Semantisch offen
„Allen Gattungen von Pasternaks Schaffen, der Lyrik, den Briefen wie auch der Prosa, ist ein etwas spröder Stil zueigen, der Einblicke in Pasternaks Ringen mit sich selbst und seiner Stellung in der unmittelbaren Gegenwart zulässt. Zugleich liegt dieser Eigentümlichkeit auch ihre Anziehungskraft auf den Leser zugrunde. Pasternaks poetische Auskünfte gehen durchaus zögerlich vonstatten. Er ist kein Dichter ewiger Weisheiten. Die semantische Offenheit, mit der Pasternak sich selbst und seine Wahrnehmung der Dinge zu Sprache gerinnen lässt, ist zeitlos.“
Volker Strebel aktuell auf literaturkritik.de über den ersten Band einer neuen Werkausgabe von Boris Pasternak im S. Fischer Verlag.
Anfangszeit
Im Februar gilt: Tinte weinen
Und lauthals schreiben, ungehemmt,
Solang der Schneematsch grollt und schäumend
Als rabenschwarzer Frühling brennt.
Die Kutsche: ein paar Münzen geben,
Durch Glockenton und Räderruf
Dorthin enteilen, wo im Regen
Verstummt die Tintentränenflut.
Wo Krähen, Birnen gleich und Kohlen,
Von Bäumen stürzen und als Schwall
In Pfützen landen; ganz verstohlen
Versinkt im Auge trockne Qual.
Sie schwärzt die aufgetauten Stellen,
Von Schreien ist der Wind durchkämmt,
Aus Zufall nur, doch stetig quellen
Gedichte – lauthals, ungehemmt.
1912
übersetzt von Christine Fischer
Boris Pasternak, 1890 in Odessa geboren, beschäftigte sich ab 1903 mit Komposition, immatrikulierte sich in Moskau und studierte 1912 bei Hermann Cohen in Marburg Philosophie. 1914 erschien sein erster Gedichtband, weitere folgten, doch wurde er ab den Dreißigern immer wieder politisch angegriffen. Bevor er 1955 ›Doktor Shiwago‹ abschließen konnte, entstanden zurückgezogen große Übersetzungen, u. a. von Shakespeare und Goethe. 1958 wurde ihm für seine Lyrik und Prosa der Nobelpreis zuerkannt, aber er war aus Furcht vor politischer Verfolgung gezwungen, den Preis abzulehnen. 1960 starb er in Peredelkino bei Moskau.
Boris Pasternak: Meine Schwester – das Leben. Werkausgabe Band 1. Gedichte, Erzählungen, Briefe.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015.
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