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Mittwoch, 13. Januar 2021

Für immer Winter

 oder Größe im Kleinen – Grüße aus dem Stilschaufenster

Mit „Für die Galerie“ liefert der 1992 geborene Lesebühnen-, Slam- und Reisepoet Yannick Steinkellner sein Debüt ab und legt ein in Wiener-Winter-Grau gehaltens Buch vor. In der Vorrede mit Corona- und Aktualitätsbezug wird das Buch gleichermaßen gerechtfertigt, wie eingeordnet und relativiert. Steinkellner macht sich also – ganz der Tradition der Poetry-Slam-Bühnen-Figur folgend – erst mal ganz klein, um dann ganz groß raus zu kommen, ganz groß raus vorerst aus seiner Mutter. Denn los geht’s mit einem Auftakts-Black und der „Kindheit“- Einblendung. Das hat optisch was von einem Grabstein. Wird hier die Kindheit zu Grabe getragen?, fragt man sich. Nein. Es wird erst mal geboren, krass in die 1990er Jahre und Graz hineingeplatscht. Papa Postler, Mama fetzt und macht in Religion. Dass aus dem Jungen was werden muss, scheint in die 8020-respektive-8010-Wiege gelegt. Und er wird! Er wird zum Blonden mit dem WM-Ball, zum Mannschaftsarbeiter, zum sympathisch-frechen Besserwisser ohne großen Bruder aber mit großen Leidenschaften, der gerne Rolltreppe im Kastner fährt, weil man selbst in einem Konsumtempel (beim Spielkonsolen-Testen) etwas fürs Leben lernen kann: „das der Gewinner bleibt und der Verlierer den Platz räumen muss.“ (S. 27)

Unser Held und Erzähler will natürlich ein Gewinner sein, räumt aber auch ein, schlechte Tag zu haben und besonders schlecht geht’s ihm, wenn es anderen schlecht geht – konkret: seiner Familie. Den Tod seiner Großeltern verarbeitet er in einer Geschichte, die Trauerarbeit sichtbar macht in Form von Satzschleifen, die sich um den Kranz der zu Beerdigenden winden. So kann man literarisch wirkungsvoll mit Trauer umgehen und sie über Satzumwege zum Ausdruck bringen, ohne dabei formelhaft zu werden.

Wir halten zwischenzeitlich fest: Nach dem persönlichen Auftakt in der Vorrede, folgte ein vorwiegend auf Sprachwitz- und Sprachspitzfindigkeiten bauender Text, dann einer, der auf die Emotionen und Erinnerungen abzielte und einer, der die Literarizität syntaktisch bewies. Es folgt eine motivisch gearbeitete Geschichte. Das Küchenradio hält die Familie über mehrere Generationen zusammen. Das ist eine schöne Idee, funktioniert auch wunderbar, man hat die Vorfahren wie nebenbei präsentiert gekriegt und freut sich, nun richtig in deren Geschichten einzutauchen. Aber nein, es platzt der Sport herein.

Selbstbewusst machen sich die Sportgeschichten breit und klar, die knallen und schlagen wieder einen ganz anderen Ton an. Wir sind jetzt bei klassischen Vortragstexten angelangt: Lesebühnen-Prosa-Style mit Wumms und Pow und Peng! Jeder Satz ein Treffer. Warum jetzt Hirscher und Co? Weil's vom persönlichen Bild, das Steinkellner für uns (Für die Galerie) zeichnet, zum allgemeinen Österreich-Bild geht, und das ist nun mal geprägt von Wintersport und Nationalstolz.

Österreich ist Winter, Ski- und Autofahren. Wäre Österreich ein Auto, es wäre ein Puch-Wagerl oder ein Ratrac. Ja, Österreich ist feinfühlig wie ein Ratrac und jahreszeittechnisch ist Österreich ohnehin für immer Winter: mit Schneekanonen, Hüttengaudi, schlechtem Glühwein, Skilehrermentalität und Seilbahnbetreiber-Hybris. Und was macht die Österreicher*innen glücklich? Stockerlplätze (die es in Deutschland nicht mal gibt!). Und was ist die Abfahrt im Sommer? Die Formel 1. Und vor 50 Jahren waren wir da auch noch wer.

Um sein Österreichbild atmosphärisch zu verdichten fährt Steinkellner mit allerlei weiteren Textsorten auf. Da darf es schon auch mal ein Kommentar oder ein Dramolett im Dialekt sein, da hat eine Ballade ebenso Platz, wie Wortspielereien mit Erkenntnisgewinn, da steht Fan-Gesang neben Autobildlyrik.

Das großes Ganze, das hier auf vielen unterschiedlichen Arten gezeichnet wird, ist eine Momentaufnahme des Autors von sich und von Österreich. „Für die Galerie“ ist eine eindrucksvolle Stilrevue. Es ist ein Heimweh-Buch mit ambivalentem Österreich-Bild, denn Österreich verursacht mit seinem Patriotismus und seiner Weltfremdheit, seinem Größenwahn und seiner Gemütlichkeit, aus der Ferne Deutschlands besehen, eben sowohl Bauch- als auch Heimweh.

Yannick Steinkellner zeigt, was er alles drauf hat, lässt die literarischen Muskeln spielen, aber will eben nur spielen oder, um es in seinen Eingangsworten zu sagen: „sich selbst nicht zu wichtig nehmen“. Seine Geschichte wichtiger zu nehmen, das allerdings würde man sich durchaus wünschen und irgendwann dann gerne lesen wollen.

Donnerstag, 31. Dezember 2020

Fritz-Frizzante Portas

 oder Sektchen oder Proseccole? Egal. Hauptsache Brause in der Wanne und Prickel im Buch.

Es war nicht alles schlecht in diesem Jahr. Es sind auch Dinge passiert, die man sehnlichst erwartete. Es ist zum Beispiel das Buch „Die Vorbereitung der Tiere“ (edition laurin 2020) von his Diskursglitterhighness mit Schlangenfakeledergürtel Martin Fritz erschienen. Ja, Martin-ich-schreibe-momentan-nicht-an-einem-Roman-Fritz hat es endlich getan. Er hat ein Lesebühnen-und-Slam-Poetry-Texte-Buch geboren.

Es lässt sich viel Gutes über dieses Buch sagen, aber die vernunftbedingte Blogbeitragszeichenobergrenze verbietet es fast vollständig. Nur so wenig: Das Buch hat Samtpfoten, ein Wuschelfell und einen mords Potzn Hirn; es kann fliegen, pflügen und Horizonte erweitern. Die Lektüre ist mehr als eine Adventure-Kontroverse, sie ist Pflicht, Kür und Tonya Harding in Bestform. Vom Glatteis gleich in die warme Wanne, denn man kann sich auch einfach von Martin vorlesen lassen.

Zum Beispiel hier: https://www.youtube.com/watch?v=M2WeNWHFC-8

Martin-ich-kann-nicht-reimen-Fritz kokettiert in seinem Buch mit Schwächen und arbeitet „mit der Präzision einer sehr jungen Eistänzerin“ mit Vergleichen aus der Popkultur ebenso wie mit Bildern aus Szenen einer Ehe.Der Autor präsentiert uns stets beide Seiten seiner Medaille: den Meta-Martin und den Witz-Fritz. Die vorgeführten und vorbereiteten Tiere sind im Grunde auch nur Menschen aber immerhin bessere.

Martin krempelt um und die Literaturärmel hoch

Wären diese Tiere Essen, sie wären ein Lifehackbraten. Philologisch betrachtet ist „Die Vorbereitung der Tiere“ (DVDT) ein Konservatorium beglückender Wörter. Literaturhistorisch betrachtet ist DVDT gewissermaßen die Fortführung von Dietmar Daths „Abschaffung der Arten“ oder aber auch die Vorbereitung darauf. Jedenfalls rückt Martin-alles-geht-immer-nie-aber-man-darf-es-wollen-Fritz für uns aus, um uns die Welt zugänglicher zu machen und sie uns mit „kardanischer Aufhängung“ und somit allzeit anschaubar zu präsentieren.

Da müssen die Inhalts- und Handelsregister erst gar nicht gezogen werden, denn diese Texte sind, sie wesen, und wer bereit ist, sich ein bisschen auf die Kraft der Fritzschen Literatur einzulassen, wird mehr bedient werden, als gedacht.

DVDT ist patente, angewandte Lebensweltverkittung sanftes Abdriften ins gepflegte Koatlacklerische inklusive. Was bleibt: Wir wissen nicht, was kommt (doch bald ein Roman oder wieder ein neues Stück?), freuen uns aber auf alles wie die Bilche auf den Winterschlaf.

