Als ich in Den Haag las
Oktober 2012 | Mein Urlaub stand dieses Jahr unter keinem guten Stern, vielmehr unter einem direkt auf die Erde zurasenden Asteroiden. Ich hatte eine Zahnfistel, die allerdings niemand außer mir ernsthaft als Bedrohung wahrnahm. Wäre ich Lars von Trier, hätte ich einen Weltuntergangsfilm gedreht, um allen Menschen die Möglichkeit zu geben, an meiner depressiven Stimmung teilzunehmen. So leuchtete ich nur mit einer Taschenlampe regelmäßig ...
4 Perugia
Oktober 2012 | Am sonnigen Vorabend promenieren die Bewohner von Perugia wie überall in Italien in ihrer Hauptstraße, den Corso Vanucci immer auf und ab zwischen dem Domplatz und der Stadtmauer, dort muss man anhalten und weit über die Felder und Hügel sehen, zurück bis zum Duomo, hochgucken, wie die Handwerker zum Feierabend das Gerüst runter klettern, rund herum um den von einer Plastikglocke abgedeckten Fontana Maggiore. ...
Im Reimgehege
Im aktuellen Jubläums-Editorial zum 20jährigen Bestehen der Zeitschrift „Das Gedicht“ schreibt Matthias Politycki: „Realpoeten sind Lyriker, die in allererster Linie für Leser schreiben, ob sie dabei mehr ins Sprachexperimentelle oder ins Erzählerische gehen, ist sekundär. Sie möchten eine Erfahrung nicht nur irgendwie zu Papier bringen, sondern mitteilen, mehr noch: mit ihren Lesern teilen. Und tragen also immer Sorge, dass die poetische Botschaft auch ankommt. ...
Deutsch-Türkisches Literaturfestival Literatürk. Gerrit Wustmann im Gespräch mit Semra Uzun-Önder
Zum achten Mal findet vom 1. Bis zum 7. Oktober 2012 in Essen das deutsch-türkische Literaturfestival Literatürk statt. Highlights sind unter anderen Ahmet Ümit und Mario Levi, die aus ihren Werken lesen werden. Im Interview spricht Semra Uzun-Önder, Mitbegründerin des Festivals, über das, was den Zuschauer erwartet. ...
Eine Fiktion
Oktober 2012 | Am einem 30. Juli tropft in der Küche eines ehemaligen Bauernhofs, sagen wir in der Lövenicher Straße 22 in Linzenich (einem Weiler ungefähr in der Mitte zwischen Köln und Sistig gelegen) ein Wasserhahn. Ein RDB-Experte, nennen wir ihn Norbert Schöne, feiert bei früheren Freunden Rolf Dieter Brinkmanns – dem Künstler Heringson-Fronstart und der Schriftstellerin Tina Trommler – den glorreichen Abschluß einer Doktorarbeit über den 1940 ...
Gedanken über eine sprachliche Figur der Gegenwart
September 2012 | Lohnt es sich überhaupt, eine essayistische Betrachtung über einen so flüchtigen sprachlichen Dreizeller wie ein bisschen zu schreiben? Nur dann, meint der Autor, wenn sich der Dreizeller gleich einem Algenteppich auf unser schön lumineszierendes Sprachmeer legt und zu einer wahren Massenplage wird. Irgendwann, behaupte ich, wird mir der Dreizeller ein bisschen die Lust am Baden im Sprachmeer verleiden, und das wäre doch schade. Oder übertreibe ich ein bisschen? ...
Satzbau
Postroman, Postgedicht, postheroisches Management. „Post“ hat uns im Griff. Die Postmoderne, der ich vor fast 30 Jahren im Studium begegnete, glitzerte mächtig, dekonstruierte erfolgreich, hebelte Nichtfranzösischkenner weg. Gedichte waren nicht sonderlich gefragt, sie schienen nicht betroffen - oder waren es immer schon, so dass die Postmoderne und ihr Hang zur semantisch-semiotischen „Verspurung“ sie kaum zu treffen vermochte. ...
3 Chioggia
September 2012 | Zurück mit der Menschenmenge zum Markusplatz, mit manchen von ihnen wieder per Vaporetto quer übers Lido zum Auto. Das parkt auf der Landzunge unter dem Rieddach. Hoffentlich ist es nicht geklaut. Ihre Koffer wären fort, für die Katz wären die anstrengenden wohldurchdachten Einkäufe gewesen. Alles ist da. Zurück auf die Autostrada via Chioggia. Lastwagen schleppen die Gemüse-Ernten in die Fabriken, deren Schilder vor den Feldern stehen. ...
Der Weg zur Fettleber, Teil 2
September 2012 | Die letzte Kolumne endete damit, daß wir besoffen zurück nach Bra fuhren und von der Polizei angehalten wurden. Die Polizei darf getrost ins Reich der Phantasie verwiesen werden. Ich wollte einfach nur einen Cliffhanger zur Überbrückung einbauen. Der zweite Tag endete, wie das Leben eines vorsichtigen und hypochondrischen Menschen endet, nämlich im Bett und in den Armen von Morpheus (trotz Phallophobie). ...
