über die Stränge zu schlagen suchten. Outsiders, Teenage Jungle, Teen-Age Mafia, Violent Streets, Teenage Tramps, Roaring Boys, Teenage Terror, Odd Girl Out, Marijuana Girl, Bikie Birds, Terror-Go-Round, Black Leather Barbarians, Satan was a Lesbian, Invasion of the Nymphomaniacs, The Young and Violent, We Are the People Our Parents Warned Us Against. Und vor allem: Play it Cool. So hießen nur einige der Titel.
Von down under sieht man Subkulturen besser
Dieser wilden Zeit haben sich die Australier Andrew Nette und Iain McIntyre gewidmet – von down under sieht man Subkulturen besser, außerdem sind dort (eine Freude auch bei meinen Reisen) die „garage sales“ und noch in den kleinsten Nestern zu findenden Salvos Stores der Heilsarmee oft mit kleinen Juwelen bestückt. Man kann dort, jenseits von Internet und ReBuy, immer noch gute Funde machen. Girl Gangs, Biker Boys and Real Cool Cats: Pulp Fiction and Youth Culture, 1950-1980 mit an die 400 Covern und über 70 Einzelbeiträgen von 20 Experten der Populärkultur versammelt solche Schätze, ist zudem interdisziplinäre und internationale Recherche. Es ist die erste Studie, die (mit Perspektive auf die USA, Großbritannien und Australien) einen Überblick gibt, wie die Jugendkultur der Nachkriegszeit im Massenmedium der billigen Taschenbücher – der Pulps – ihren Niederschlag fand und gleichzeitig ausgebeutet wurde. Reden wir nicht darum herum: Das Sensationsbedürfnis der Medien und das Geschäft der Medienhäuser wurden durch den Hype der allerlei jugendlichen Verirrungen bestens befeuert. Gängiges Prinzip bis heute: Man schürt die Ängste und Sorgen, an denen man verdient. (BILD-Chef Julian Reichelt nennt so etwas „schlagzeilenfähig“.) Peter Doyle charakterisiert solche Youthsploitation in seinem Vorwort als „Panik-Refrain“:
„In the late 1940s, early 1950s it was juvenile delinquents, of course. Then came beatniks. And bikers. Gays and lesbians. Hard-dope fiends. Later on, hippies and counter cultural types, mods, rockers, surfers, skinheads, youthful revolutionaries. Trippers, pot heads and ravers. Rock musicians and groupies. Nearly always the subculture was characterised as a kind of cultish freemason-like quasi-conspiracy or secret society.“
Die Texte selbst haben Pulp-Qualität
Andrew Nette und Iain McIntyre haben es drauf. Der Umbruch ist großzügig, ihr überformatiges Trade-Paperback ist äußerst lesbar. Manche der Texte haben, Informationsgehalt unbenommen, selbst Pulp-Qualität, süffeln sich weg. Und es gibt Sahnestücke wie etwa Porträts der frühen Harlan Ellison und Evan Hunter (Ed McBain), von Lawrence Block, Colin Wilson, Sol Yurick (The Warriors), Malcolm Brawly, oder das Interview mit Marijane Meaker, aka Vin Packer, deren eine Spezialität die sogenannten „Geständnisse“ waren. Ein Zitat:
„I also wrote some ‘confessions’. I was very good at them, because all you had to do was think of an interesting title that would pull the reader in, and then make sure that the story did not live up to the title. For example, the first story I sold was called ‘I Lost My Baby at a Pot Party’. It was a story in which a woman had the Teflon pot people come to her house for a demonstration, and while this was going on her little child ran out the door …“
Der Dolly, Dolly Spy und andere Surfer der Zeit
Da ist Ernest Tidyman (of Shaft-fame), der auch Flower Power schrieb (1969), da ist Samuel Fuller mit 144 Piccadilly, da gibt es von Charles Manson inspirierte „Satanic Slaves“, da geht John D. MacDonalds Travis McGee in Dress her in Indigo unter die Hippies, da schreibt Brad Lang Detektivromane mit einem Hardboiled-Hippie, da gibt es die Surfer Spy Pulps von Patrick Morgan, da ist Warren Murphys Destroyer # 13 auf Acid Rock. Stewart Home hat jahrelang auf den Spuren von Richard Allen recherchiert, Mike Stax kennt sich besonders mit der britischen Beat- und Rock-Fiktion der 1960er aus, Vertreter hier etwa All Night Stand von Thom Keyes und Groupie von Jenny Fabian und Johnny Byrne. Adam Diment wird in gleich zwei Beiträgen behandelt, sein britischer Dandy-Spion ist ja auch zu interessant (The Dolly, Dolly Spy, 1967, u.a.). Only Lovers Left Alive von David Wallis gilt als als Rock ‘n Roll-Variante von Der Herr der Fliegen. Und dann ist da Jane Gallion, die sich selbst einen ‘fuckbook writer’ nannte, Romane wie Stoned and Biker schrieb, für die Los Angeles Pulp-Publisher Essex House und Brandon House arbeitete, und zahllose Sex-Handbücher verantwortete, wie zum Beispiel Coito Ergo Sum. Humor freilich, war eine schwierige Sache, heißt es in dem von ihr wiedergegebenen Brief, das habe ihr Chef immer wieder betont: „Jane, sagte er, du kannst als Mann nicht lachen und gleichzeitig einen Steifen haben.“
Und dann gräbt Andrew Nette noch einen hochinteressanten Pulpautor aus, nämlich den aus Deutschland stammenden Gunther Bahnemann, einen Urvater sozusagen jenes Queenslands, das Candice Fox heutzutage in Crimson Lake bereist. Bahnemann, der in Rommels Armee fahnenflüchtig wurde, saß in Australien sieben Jahre im Gefängnis, schrieb über die Unterwelt, die er kannte. Sein Pulp-Roman Hoodlum erschien 1963.