Dienstag, 15. Dezember 2020

Fließ mir die Donau runter

 Und noch ein Lockdown-Lektüre-Protokoll. Diesmal ein Buch, das man wirklich weitgehend ohne Bedenken verschenken kann. Das ist positiv gemeint, denn Weihnachten steht vor der Tür und bei den Büchern die ich zuletzt gelesen habe ("In einer komplizierten Beziehung mit Österreich" von Martin Peichl und "Dicht" von Stefanie Sargnagel) lässt sich das nicht sagen. Beides tolle Bücher aber eben nicht für alle. Das ist übrigens auch ein Qualitätsmerkmal. Sie merken schon es ist nicht ganz einfach. Es ist nie ganz einfach, Bücher zu verschenken, wenn man sich wirklich Gedanken darüber macht, ob das geschenkte Buch zur beschenkten Person passt. Aber das Hineindenken lohnt sich. 


Das Debüt von Ilona Hartmann "Land in Sicht" nennt sich Roman, ist in zweieinhalb Stunden gelesen, ist ein buntes, sehr schön gestaltetes Blumenbar Buch und ist sogar Vätern, die ihre Familie verlassen haben zu schenken. Denn um die Vatersuche geht es in "Land in Sicht". 

Jana ist Anfang 20 und ihr wäre bisher noch nie der Gedanke gekommen, dass sie ihren Vater, der nie da war, unbedingt suchen und finden müsste. Bis ihr in einer Thekennacht wer flüsterte, dass sich dadurch alles änderte, alles rund und ganz und gar erklärlich wurde. Janas Mutter hat gestruggelt, ist aber nicht verzweifelt. Janas Mutter hat auch festgehalten, wer der Vater war und Jana beschafft sie die Info aus dem Notizbuch der Mutter und beschließt: Sie will ihn kennenlernen den Donaukreuzschifffahrtskapitän Milan auf der MS Mozart. Also Äußeres verändern und Kabine von Passau nach Wien buchen und sich langsam annähern. 

Natürlich ist Jana die Jüngste und fällt von Anfang an auf. Natürlich sind die gebrechlichen Mitreisenden skurril und das Schiff bzw. diese Reiseart an sich aus der Zeit gefallen. Natürlich kommt alles anders als geplant. Aber es kommt natürlich anders. Nicht konstruiert. Das ist alles sehr liebevoll und nicht effekthascherisch. Feine Vergleiche, zartschwarzer Humor, schön bittere Selbstironie - das liest sich weg mit permanentem Schmunzeln. Mit 13 km/h Spitzengeschwindigkeit wird die Donau hinunter gecruist. Und das Kennenlernen des Vaters ist eine Art Stop-and-Go-Verkehr, nein, ein Auffahrunfall mit anschließendem Abschleppen, nein, es ist einfach eine gegenseitige Unbeholfenheit mit realistischem Ende.

Dazwischen wird in Linzer Spelunken abgetaucht, auf der MS-Mozart-Bühne mit dem Bordmusikanten Falco performt, die Donau entlang gejoggt und wieder zurück autogestoppt, gelegentlich in die Vergangenheit geblendet und schließlich - im Lachenden Esel in Wien - das Geheimnis preisgegeben, während Milan Calamari fritti bestellt. Das ist alles so skurril, so unvorhersehbar, so mitunter ungerecht wie das Leben selbst und kommt ganz leicht daher. Leicht und langsam wie die Donau aber mit ungeheurer Kraft. Man gibt sich diesem Erzählstrom gerne hin und lasst sich mitnehmen. Ein Buch für alle außer die gänzlich humorresistenten.

Donnerstag, 26. November 2020

Foltermethoden für den Hausgebrauch

oder don't try this at home

3. Lektüreprotokoll am 10. Lockdowntag

Wer oder was oder wo Demmin ist, muss man gar nicht wissen. Gespenster können überall aufmarschieren, wenn man daran glaubt, über all und nirgends, wenn man nicht daran glaubt. Die Gespenster im Demmin Fall sind allerdings historische Gespenster, die Spuren hinterlassen haben, in Erzählungen und Registern. Aber auch das ist vorerst gar nicht so wichtig. Der schwarze Schwan jedenfalls ist keines dieser Gespenster, der war zwar böse, ist aber dann im See festgefroren und unsere Heldin hätte ihn gerne befreit, hat sich also auf dünnes Eis begeben und... verrat ich nicht. Höchste Zeit, die Heldin vorzustellen. Sie heißt Larissa, möchte Larry genannt werden, ist 15, hat eine beste Freundin (Sarina), hat eine Mutter (Krankenschwester und auf der Suche nach einem Ersatzvater), hat eine Nachbarin (über 90 und spooky), hat schon auch einen richtigen Vater (LKW-Fahrer), einen Job (auf dem Friedhof) und sehr eigenartige Hobbys. Die haben mit ihrem Berufswunsch zu tun: Kriegsreporterin.

Um diesen Job ausüben zu können, muss sie knallhart werden. Sie härtet sich also ab: sperrt sich in eine Streugutbox ein, hängt Kopfüber vom Apfelbaum, probiert mit einem Freund Waterboarding aus, ach ja, dieser Freund. Der heißt Timo (Schule geschmissen, arbeitet jetzt bei Netto) und in den wäre eigentlich Sarina verknallt, aber mit Larry verbindet ihn mehr. Was? Auch das sei hier nicht verraten. Larrys Bruder ist von einem Radfahrer überfahren worden, als er drei und sie noch im Bauch der Mutter war. Das hielt die Beziehung nicht aus. Larry mag ihren Vater, hat aber was gegen die Ersatzväter, die ihre Mutter anschleppt. Vor allem, wenn diese auch noch mit Sack und Pack einziehen, wie das im Fall von Benno (Motorradfahrer, Band-T-Shirt-Träger) passiert.

Ganz schön viel, möchte man meinen, vor allem, wenn man dann auch noch die Geschichte Demmins (Mai 1945), auch die breite ich an dieser Stelle nicht weiter aus, hinzu fügt. Dennoch: Das Debüt von Verena Kessler hat nichts Schweres. Das hat mit der Leichtigkeit, mit der Unbeschwertheit der Erzählerin zu tun. Dieser 15jährigen folgt man gerne. Man zittert mit ihr, wenn sie wieder mal einen Kältetest über sich ergehen lässt. Man fiebert mit ihr, wenn sie das Bett hüten muss, weil sie es mit einem Härtetest zu sehr übertrieben hat. Man hält ihr die Daumen, dass mit Timo was weiter geht. Man hofft, dass ihre Beine Halt genug geben, wenn sie Kopf über vom Brückengeländer hängt. Man hat Einblick in einen Teenager, der es nicht ganz leicht hat, es sich aber nicht sonderlich anmerken lässt. Klar, die Eskapaden sind Folgen von diversen Traumata und (Liebes-)Entzugserscheinungen. Aber als Teenager kommt man damit irgendwie klar. Und dieses Irgendwieklarkommen ist sehr spannend. 

Der pfiffigen Ich-Erzählerin wird als Gegengewicht die Erzählung der alten Nachbarin aus personaler Perspektive gegenüber gestellt. Das ist wohltuend im Lesefluss. Die Kapitel sind angenehm kurz und perfekt quergeschnitten. Man erfährt ein Stück Zeitgeschichte, man taucht ein ins Leben einer 15- und einer 90jährigen, liest und liest und hat schließlich einen Roman einer jungen Autorin gelesen, die nicht davor zurück schreckt, schwierige Stoffe zu behandeln, da sie das nötige sprachliche Feingefühl und Können besitzt, selbst die härteste Geschichte so zu verpacken, dass sie für alle ein Geschenk ist.

Verena Kessler: Die Gespenster von Demmin (Hanser Berlin 2020)

Dienstag, 24. November 2020

Fast super

1. Lockdownwoche - 2. Lockdownlektüreprotokoll

Ein toller Titel, ein mir unbekannter Verlag und Autor, der aber – mit diesem Buch – schon den dritten Roman vorlegt und aus Osttirol kommt. Das scheint mir doch eine perfekte Lockdown-Lektüre zu sein. Fasthuber hat neulich eine ganze Seite darüber im Falter gemacht. Doris hat das Buch schon vorher, als es noch erlaubt war, in Buchhandlungen zu gehen, in der Lerchenfelder Buchhandlung entdeckt, gekauft und angelesen und gemeint, dass das etwas für mich sein könnte, denn es gehe um Herkunft, Provinz und Jugend. Alles richtig.