22.08.2012 | ein peter-rühmkorf-abend im Literaturhaus Hamburg
In einem Artikel über ein Buch mit Texten Peter Rühmkorfs - über lebende und verstorbene Literaten - anderes zu schreiben, als was dieser wunderbare Band an brillanten oder bösen Formulierungen enthält, wäre höchst überflüssig und töricht. Über Thomas Bernhard etwa steht da: „Eine Art von spezifisch österreichischem Allürentheater und zum Fußaufstampfen ständig bereites Drohverhalten. …Neulich bei Brandauer eine gewisse physiognomische Verwandtschaft festgestellt. Brandauer ein Bernhard nach der Schönheitsoperation.“ ...
Jedes Wort eine Kugel auf dem Abakus
August 2012 | „Das Übersetzen von Gedichten ist unmöglich.“ Bei fast jeder Übersetzungsdiskussion fällt er einmal, dieser Satz. Ich stöhne! Er sollte unter Strafe gestellt werden - er ist zu langweilig. In keiner Weise denkt er über die Worte nach, die er benutzt. ...
2. Venedig
August 2012 | Zwischen Ried und Wassergräben fährt Katharina zum Ende der Landzunge von Porto Sabbiano. Nach Venedig wollte ich immer, die Hochzeitsreise dorthin habe ich mir aber anders vorgestellt. Und meinen doch kürzlich geliebten Piero abmurksen lassen? Will ich es wirklich? Den Sohn Sandro will ich wiederhaben, was heißt haben, sehen, dass es ihm gutgeht. Was für ein Durcheinander. Zweifel? Mit dem Vaporetto nach San Marco, stehenlassen das Auto. ...
rhodische aufsammlungen
Blanka Beiruts TAGEBUCHSTABEN – rhodische aufsammlungen - gefördert vom Verband der Schriftsteller VS in Kooperation mit Verdi - alle drei Tage im August 2012 - KUNSTUNDKULTUR - Kulturpolitische Zeitschrift
Der Weg zur Fettleber, Teil 1
Letzten Sommer war ich einer von sieben Freßsäcken, die auszogen, um die Weine und Spezialitäten des Südens zu kosten. Wir schlemmten uns von Norditalien über Südfrankreich bis zur elsässischen Stopfleber durch. Nun hoffe ich, daß niemand von meinen Gefährten an Glossophobie leidet, also der Angst, in einer Glosse verwurstet zu werden. Denn dann sollten sie das hier lieber nicht lesen. Aber sie können sich trösten. Leicht fiel es mir nicht ...
1. STRIPOLDO
Juli | 2012 Autostrada. Lastwagen vor mir und hinter mir, viel zu schnell, viel zu dicht, Rüben und Schweine links und rechts in der Ebene, Gemüse und Schinken in den Anhängern hinter und vor mir. Er hat es mir von Anfang an gesagt, eine Heirat kommt nicht in Frage. Wir Italiener müssen die Regeln der Familie beachten, unsere ist die erste in der Region. Dabei hat er böse gelächelt, und ich hab an die Mafia gedacht. - Du bist meine deutsche Donna. ...
Magenknurren des Himmels, Sommerpausen - Tagebuchstaben
Was ist dem Sommer bloß über die Leber gelaufen? Hatte man ihn bedrängt? Leberschädigung? Wechseljahre? Er kotzt und kotzt. Und hat Hitzewellen. Blanka Beirut versucht ihm aus dem Weg zu gehen und landet dabei hinter dem Bildschirm. Später knurrt dem Himmel der Magen in regelmäßigem Fortepiano. ...
Wortgeschöpfe, Schweine weinen
Das Leben geht im Schreibtempo weiter, merkt Blanka Beirut an diesem unerwarteten Winken der Hitzen. Allerdings haben die Nachtfalter keine Freizeit mehr. Weil Schweine nicht weinen! Sondern nur schwitzen und töten. Und die anderen zum Weinen bringen. Der Nymphensittich eilt deshalb nach Syrien und überall hin ...
Eine ganze Welt voller Mäusesongs
Juli 2012 | Vor gut zwei Wochen stand ich in der Schouwburg von Rotterdam, es war sonnig und eisig, und auf der Straße reihten sich Betonflächen und Schuhgeschäfte endlos aneinander. Ich wartete altbeschuht im Theaterfoyer, rührte in einem Kaffee und hörte, während aus allen Räumen Poesie schallte und von den Wänden Dichter sprachen, wie ein belgischer Autor, der in Japan lebt, einem niederländischen Autor, der in Belgien lebt, bestätigte, er habe eine mouse-intelligence. Keiner der beiden sieht einer Maus auch nur im Entferntesten ähnlich, beide lachten ...
The name of the Dutch Sexminister
Juli 2012 | Vor einiger Zeit wurde meine Geschichte „Home sweet Home“ von einem Schauspieler im Gewandhaus vorgelesen. Ich saß im Publikum und war von mir beeindruckt. Kurz darauf erhielt ich eine Email von Richard Büdke (Name geändert). Ich dachte, bestimmt jemand, der ein Autogramm von dir haben möchte. Herr Büdke schrieb, er finde, daß Schriftsteller eine gewisse Verpflichtung empfinden sollten, die deutsche Sprache zu pflegen. Doch vielleicht fielen ...
Worlding 2 / Regenlametta
Blanka Beirut ist keine Muslimin, aber weiß man's denn? Wo doch das Wort „Allah“ sich ungehindert Zutritt zu ihren Buchstabenräumen verschafft hat. Also doch Muslimin? Zielscheibe Blanka antwortet nicht und betrachtet die Wolken und Wörter der Woche. Sie fragt sich, ob ihre Tagebuchstaben auch als eine Akte zu bezeichnen sind. ...
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