Ein großes gesellschaftliches Unbewusstes
Rock ‘n Roll, heiße Kisten, Autorennen, Lederjacken, Kiffer, Hippies, Lesben, surfende Spione, Mädchengangs, anything queer as you want to be, das Buch birst schier von überschüssiger Energie und der Sehnsucht, Ausdruck zu finden durch Stil, Mode, Musik und Sprache, Revolte und Protest. Die vielen Cover dabei sind nur ein Aspekt. Pulp fiction, so hielt es Susan Stryker in ihrem Queer Pulp: Perverted Passions from the Golden Age of the Paperback (2001), fest, „funktioniert als ein großes gesellschaftliches Unbewusstes. Phantasien der Wunscherfüllung sind hier ebenso aufgehoben wie verzweifeltes Verlangen, verschmähte Begierden, kleine Enttäuschungen und Verrätereien, verantwortungslose Gewalt, Zweifel oder Marginalisierung.“
Girl Gangs, Biker Boys and Real Cool Cats zeichnet nach, wie Beatniks und Hippies, Skinheads und Punks, Straßengangs, Junkies, Rocker zu Sensationsthemen wurden, zeigt die Furcht vor und die Lust an der Subkultur. Die Kapitel sprechen für sich:
Teenage Jungle: Pulp Fiction’s Juvenile Delinquents
Beat Girls and Real Cool Cats: 1960s Beats and Bohemians
Party Girls and Passion Pits: The Pulp Fiction of Sydney’s Kings Cross
Love Tribes: Hippies and the Pulp Fiction oft he Late-60s and Early-70s Counterculture
Groupies and Immortals: Pulp Fiction Music Novels
Wheels of Death: Pulp Biker and Motorcycle Gangs
Cults of Violence: 1960s British Youthsploitation Novels
Outsiders: Late-60s and Early-870s American Pulp and the Rise of the Teen Novel.
Pulp-Literatur als Spiegel der Gesellschaft
An den Pulp-Romanen schätzen Andrew Nette und Iain McIntyre vor allem die Unmittelbarkeit und die intime Nähe zum jeweiligen Gegenstand. Pulp-Literatur als Spiegel der voyeuristischen Gesellschaft – wie auch all der Subkulturen, in denen sie spielt. Die Röcke kurz, die Haare länger.
Girl Gangs, Biker Boys, and Real Cool Cats wird Ende dieses Jahres eine Fortsetzung erhalten, und zwar eine politische. Andrew Nette and Ian McIntyre haben sich die politischen Bewegungen der Nachkriegszeit angesehen, von Black Power und Ant-Vietnam-Bewegung, Schwulen-Aktivismus und Feminismus, linkem Porno bis Science Fiction, mit J.G. Ballard, Ursula K. Le Guin, Michael Moorcock, Octavia Butler, Iceberg Slim und Donald Goines, Chester Himes und Brian Garfield sowie einer Milliarde unbekannterer Namen. Der Titel: Sticking it to the Man. Revolution and Counterculture in Pulp and Popular Fiction, 1956 to 1980.
Die Autoren: Iain McIntyre lebt wie Andrew Nette in Melbourne, ist Autor, Musiker und Radiomacher, sein Spezialgebiet sind Aktivismus, Populärkultur und Musik. Zu seinen Veröffentlichungen gehören How to Make Trouble and Influence People: Pranks, Protest, Graffiti and Political Mischief-Making from across Australia (2013), Wild About You: The Sixties Beat Explosion in Australia and New Zealand (2010), Tomorrow Is Today: Australia in the Psychedelic Era, 1966–1970 (2006). Und er war einer der Kompilatoren von Down Under Nuggets: Original Australian Artyfacts 1965–1967 (CD, 2012).