Der Held heißt Romed, wohnt in einem 400 Höhenmeter von Lienz entfernten Dorf und wir begleiten ihn gut ein Jahr lang. Ein besonderes Jahr. Romed steht die Matura bevor, ihm steht sein erstes Mal Sex bevor, er wird vom Kampfsportler zum Kampftrinker, vom kalkulierenden Gymnasiasten zum willigen Ferialarbeiter, vom Mofafahrer zum Autostopper, vom Kassetten-Verchecker zum Konzertveranstalter, vom peinlich Rumknutscher zum Kamasutrapraktikanten und vom Teenager, dem alles verziehen wird, zum rebellischen Zivildiener. Ein ereignisreiches Jahr. Fast zu viel für ein Jahr in der Provinz. Man hat das Gefühl, da stecken Erlebnisse aus der ganzen Oberstufe in dieser linearen Erzählung. Schnitte hätte dem Roman gut getan. Eine starke Frauenfigur hätte dem Roman auch gut getan. Denn die Helden sind hier eindeutig die Männer, die Burschen, die Bubis. Das mag zwar sehr der Realität der 1990er Jahre in Osttirol entsprechen, aber um historische Authentizität geht es ohnehin nicht.

Um was geht es? Natürlich ums Erwachsenwerden. Um das Eintauchen in die frühen 1990er Jahre. Da leistet der Roman ganze Arbeit. Auch wenn man es selbst anderes erlebte, öffnet der Text Erinnerungsräume und lässt einen diese, mal fröhlich, mal peinlich berührt, betreten. Die Schulzeit – vor allem das Lernen auf die Matura – wird äußerst präsent. Die diversen Nöte sind evident. Der Übermut, die Ungeduld, das Nicht-besser-Wissen und Noch-nicht-Wissen-was-genau-Wollen wird ohne WHAM! Und ABBA transportiert. Natürlich kommen Romed und seine Kumpels ohne Hitparadenmusik aus, sie sind anders. Aber ganz raus aus den Strukturen kommen sie doch nicht. Sie strampeln. Sie tanzen Pogo. Sie grölen Punklieder. Sie arbeiten daran, gute Menschen zu werden, die nur mal eben testen müssen, wie viel Bier sie vertragen, wo, wie und mit wem sie leben wollen und was sie eigentlich machen wollen. Normale Teenagernöte flüssig, ja, süffig aufbereitet.

Es gibt eine Fußnote im gesamten Text, im ersten Kapitel. Darin wird erklärt, dass zum besseren Leseverständnis, alles in Euro angegeben wird, was mit Geld zu tun hat. Das ist ein krasser Illusionsbruch. Das tut einem Leser, der selbst in den 1990er Jahren das Trinken lernte, weh. Das ist eine schmerzliche Fehlentscheidung, die sich leider durch den ganzen Text zieht und immer wieder unangenehm aufstößt. Dabei ist der Text sonst über weite Strecken super zu lesen. Moser-Sollmann erzählt souverän, rasant und man folgt dem Leben des vermeintlichen Taugenichts gern. Vor allem, wenn er nicht über Mädchen schreibt. Denn da geht nicht nur für Romed, sondern auch für den Erzähler viel schief. Die Mädchenfiguren sind austauschbar, in der direkten Rede klingen sie nach Bravo-Dr.-Sommer und eine tragende Rolle hat lange keine. Beim Zivildienst nur männliche Arschlöcher, die besten Freunde Sid und Breiti, der Musik-Magazin-Herausgeber und Harley-King Moritz, als Nachbarn in der Pfadfinder-Bude Burschenschafter und sonst richtet es auch eher der Papa als die Mama. Der Ich-Erzähler ist im Aufdecken von Rassismen bei seinen Arbeitskollegen sehr gewandt, gibt sich generell open-minded, kritisch und ist ein wacher Geist, wenn er nicht gerade diverse Drogenerfahrungen machen muss, das Frauenbild aber ist erschreckend eindimensional. Das ist schade und macht den Roman leider nicht zu einem Bedenkenlos-zu-Weihnachten-an-Freunde-Verschenk-Buch.


Christian Moser-Sollmann

Ohne WHAM! und ABBA

Dachbuch Verlag 2020

Freitag, 20. November 2020

Ganz schön frech am Lesofantenfest

Eine Mitmachlesung für die ganze Familie von mir für euch! Im Rahmen des Lesofantenfestes 2020 ist dieses Video entstanden. Publikum war keines erlaubt. Das Publikum seid ihr! Ich habe aus "Ganz schön frech. 52 Gedichte für die ganze Familie" gelesen. Die Illustrationen stammen von Robert Göschl. Ein Buch, das sich perfekt als Weihnachtsgeschenk eignet. 

Mittwoch, 18. November 2020

Lockdownlektüre

 2. Lockdown-Tag - 1. Lockdown-Lektüreprotokoll

PARK von Marius Goldmann (edition suhrkamp 2020)

Ein Debüt eines 1991 Geborenen, der in Hildesheim studierte, soll das erste Buch im zweiten Volllockdown sein. Eine gute Wahl, ein schönes Buch (rein äußerlich, ich mag die edition-suhrkamp-Schlichtheit, wobei diese Buch eh mit einem tollen Schutzumschlag ausgestattet ist - siehe Foto), ein geglücktes Debüt. Der Klappentext spricht von "literarischem Wagemut" und meint damit wohl auch, dass der junge Autor die Leserinnen und Leser spüren lässt, dass sie - ich! - alt sind, dass es aber dennoch gelingt, davon nicht abgeschüttelt zu werden. Die 40jährigen sind in diesem Buch die Alten, die komische Dinge machen. Das führt Goldhorn fein vor und er hat ja auch recht. Dennoch bedient er diese Leserinnenschicht schon auch, denn seine Lektüre sind lauter Klassiker des 20. Jahrhunderts (von Brinkmann, Fichte, Plath bis Pessoa, K. Dick und Ujvary). Diese Namen werden nebenbei gedropt, der Held - Arnold - liest darin und am ehesten fließen noch Pessoa-Spuren dann auch in den Text bzw. die Gedanken Arnolds ein. Arnold ist sensibel, am Puls der Zeit und klassisch gebildet. Er ist auf jeden Fall nicht arm und steht noch nicht ganz im Leben aber auch nicht ganz daneben. Er wird dann wohl mal ein Buch schreiben. Noch wohnt er in Berlin, Moabit und lässt das Leben auf sich zu kommen. 

Eine WG-Party beschert ihn die Bekanntschaft mit Odile. Daraus wird dann schnell mehr, so schnell, dass ein halbes Jahr viel zu schnell vorbei und Odile dann nach London gehen - Kunst-Uni-Ding - und Arnold wieder alleine klar kommen muss. Er spürt sich eh - da ist ein Ausschlag auf seiner Brust, der juckt, also ist er da, in der Gegenwart. Obwohl er das Abdriften in Träume schon sehr gerne macht und nichts dagegen hätte, interessierten sich Aliens für ihn. Er selbst hat breit gestreute Interessen, liest nicht nur, sondern wählt auch die Musik, die er hört sorgsam aus, kann mit bildender Kunst was anfangen und Filme, Filme sind sowieso Vorbild in vielen Belangen. Trifft sich gut, dass Odile Filmerin ist. Ein Film-Projekt in Athen wird sie schließlich wieder zusammen bringen. Aber mal langsam.


Park ist in vier Kapitel gegliedert, die zeitlich so anzuordnen sind: 2, 1, 3, 4. Wir lernen Arnold in Paris kennen, da landete er, weil er einen billigen Flug nach Athen wollte, und den Aufenthalt in Paris gerne in kauf nahm. Im zweiten Kapitel erleben wir das Kennenlernen und Liebenlernen in Berlin. Dann das Wiedersehen in Athen und schließlich ein düsteres Ende in einem Flughafenhotel (Überbuchung!) bei Stromausfall. 

Ganz selbstverständlich schauen alle immer auf ihre iPhones, lesen Wikipediaartikel, schauen Youtubevideos und texten sich selbst, wenn sie gemeinsam an einem Tisch sitzen. Es wird sich auch eher über skurrile Netzkuriositäten unterhalten als über vor Ort Passierendes, da ist die Standardantwort dann doch oft: "Keine Ahnung". Und es ist auch okay, noch nicht viel Ahnung vom Leben zu haben. Die Figuren in diesem Roman sind aber wenigstens auf der Suche. Sie sind neugierig und üben sich in Weltgewandtheit. Besser als die Biedermeierei die grad unter Jungen grassiert. Was anscheinend immer gleich bleibt, ist der Ablauf von WG-Partys. Nicht mal die Drogen ändern sich groß. Da kann der 45jährige sagen: Ja, so war das in den 1990er Jahren auch schon. Und ein selbstbewusster Mittzwanziger hört darüber gnädig hinweg. 

Park ist im Ton souverän. Park will nicht zu viel, aber das hat er voll drauf. Liebe ist kompliziert aber schön, das kann man nicht oft genug zeigen. Als Demo-Tourist in Athen lernt man allemal mehr als in Zoom-Sessions. Alten Männern Geld abzuknöpfen, ist in Ordnung, auch wenn die eher an körperlichen als an geistigen Diensten interessiert sind. Aliens sind nicht die schlechtesten Menschen. Zock-und-Kiff-Freundinnen und Freunde brauchen alle. Und mal auf die Schnauze zu kriegen, hilft dann doch mehr sich zu verorten und zu spüren, als ein Ausschlag auf der Brust.

Darf's ein bisserl mehr Leben sein? Ja, Arnold würde zwar selbst nicht fragen, aber er versteckt sich auch nicht nur in seiner Bude und im Netz. Arnold reiht sich immerhin ein in die Schlange an der Wurstthekte des Lebens und wenn er dann dran ist, sagt er vermutlich: Keine Ahnung. Aber er war da und vielleicht geht er mit der Hinterfrau dann sogar auf ein Dosenbier im Park. Sehr sympathisch. Prost!


Samstag, 22. Dezember 2018

Die Babelfischfarm der hyperrealistischen Hyperbel

Ein beliebter Schlachtgesang lautet: „Immer wieder Österreich“. Helmuth Schönauers aktueller Roman trägt den Titel: „Nie wieder Tirol“. Das ist eine Ansage. Der Untertitel lautet: „Fahren Sie weiter! Es gibt nichts zu sehen!“ Die Gattungsbezeichnung: „Kampf-Roman“. Damit ist schon sehr viel gesagt, quasi: Immer wieder nie wieder Tirol und zwar in 15 Entladungen (Dick-, Dünn-, Mast- und 12 Fingerdarm = insgesamt 15).
Wer Literatur von HeSchö kennt, weiß: Auch derb muss sein. Offen wie ein künstlicher Darmausgang ist diese Prosa. HeSchö demonstriert, dass Locker-Room-Talk für Tiroler nichts anderes ist, als locker rumreden. Sei's im Landtag, sei's in der Literatur und der aktuelle Fall des SPÖ-Vorsitzenden Dornauer beweist, wie treffend die bewusst übertriebene Literatur HeSchös im Kern eigentlich ist. Da bleiben die Formulierungen oftmals in der Horizontalen und kommen nicht recht auf, prangern aber genau diese Ausdrucksweise damit auch an. Ja, Literatur ist ein Spiegel. HeSchös Literatur ist kein gesellschaftlicher Schminkspiegel sondern ein kollektive Darmspiegelung.
Werner Schwab hat einen Essay mit dem Titel „Der Dreck und das Gute“ geschrieben. HeSchös Literatur ist sehr sekret- und körperabriebaffin und immer geht es um alles, um alles, was scheiße ist. Tagespolitik gehört da naturgemäß dazu. Von Missständen im Festspielhaus Erl, über Mist in diversen, geförderten Startup-Zentren, bis zum Stau an allen Fronten: Kopf, Grenzen, Genitalien. Der Verkehr wird als Grundproblem entlarvt. Zuviel Verkehr da – zu wenig Verkehr dort. Und wenn sich so viel anstaut, dann muss es irgendwann explosiv raus. HeSchös Grundstilmittel dafür: die Hyperbel. Die Hyperbel könnte auch eine Figur in HeSchös Romanen sein. Sie könnte beispielsweise in einem zu Tode tourismus-terrorisierten Seitental japanische Schlafschachteln vermieten. Und HeSchö ist hyperrealistisch, nichts ist ganz aus der Luft gegriffen (Darf ich mir einen Roman mit dem Titel „Die Babelfischfarm der hyperrealistischen Hyperbel“ wünschen?). Alles, was er thematisiert, schwirrt schon in der Luft, stinkt schon längst und gehört ausgesprochen. HeSchö speibt's gern raus. Er ist Katalysator. Das müssen nicht alle mögen. Man kann es aber auch so sehen. HeSchö greift für uns ins Klo und wir können uns an seiner Literatur abputzen.
Endlich ist die Schranzhocke literarisch verewigt, endlich hat auch mal jemand über Reutte geschrieben, endlich hat das Bergisel Museum eine entsprechende Würdigung erhalten. HeSchö prangert den Landausverkauf gleichermaßen an wie die Ausbeutung von temporären Arbeitskräften im Bio-Radieschen-Ernteeinsatz in den Thaurer Feldern. HeSchö hat seinen Spaß an der Vorlass-Kisten-Bearbeitungs-Germanistik und der Verzwergung der heimischen Verlage. Wir lernen, was es bedeutet, einen Felix zu machen und wie das Klier-Aquarell-Lebensmodell funktioniert. Und weil HeSchö immer auch Bibliothekar und Literaturvermittler ist und bleibt, gibt es am Ende eine leser_innenfreundliche Thesenstraffung: „Dieses Buch macht Ihnen ein Angebot für den günstigsten, erlebnisreichsten und witzigsten Urlaub, den Sie je erlebt haben. Bedingung: Sie dürfen nicht nach Tirol fahren!“
Wer brav über sein Land schreibt, darf zur Belohnung Gebrauchsanweisungen, Reiseführer oder gar Kolumnen in offiziellen Tirol-Magazinen verfassen. HeSchö schreibt seit Jahrzehnten über Tirol (was die Kontinuität betrifft also sehr, sehr brav) aber niemals inhaltlich brav und das ist gut so, denn brav und gut und harmlos ist schon so vieles. Nie wieder brav! Immer wieder Schönauer.

Helmuth Schönauer
Nie wieder Tirol
Edition BAES 2018

Montag, 26. November 2018

Joshua Cohen bei Anderswelten

Gestern war Joshua Cohen bei Literatur im Herbst im Odeon Theater. Gestern war auch DUM Präsentation im Anno. Klar, ich war im Anno. Klar, ich wäre gerne auch bei Cohen gewesen. Ilija Trojanow hat ihn vorgestellt und im Wespennest nicht wirklich positiv besprochen. Dem möchte ich meine Begeisterung entgegen halten und hier mein Lektüreprotokoll, so wirr wie das Buch irre ist, preisgeben.

Joshua Cohen beauftragt Joshua Cohen mit dem Schreiben einer Biografie. J. C. 1 Ist der Große Vorsitzende von „Tentration“ (nenn's Google). J.C. 2 ist ein Schriftsteller am absteigenden Ast, was seinen Zynismus nährt. Mit erfolgreichen Menschen – auch seinen Freunden, auch seiner Frau – hat er ein Problem, für andere – zB den neuen Schauspielerfreund seiner (Noch)Frau hat er nur Verachtung über. Drogen aller Art werden nicht als Problem wahrgenommen. Das gemeinsame Kind nicht als Möglichkeit eines Neustarts. Ein nachlässig geführtes Interview mit dem GroVo bringt ihn schließlich den Job ein, der alles ändern könnte, könnte er sich bloß ändern, dieser J.C.2. Dazu sieht er aber vorerst keine Veranlassung. Er sieht nur sich und findet sich gut. Nach Suchen ist ihm nicht. Suchen aber ist das große Geschäft von J.C.1., der sich seinen Ghostwriter nicht ohne Hintergedanken ausgesucht hat. Klar, der GroVo hat was am Kasten, ist Techie aber auch philosophisch und theologisch beschlagen, kommt aus gutem, spannendem Hause und hat in seinen Tonbandprotokollen viel zu sagen und zu berichten. J.C.1 ist zweifellos genial, das Hardware-Genie Mo bringt den nötigen Wahnsinn in die Story und in das Unternehmen und bis mal wer kapiert, was diese Freaks mit ihrem Algi vorhaben, machen andere Start-ups schon Millionen. Das kommt für Tentration auch noch. Dass wer sucht, von anderen gefunden werden kann, ist das big business: big data im alten Jahrtausend. Mo, der Tüftler, Bastler, Fernbedienungs- und andere Gerätschaften-Erfinder. J.C.1 der, der in der Wir-Form von sich spricht und für humanistisch-theoretisch-technologischen Hinterbau sorgt. Denn die studentischen Experimente führten nur deshalb nicht zum Rausschmiss, weil die M-Einheit (so wird die Mutter genannt), Uni-Prof und ein Heimkehren-immer-möglich war. Der Aufstieg gelang dann erst, als die Geldgeber ihre Bedingungen durchsetzten – einen Geschäftsführer, der sich wäscht und auftreten kann (Kar). Und weil am GroVo der Bauchspeicheldrüsenkrebs nagt, packt er aus und J.C.2 hat zu transkribieren.
1 – 0 – 1 so ist das Buch der Zahlen unterteilt. Der mittlere ist die Tonbandtranskription. Im ersten die Einführung J.C.2 und im dritten Ava's (Frau von J.C.2) Blogeinträge, diverse Mails an den Abgetauchten J.C.2 und dessen Trip von Dubai nach Berlin, Frankfurt, Wien, die geschlagene, verschleierte Frau und J.C.2s-Heldenaktion inklusive erneutem Seitensprung wäre noch zu erwähnen. Die Buchmesseneskapade oder auch der Tod seines Agenten und und und. Der Y2K Bluff, die diversen Vorgeschichten, das Jüdische, Buddhistische, Hinduistische, anderweitig Metaphysische...
Formal gibt es: Mails, Blogeinträge, Transkriptionen, Romanauszüge, Mitschriften von Museumsführungen, Zitat aus Forschungsliteratur, Gestrichenes, noch Auszuarbeitendes, …
Inhaltlich: Suff, Sex, Gewalt, Genialität, Wahnsinn und Überwachung, Stadt, Macht und Kontrolle...
Da wird aus einer Wissensfülle geschöpft, die platt macht und auch poetisch besticht. Die Sprache ist so was von auf der Höhe der Zeit und vom klassischen Literatursound wohlig abgespeckt – da spritzt das Fett (=Wortgeschmacksverstärker) bloß so...
Alles drinnen in diesem Buch und dann noch funkelnde Details und generell brillantes Schreiben, egal, um was es grad geht. Mutig, frech, klug, unantastbar ist das, unerreichbar. Kein Nach-unten-treten vielmehr ein Den-Mächtigen-die-Stirn-bieten. Keine Angst vor gar nichts aber alles können und sich erlauben und es dabei nicht unlesbar heraushängen lassen.
Ein Ziegel, ein gewichtiges, wichtiges Stück extrem aktueller Literatur mit Vexierspiel- und Schlüsselromanmomenten. Weltliteratur – the hottest shit you can get 2018. Kniefall, Bewunderung, Perplexität und große Freude!