Andrew Nette, dem Sie bereits in unserem CulturMag-Jahresrückblick 2017 begegnen konnten, ist international einer der besten Kenner der Pulpliteratur, Pulpcurry heißt seine besuchenswerte Internetseite. Schon jung war er von den Taschenbüchern fasziniert, die sein Vaters las und sammelte; der war besonders begeistert von Carter Brown, dem aus Sydney stammenden Autor namens Alan Yates, dem wir Pulps mit göttlichen Titeln wie Ackerbau und Unzucht verdanken. Andrew Nettes erster Roman Ghost Money (2012) spielt in Kambodscha, sein Gunshine State ist eine hardboiled heist novel, die sich neben Richard Starks Parker, Garry Dishers Wyatt und Wallace Strobys Crissa Stone prächtig behaupten kann, in Queensland, Melbourne und Thailand spielt und dringend übersetzt gehört. Andrew Nette war einer der Gründer von Crime Factory Publications in Melbourne, deren Schmiede zum Beispiel Hard Labour (2012) entstammte, eine Anthologie australischer short crime fiction. Zu meinen Schätzen gehört LEE (2014), eine Sammlung von Erzählungen, inspieriert von der Kino-Ikone Lee Marvin. Andrew Nette ist publizistisch sehr aktiv. Gegenwärtig schreibt er an seiner Doktorarbeit die Geschichte der australischen Pulp Fiction und arbeitet an der Fortsetzung von Gunshine State. Bei CrimeMag wird er künftig öfter auftauchen.
Iain McIntyre and Andrew Nette: Girl Gangs, Biker Boys and Real Cool Cats: Pulp Fiction and Youth Culture, 1950-1980. Contributors include Nicolas Tredell, Alwyn W. Turner, Mike Stax, Clinton Walker, Bill Osgerby, David Rife, J.F. Norris, Stewart Home, James Cockington, Joe Blevins, Brian Coffey, James Doig, David James Foster, Matthew Asprey Gear, Molly Grattan, Brian Greene, John Harrison, David Kiersh, Austin Matthews, and Robert Baker. PM Press, Oakland 2017. 334pp, $29.95.
PS. Natürlich blieb immer die Möglichkeit, dass die ganze Welt duch die H-Bombe in die Luft flog, aber diese Vorstellung war zu gewaltig, um noch erschreckend zu wirken. Wenigstens gab es jetzt keine Deprtession mehr, keine Luftangriffe, keine Lebensmittelrationierungen. Es war jetzt nicht mehr die Hauptsache, sich irgendwie über Wasser zu halten – nein, die Teenager konnten endlich ihre Ansprüche anmelden… Jetzt, wo das Leben einfacher war, da machten sie Krawall. – So beschrieben Frank Göhre und ich im Kapitel „Saat der Gewalt. Der Film“ die Zeit von Evan Hunters Roman Saat der Gewalt und den gleichnamigen Film. Der Roman machte den in Harlem und der Bronx aufgewachsenen Salvatore Albert Lombino zum Bestsellerautor. The Blackboard Jungle (1954) war sein erster Erfolg und verarbeitete autobiografische Erlebnisse mit wilden Schülern. MGM machte schnell einen Film daraus, mit Glenn Ford als belagertem Lehrer Dadier. ‘Rock Around the Clock’ von Bill Haley & His Comets wurde durch den Film zu einem Welthit. (Siehe Frank Göhre & Alf Mayer: Cops in the City. Ed McBain und das 87. Polizeirevier. Ein Report, Culturbooks, Hamburg 2016.)
Reading ahead mit CrimeMag:
(13) The Illustrated Ross Macdonald Archives
(12) Peter Blauner: Proving Ground
(11) Mike Ripley: Kiss Kiss Bang Bang
(10) Stephen Hunter: G-Man
(9) James Ellroys Fotoband: LAPD ’53
(8) Richard Price: The Whites
(7) Dominique Manotti: Noir
(6) Chuck Logan: Falling Angel
(5) Tod Goldberg: Gangsterland
(4) Gerald Seymour – ein Porträt
(3) Donald E. Westlake: The Getaway-Car
(2) Garry Disher: Bitter Wash Road
(1) Lee Child: Personal
Sowie:
Liebe und Terror im Goldenen Zeitalter der Flugzeugentführungen – Brendan I. Koerner: The Skies belong to Us (2013)
Kem Nunn: Chance (2013)
R. J. Ellory: A Quiet Belief in Angels (2012)
Lee Child: Jack Reacher’s Rules (2012
Charles Bowden: Murder City: Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Ground (2010)