Montag, 1. Januar 2018

Jahresrückblick: Roman Empfehlungen


Dem Silvestermuffel ist im neuen Jahr mehr Zeit gegeben. Das gilt zumindest für den ersten Tag im neuen Jahr, der dafür genützt werden soll. Höhepunkte des vergangenen Jahres noch einmal kurz Revue passieren zu lassen.

Für eine Weihnachtsgeschenke-Empfehlungsliste ist es zu spät. Aber wenn noch wer was Umtauschen oder einfach Neukaufen will. Hier meine Lieblings-Romane 2017. „Das Floß der Medusa“ von Franzobel. Franzobel nimmt einen spannenden, historischen aber hochaktuellen Stoff in die Hand und bearbeitet ihn auf seine Weise. Da kann er all seine Qualitäten ausspielen. Da geht sein Sprachreichtum auf. Da darf barock gewuchert werden. Da hat sich einer freigeschrieben und eine eigenwillige Erzählform und Metaphernsprache gefunden, um diesen Stoff zugänglich zu machen.

Die Überraschung des Jahres war für mich der polnische Autor Ziemowit Szczerek. Das Buch hat mich vom Titel und von der Covergestaltung her angesprochen. Ich mag die Sonar-Serie bei Voland & Quist. Aber dass „Mordor kommt und frisst uns auf“ mich dermaßen überzeugen würde, dachte ich nicht. Bitter böse. Politisch. Dreckig. Alte Beat-Poeten-Schule und doch neu. Ein Roadmovie-Roman in den wilden Osten. Eine Ukraine-Erkundung eines Polen, der diesen dort demonstrativ raushängen lässt. Geografie, Geschichte, Getränke. Ein süffiges Stück Literatur eines Autors, dessen Namen man sich schwer merken kann, den man sich aber merken sollte.

Wer mehr über Russland und seine verworrene Geschichte erfahren möchte, der darf gerne zu „Die Welt des Herrn Bickford“ von Andrej Kurkow greifen. Da macht sich wer mit einem Tornister auf den Weg quer durch das Land und zieht eine Zündschnur hinter sich her. Skurril, witzig, toternst und erhellend.

Ein Sprung zur Supermacht auf der anderen Seite des Pazifiks sei an dieser Stelle gemacht und John Wrays „Lowboy“ nahegelegt. „Der Retter der Welt“ heißt dieser Roman in der deutschen Übersetzung. Wray ist ja halb Amerikaner und halb Kärntner und dass er auch auf deutsch schreiben kann, hat er beim diesjährigen Bachmannpreis-Lesen bewiesen. Lowboy ist bereits 2009 erschienen, bildete seit 2010 einen Fundamentbaustein meines Noch-zu-lesen-Büchertrums und hatt mich gleich in seinen Bann gezogen. Es geht in den Untergrund, in die New Yorker U-Bahn und tief in die Psyche des Helden Will Heller.

Ganz und gar nicht schlecht auch:
Der Fisch in der Streichholzschachtel“ von Martin Amanshauser. Kreuzfahrt. Piraten. Zeitlöcher. Beziehungsgeplänkel und viel Meer.
Ein weißes Feld“ von Lucas Cejpek. Ein Mann sieht weiß und macht das zum Konzept, das aufgeht, einleuchtet und fasziniert.
Kraft“ von Jonas Lüscher. Nach „Frühling der Barbaren“ mit Engländern und einem Schweizer in Tunesien und der totalen Kapitalismus-Katastrophe geht es jetzt ins Silicon Valley, zu einem Wettbewerb „Weshalb alles, was ist, gut ist und wie wir es dennoch verbessern können“. Rhetorikprofessor Kraft setzt alles auf eine Karte und wir schauen ihm schaudern und belustigt dabei zu.
Eine Klassiker-Lücke habe ich dieses Jahr auch endlich gefüllt und zwar mit großer Begeisterung:
Die größere Hoffnung“ von Ilse Aichinger ist bereits 1948 erschienen und scheint mir eines der stärksten Bücher über den Krieg und seine Folgen. Ihrer Zeit weit voraus findet Aichinger eine poetische Sprache und dekonstruiert Formen und Muster lange bevor dies zum State of the art wurde. Grandios!

Lyrikbände, Literaturzeitschriften, Essays und Bücher mit Bildern oder so hab ich natürlich auch brav gelesen. Vielleicht demnächst (oder im nächsten Jahr) mehr darüber.

Samstag, 19. März 2016

Städteroulette

Der neue Roman von Barbi Marković ist da. Er heißt Superheldinnen und ist bei Residenz erschienen. "Ausgehen" (Edition Suhrkamp) ist noch bestens in Erinnerung, danach hat sich Barbi Marković als Stadtschreiberin von Graz, Hörspiel- und Theatertextverfasserin verdingt, aktuell macht sie eine Ausbildung zur Bibliothekarin, jetzt wuchtete sie aber erst mal drei Superheldinnen in die Welt. In die Wien Welt (aber nicht nur).
Die home base von Mascha, Direktorka und der Ich-Erzählerin ist das Café Sette Fontane, dort treffen sich die drei jeden Samstag, um an ihrer Kolumne für die Zeitschrift Astroblick zu arbeiten. Die heißt Schicksalsblitz und bündelt die Aufmerksamkeit der LeserInnen und der drei Superheldinnen auf ein Schicksal, um dieses zu verändern. Die zweite Superkraft ist die "Auslöschung". Die scheint Thomas Bernhard inspiriert und wird seltener angewendet.
Das Sette Fontane ist ein typisches Wiener Tschocherl mit einem Kellner der ein Gschichtldrucker ist und AlkoholikerInnen-Inventar. Diese Gschichtln sind oft Höhepunkte, wenngleich auch tragisch-traurige. Wien zeigt sich eher unwirtlich. Der Winter ist lang und in Berlin ist es noch kälter. Dafür ist Belgrad "wie ein aufgerissener grauer Kuhfladen" und im Nebenschauplatz Sarajewo stirbt Maschas Vergangenheit Rabija.
Ja, es geht einerseits um Städteporträts - Barbi Marković verwendet die Technik der Stadtabschreibung, die sie in Graz entwickelt hat, dh, sie schreibt konsequent Schilder, Hinweise, Werbungen, Graffitis im öffentlichen Raum ab und vertextet/verdichtet sie - aber es geht vor allem darum, sich fern seiner Heimat in einer neuen Stadt, eine Existenz aufzubauen, ohne groß die Mittel dafür zu haben. Es geht um das Abweisende von Städten. Es geht um die Sehnsucht, in der Mittelklasse anzukommen. Es geht viel um Einsamkeit und Depression. Aber Barbi Marković weiß, wie man das einerseits ergreifend, andererseits aber auch immer wieder sehr verschlagen humorvoll machen kann.
Die drei Superheldinnen helfen einander und bündeln schließlich ihre Kräfte, um das Lebensziel Mittelklasse (nicht nur mehr mit Fragen der Existenz beschäftigt sein, sondern sich Konsum und anderen Problemen hingeben zu können) zu erreichen. Sie machen Geld im Casino und die Entwicklung ist eine fragwürdige.
Fraglos aber ist. Diese Superheldinnen sind erfreulich anders, nämlich von hochkomisch bis zu Tode betrübt.

Freitag, 18. März 2016

Popliteraturdebatte reloaded?

"Man hört ja so Sachen, und am Ende waren's immer die Netten.", schreibt Ronja von Rönne bzw. ihre Heldin Nora bereits auf Seite 11 in ihrem Romandebüt "Wir kommen" (Aufbau 2016). Man hört ja seit einem Jahr so allerhand von RvR. Sie deklarierte sich als Egoistin - nicht als Feministin. Machte mit provokanten Blogeinträgen und journalistischen Beiträgen für die Welt auf sich aufmerksam, war 2015 auch beim Bachmannpreislesen mit dabei, fiel da zwar durch, aber eben auch auf, weil sie einen eigenen Tonfall hat. Weil sie keine Scheu vor gar nichts hat und weil sie pointiert böse formulieren kann. Ob sie eine Nette oder einfach eine gut auf den Literatur- und Feuilletonbetrieb Vorbereitete ist, sei vorerst einmal dahingestellt. Jedenfalls scheint sie einen Gesamtplan zu haben und in diesem Plan war jetzt der Debütroman dran. "Wir kommen" also. Klingt nach einer Drohung ist aber im Text, auf einer Party einfach die Antwort auf die Frage: "Gehen wir?" Wer fragt, wer geht, wohin?

Es geht um eine experimentelle Viererpack-Beziehung: Nora, Leonie, Jonas und Karl + Kind von Leonie: Emma-Lou. Emma-Lou schweigt trotz ihrer 5 Jahre. Sie hat ihrer Welt nichts zu sagen. Nora schreibt, das hat der Therapeut empfohlen. Von dem bekam sie ein Notizbuch mit Streichholz vorn drauf inklusive englischem Wortspiel ("it's a match"). "Ich habe genickt. Das kann ich gut.", schreibt Nora (S. 12). Und natürlich kann sie auch das aufschreiben gut. Sie konzentriert sich auf Details und gibt sich sprachlich motivierten Auseinandersetzungen hin. "Ich bin eifersüchtig auf jeden Gegenstand mit einem weiblichen Artikel. Die Marmelade. Die Tür. Alles Schlampen." (15)
Nora weiß, was sie macht, was kein Grund ist, es nicht zu machen. "Meine Gedanken sind nicht gut, und meist folgen ihnen Taten. Und den Taten dann Probleme." (38) Selbsterkenntnis schütz nicht vor Problemen!
Sie deckt Marotten der Pärchensprache gnadenlos auf, sie treibt ihre Analysen schön auf die Spitze. So steht dann beispielsweise am Ende einer längeren Betrachtung das Einkaufsverhalten der Menschen im Kaufland betreffend: "Wahrscheinlich bricht das ganze System zusammen, wenn Putengeschnetzeltes nicht im Angebot ist." (30)
Die Heldin ist in Therapie, weil sie mit nächtlichen Panikattacken zu kämpfen hat. Ihre Kindheitsfreundin Maja - die angeblich gestorben sein soll, so hebt der Text übrigens an - hat auch so ihre Probleme, aber war vor allem für alles zu haben und wusste sich immer zu helfen: "Rausgehen hilft gegen Angst vor Rausgehen." (41) Wie wahr!
Und warum ist diese Generation so? Hat das epigenetische Gründe? "Das Unglück liegt in der Verfügbarkeit von Alternativen." (102)

Ja, diese Leute haben alles, aber sie haben eben auch neue Probleme "die vage Langeweile unserer sandigen Leben." Kleinigkeiten werden Katastrophen. Moral muss nicht sein. Nora arbeitet als Moderatorin der Fernsehsendung Super-Shopper. Karl schreibt Sachbücher (u.a. über das Glück: "Es ist unfair, dass ich ohne Talent unglücklich bin, während er damit Geld verdient." 98). Jonas ist Grafikdesigner für eine Werbeagentur. Leonie lächelt, ist schwarz und bringt Multikulti-Touch in die Viersäulenbeziehung.
Der Plot ist einfach aber auch einfach gar nicht so wichtig. Nora notiert. Das Beziehungskonstrukt wackelt. Die Krise wird bekämpft, indem man sich in ein Strandhaus zurückzieht und weitgehend auf Smartphones verzichtet. Dazwischen ploppen immer Maja-Geschichten auf und der Tod schwingt im Hintergrund. Etwas Verbindendes für die Gemeinschaft wird gesucht. "Hauptsache ein Uns." (74)
"Plotlos unglücklich" wäre eine gute Überschrift für einen Verriss. Und Verrisse wird es geben und hat es schon gegeben (Klaus Nüchtern im Falter z.B.). Aber man kann einfach auch eine Freude daran haben, wie Nora den Metaphern misstraut, wie sie Verhaltensmuster demaskiert und ihren Schreibprozess permanent hinterfragt. Das ist Sprachskeptizismus NEU mit ordentlich Humor und vielen schönen Sätzen.
Christian Kracht wurde für "Faserland" vor 20 Jahren auch nicht nur geliebt. Ronja von Rönne mag zwar grad zu viel Thema sein in Medien aller Art, aber sie hat es offensichtlich geschafft, das nächste Level in ihrem Spiel mit den Marktmechanismen zu erreichen. Dass es nach wie vor so einfach ist zu provozieren, überrascht zwar, aber gut, besser Empörung als Ignoranz.
Man muss "Wir kommen" einfach nicht als Drohung auffassen, dann kann man sich an vielen Bonmonts erfreuen und darauf freuen, dass RvR sicher noch viele aufregende Bücher schreiben wird. Ich jedenfalls hatte meinen Spaß.

Dienstag, 31. Dezember 2013

Nachbeben

Flughafenstillleben in Bergen (Norwegen)
Strandstimmungsstillleben am Fakersee (Kärnten)
Inselstillleben mit Hemd (Griechenland)
Haltestellenstillleben an der Wand (Niederösterreich)
Ein Jahr im Schnellrückblick. Pro Monat ein spezielles Ereignis (Buch/Film/Auftritt/Erlebnis). Herausragend im Jänner war die Live-Aufnahme der Ping Pong Poetry CD am 14.1. im rhiz. Mieze Meudusa und ich in Höchstform und das Publikum in Applauslaune. DANKE! (Buch des Monats: Land spielen von Daniel Mezger).
Der Februar war dominiert von der Usbekistan-Tour (16.-22.): Eine Woche Exotik an allen Fronten und danach direkt auf die Habil-Fete vom guten alten Steinacher Roland (BdM: loslabern von Rainald Goetz).

Im März verstand man mich in Kiel nicht dafür aber in Lübeck und auf Sylt und mit Auszügen aus dem Standardwerk von Franz Holzmann Durch weniger Sex intelligentere und gesündere Kinder (BdM) gewann ich in Hamburg den Cover-Slam.

Thor Kunkels Subs (BdM) begleitete mich durch den April, der mich von Ostrava über Sarajevo bis nach Bergen führte. Dennoch war das Städtebattle München-Innsbruck am 6.4. in der Bäckerei ein Jahreshighlight ohne gleichen.
Mit Jörg Fauser Goethe, Trotzky und das Glück (BdM) wandelte ich durch den Mai, Maribor, Zagreb, Zadar, Rijeka und Ljubljana und tourte mit den amtierenden Ö- und CH-Slam-Champs Klaus Lederwasch und Renato Kaiser durch Österreich - schön und ganz schön anstrengend.

Im Juni busbimste es mich nur so durch die Bezirke Wiens, passend dazu die Präsentation von Wien schön trinken (BdM hg. von Vanessa Wieser) am 13.6. im phil und passend dazu der neue Krügerlrekord im Schweizerhaus mit anschließender Saisonausklangs-DUM-Präsentation im Anno (hui!).
Der Juli hatte viele schöne Seiten in Buch- und anderer Form. Zum Beispiel den Schafsberg (1783m) am 9.7. oder aber Isabella Straubs Südbalkon (BdM) oder auch den Wauberg am Fakersee oder auch den Nachhauseweg vom poolbar-Slam am 21.7. und natürlich die Geburtstagsgrillfeiern in Nassereith.

Der August wurde - fast schon traditionell - auf Zakynthos verbracht mit vielen Workshops, Büchern und u.a. Sand (BdM) von Wolfgang Herrendorf kurz vor seinem Abgang.
Am 19. September erslammte ich das Faltrad Jango und erfreute mich auch über Frühling der Barbaren (BdM) von Jonas Lüscher. Der September hatte aber auch z. B. Sprachsalz in Hall und Meat-Pepo-Slam mit Viech live und Spanferkel in Aich zu bieten.

Im Oktober, am Nationalfeiertag las ich das Buch des Jahres: Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters von Tilman Rammstedt, kaufte mir eine neue Brille und trank Vodka in Warschau.

Whisky war's dann im November in Bielefeld - aber nicht nur! Ich verlor auch meine Stimme auf der Buch Wien und fand sie in Salzburg beim Dead or Alive Poetry Slam in der ARGE wieder, um gegen Ingeborg Bachmann zu bestehen. Bestechend war Der weiße Hai von Peter Benchley (BdM).

Kaktusstillleben mit Beistand in Venedig (Italien)
Die Dezember-Tour mit Wolf Hogekamp (Langenlois-Wien-Graz) Anekdoten, bulgarischem Schnaps und Poetry Clips im 40er-Hof-Kino war nur noch durch das 70er-Salon-Fest in der Villa im Saggen zu toppen (eine eingene Geschichte - kommt noch, irgendwann im nächsten Jahr). 
Huch!
Jetzt hab ich noch gar keinen Film erwähnt.
Hm.
Das wird wohl Only lovers left alive von Jim Jarmusch werden, den schau ich mir heut noch an.

Danke 2013 - ich freu mich auf 2014!

Montag, 4. November 2013

Pimmel auf Beinen

„Der Protagonist“ von Luigi Malerba
Rom als Kulisse und das Ich ein Penis, dessen Boss Funkverkehr pflegt und es mit Elisabella und Isabetta, den reschen Zwillingsschwestern aus Orvieto, die sich für etruskische Kultur bzw. die alten Lateiner interessieren, zu tun bekommt.
Aber nicht nur sie, vor allem die Obrigkeit wird vom Boss gefickt, Entschuldigung. Bronzestandbilder, Mumien im Vatikanischen Museum und die größte norwegische Walspalte. Pfaffen spuckt der Boss auf den Kopf und wenn er zornig ist, geht er ins Umland und sät. Elisabella wartet inzwischen seitenlang in seiner Höhle und das Ich reckt sich als Antenne in den römischen Himmel. So werden Verbindungen aufgenommen, Verabredungen getroffen – der Boss treibt's bunt und schießt rund um sich. Elisabellas Liebe geht bis in den Tod. Sie bringt sich um, in der Hoffnung, dass er sie dann nimmt. Das bringt ihn in Erklärungsnotstand der Polizei gegenüber.
Doch die Steile Spitze (so das Lehrbuch) und die Zinnoberspalte Elisabellas sollten nicht mehr zusammen kommen. Es endet als einsames Spiel. Seine Hände würgen, ruinieren das Ich und dirigieren ihn zum Hinteren Mittelpunkt. Er will sich selbst ficken, Entschuldigung.
Der Titel wäre: Die duftende Maus bleibt unerreichbar.

Dienstag, 29. Oktober 2013

Hinreißend

Meine Bankberaterin bastelt gern
"Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters" von Tilman Rammstedt ist ein Roman, den man gerne selbst geschrieben hätte. Tolle Idee, tolle Ausführung, großes Kino!
Das Buch besteht aus Mail an Bruce Willis und Miniaturen über den ehemaligen Bankberater, die gleichermaßen skurril wie poetisch sind.
Der Autor bittet Bruce Willis, eine Rolle im Buch zu übernehmen. Der meldet sich nicht zurück, aber die Geschichte nimmt ihren Lauf. Der ehemalige Bankberater gerät ins Schlamassel und wenn Bruce Willis nicht einschreitet, schaut es schlecht aus.
Schlecht geht's auch dem Autor. Der hat an allen Fronten zu kämpfen, muss schauen, dass auch eine Katze eine Rolle im Roman spielt, um die Katzen am Cover zu rechtfertigen und die Melancholie seines ehemaligen Bankberaters setzt ihm auch zu.

Bei einem denkbaren Banküberfall würde der natürlich verletzt und landete im Gefängniskrankenhaus, Rammstedt und Will aber gelänge die Flucht. Allein die Lustlosigkeit des verletzen Action Helden strapaziert die Phantasie des Autors. Der tote Hund ist mit von der Partie (aber der ist leider keine Katze) und der finale Gefängniseinbruch samt Tunnelgrabung hat natürlich so nie stattgefunden, ist aber herrlich irre und ein metafiktiver Höhenflug.
Dass das alles klappt - auch über knapp 200 Seiten - und zudem sowohl zart humorvoll als auch literarisch verschmitzt-gewitzt ist, macht die große Kunst dieses hinreißenden Romans aus. Formal experimentell und exzeptionell gelungen.

Samstag, 30. März 2013

Dörfler, Schafsköpfe und Mezger

Daniel Mezger ist Schauspieler, Sänger und Autor. Aufgewachsen in den Glarner Bergen, lebt er heute in Zürich. Er absolvierte eine Schauspielausbildung an der Berner Hochschule für Musik und Theater, war mehrere Jahre am Jungen Theater Göttingen engagiert, seit 2004 arbeitet er als freier Autor, Musiker und Schauspieler in Zürich, 2006 bis 2009 studierte er am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und 2012 erschien im Salis Verlag sein Romandebüt „Land spielen“. 
In „Land spielen“ wird die Geschichte einer Familie erzählt, die von der Stadt aufs Land flüchtet um sich dort neu zu erfinden bzw. wieder zu finden. Der Roman wird in der Wir-Perspektive erzählt. Das ist ungewöhnlich aber ungemein einnehmend. Das erzählerische Wir umarmt einen, schließt einen mit ein in das Erzählte. Mezger zeichnet ein eindringliches, sprachlich überzeugendes Familienporträt, das man so noch selten gesehen bzw. gelesen hat. Von Pausenhofprügeleien und Open-Air-Sex-Einlagen abgesehen, braucht es in diesem akribischen Duktus keine großen Ereignisse, um ein große Geschichte zu erzählen. „Wir sind wir. Wir sind zu fünft.“, heißt es an einer Stelle. Mezger seziert dieses Wir, legt klar, wie der Familienkosmos funktioniert und so wird man als Leser Zeuge, wie das anfangs einträchtige Wir zu bröckeln beginnt.
Diese zärtliche Verfallsstudie ist gut durchkomponiert. Mezger hat definitiv Groove. Das kommt nicht von ungefähr. Daniel Mezger ist seit Jahren Sänger bei „A Bang And A Whimper“. Bekannt ist er derzeit aber vor allem als Dramatiker. Seine Stücke wurden zu diversen Stückemärkten und Festivals eingeladen und in Deutschland und der Schweiz aufgeführt. 2007 erhielt er von „Theater heute“ eine Nominierung zum Nachwuchsdramatiker des Jahres. „Findlinge“ gewann 2010 den Preis für das Schreiben von Theaterstücken der Schweizerischen Autorengesellschaft. Sein neuestes Stück „Balkanmusik“ hatte am Staatstheater Mainz Premiere, wurde zu den Berliner Autorentheatertagen eingeladen und in Bern und Zürich nachgespielt. Mit einem Auszug aus "Land spielen" wurde er 2010 nach Klagenfurt zum Wettlesen um den Ingeborg Bachmann Preis eingeladen, außerdem war „Land spielen“ für den Rauriser Literaturpreis 2013 nominiert. Zu Gast beim 11. Innsbrucker Prosa Festival war er übrigens auch.

Samstag, 2. Februar 2013

Erleben!

Lisa Kränzler ist für den Rauriser Literaturpreis 2013 nominiert. Da werden Debüts ausgezeichnet. "Export A" ist Lisa Kränzlers Debüt und 2012 im Verbrecher Verlag erschienen. 2012 ist Lisa Kränzler auch beim Bachmannpreis angenehm aufgefallen und hat für einen Ausschnitt ihres Romanes "Nachhinein", der demnächst (ebenfalls im Verbrecher Verlag) erscheinen wird, den 3sat Preis erhalten.
Export A steht für eine Zigarettenmarke kann aber schon auch als Export der A-Klasse gelesen werden. Lisa Kerz ist nämlich Austauschschülerin. Deutsche in Kanada. Eine aufgeweckte 16jährige: "Ich hatte stets die höchste Ansprüche an mich, verabscheute nichts mehr als Halbwahrheiten." (27)

Die ältere Schwester hat es nach Kanada verschlagen. Die versucht dort mit einem religiös konservativen Mann ihr Seelenheil und ist die erste Anlaufstelle für Lisa. Das familiäre Klima ist ebenso eisig wie das äußerliche, aber Lisa brennt. Lisa will Erfahrungen sammeln, Leben ausprobieren ohne Kompromisse: "Meine eigene Lebendigkeit drohte, mich in den Wahnsinn zu treiben." (60)
Ihre erste Bleibe ist ein VW-Bus, dann ein braunes Zimmer im Nirgendwo und schließlich ein WG-Zimmer im mintgrünen Reihenhaus Joshs (der Höhepunkt, nach der Räumung dann noch ein Umzug in die Maple Street bei gütigen Pflegeeltern). Die Bezugspersonen im Rausch Lisas wechseln rasant. Große Schwester - Gott (in der Vertretung von Pasor Leroy) - Matt - Sam - Josh ("Wir sind kein Paar. Wir sind Forscher." 107) - Derrick.
"The german sailor" ertrinkt sich Respekt, lässt nichts anbrennen, erfriert zu Sylvester fast und steckt auch sonst jede Menge scheinbar ungerührt weg. Nur Kyle und die Pille danach scheint sie nachhaltig zu beschäftigen. Es wird unendlich viel gesoffen, gekifft und gefickt in Export A. Die Heldin richtet sich an Songtexten auf, wird von den Predigen des Pastors verwirrt, lässt sich von niemandem was sagen, weiß aber natürlich eigentlich nicht wirklich was sie will. Sie will ERLEBEN, das reicht auch als Lebensmotto für eine 16jährige in der Fremde. Warum sie zurückkehrt in die deutsche Geborgenheit, wie sie sich mit Schuld beladet, die ihr zu schaffen macht, sei hier nicht verraten.
Was aber an dieser Stelle laut gesagt gehört ist: Export A ist das überzeugendste Buch mit einer jugendlichen Heldin seit langem. Wie hier die Themen Erwachsenwerden, Einsamkeit, Freiheitsdrang und Schuld verhandelt werden, ist beispiellos. Grund dafür ist der Drang der Heldin zur Kompromisslosigkeit und zur Lust auf Neues sowohl den Inhalt, als auch die formale Umsetzung betreffend. Kränzler montiert munter drauf los, hat keine Scheu vor Experimenten, findet eindringliche Bilder, geht knüppelhart zur Sache, dann wieder samtweich poetisch. Das ergibt in Summe ein Romandebüt das eindringlich, ja, mitunter schmerzhaft ist aber einen so richtig gut trifft. Volltreffer und begeistertes Taumeln!

Freitag, 18. Januar 2013

Innenlebenfreiheit rules!

Köln, Domnähe, farbliche Covernähe zu Holtrop
Weil ich ja „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz nicht besprochen habe, sei hier wenigstens aufgezeigt, was er selbst über den Roman, die Arbeit daran und die Rezeption zu sagen hatte.
Meine Idee war immer, es wird nur das gesagt, was der Leser noch nicht weiß“, sagt Rainald Goetz also im Zeit Interview. „Ich beschreibe eben nicht die gemütliche Art des Lesens, sondern ich beschreibe die reale Art des Erlebens.“
Er habe versucht, die implizite, als Gedanken nicht explizit ausgewiesene, Gedankenrede immer von außen zu schreiben. Er wollte einen Roman schreiben, der nicht mit irgendwelchen äußerlichen theaterhaften Gesten experimentell zu sein versuche, sondern innerlich. „ (…) nach außen hin ist es super simpel; aber im Inneren, heimlich: formal experimentell.

Um was es geht? „Es geht immer um Weltaufschließung, um Realitätserfassung, um Komplexitäts-, um Widerspruchsreichtum.“ Und dazu ist Wut gut, findet Goetz.
Goetz hasst es, wenn vom Erzähler verlangt wird, seine Figuren nicht zu bewerten. Mit großer Freude macht er da etwas Verbotenes. „Ich wollte das anders machen, weil mir diese Regeln nicht einleuchten, weil ich selber ein direkter Mensch bin. Weil ich selber es nicht gern habe, wenn untergründig mir was mitgeteilt wird. Das mag ich nicht. Auf der ersten Seite ist das Prinzip des Romans offengelegt.“

Goetz hat durch die Rezeption gelernt, dass der realistische Roman die Regeln des realistischen Romans nicht so offensiv verletzten darf, wie er das absichtlich machte. Der realistische Roman müsste – so Goetz – seine innere Experimentalität besser verstecken. Wobei die Hauptidee für die Figuren im Roman ja eben sei, dass sie innenlebenfrei dargestellt werden. Und wie geht er mit der Kritik um? „Wenn man zu sehr auf Kritik reagiert, verliert man den richtigen Fehler, der ein dem eignen Naturell entsprechender Fehler ist.“

Donnerstag, 3. Januar 2013

Trashclockworker


Diese Tage rund um Neujahr sind ja auch so die Tage, um Altlasten abzuarbeiten. Zum Beispiel grab ich mich grad durch die Berge auf meinem Schreibtisch und finde das eine oder ander Buch. Zum Beispiel: Uhrmacher von Andy Strauß. Schön ist, dass man momentan ja kaum was zu tun hat, man also sich gleich in Gefundenes vertiefe und loslesen kann. Alle, die irgendetwas mit Poetry Slam zu tun haben, werden Andy Strauß kennen, den anderen versuche ich erst gar nicht, ihn zu beschreiben. Andy Strauß ist ein Phänomen, das muss genügen und er stlammt nicht nur, sondern macht jede Menge Bücher. Zuletzt eben den Roman "Uhrmacher" (Unsichtbar Verlag).
Hat er gut gemacht diese Genre-Trash-Persiflage. Ein Erzähler, der nicht nur kommentiert, sondern auch eine Rolle spielt. Ein Held, der anders tickt. Eine abartig Dicke, die für allerhand Schweinkram herhalten muss. Ein durchgeknallter, reicher Esel, ein paar Running Gags, ein paar ins Leere laufende Handlungsstranblindgänger, ein paar fabelhaft phantasierte Geschichten rund um populärwissenschaftliche Skurrilitäten. Ein bissi Horror, Splatter, Schauermärchen. Ein bissi Sex, Suspense, Bespitzelei und immer den Pfad mit Kaninchenschlupfloch gewählt. Schier manische Beschreibungslust und pervertierte Detailversessenheit mit kalkulierten Brüchen. Unterhaltsam, abgedreht, selbstbewusst anders, mutig trashig.
Ein Genrebastard mit unvorhersehbaren Wendungen, Lust am Spiel mit Lesegewohnheiten sowie Leseerwartungen und guten Schlüssen.

Montag, 31. Dezember 2012

Romane Galore


Beste nicht besprochene Bücher dieses Jahres.
Gelesen: JA und gerne noch dazu, nur leider nicht geschafft, auch gebührend zu besprechen. Das hat natürlich unterschiedliche Gründe.
Edo Popovic
hab ich nur deshalb entdeckt, weil ich im Literaturhaus Niederösterreich mit ihm lesen durfte (das war im Feber) und um nicht gänzlich unvorbereitet darauf zu sein, hab ich mir KALDA mit nach Kappadokien genommen und am Flughafen von Antalia in der Warteschlange gleich mal die ersten 60 Seiten wie nix und voll Begeisterung weggelesen. In Wien, zuhause, gab ich mir dann den Rest und besorgte mir gleich mehr vom guten Mann aus Zagreb. Mitternachtsboogie und Ausfahrt Zagreb-Süd und demnächst gerne noch mehr. Außerdem veröffentlicht er ja im sympathischen Voland & Quist Verlag und da kann man getrost zur Liebslingsbuchhandlung eilen und nach Mehr verlangen.
Christian Kracht war ja schon immer wichtig für mich. Faserland wesentlicher Bestandteil meiner Diplomarbeit vor über 10 Jahren und IMPERIUM hätte ich mir sicher früher oder später zugelegt, dass ich es aber in Salzburg in der Bücherzelle vor der ARGE Nontal finde und zwar unangetastet und dann natürlich an mich nehme und von einem Tag auf den anderen auslese und zwar in meinem Lieblingshotel in Innsbruck liegend, das es jetzt leider nicht mehr gibt (RIP Hotel Mozart), das ist schon ein sehr, sehr erfreulicher Zufall. Der Kokosnusswahnsinn war natürlich eine rundum überzeugende Wucht, die sich nicht so salopp in eine Nebenbeibesprechung klopfen lässt.
Jörg Albrecht war ja mal Graz-Stadtschreiber und beim Bachmannpreis hat er eine Performance mit Handtuch um den Hals hingelegt. BEIM ANBLICK DES BILDES VOM WOLF war dann mein erstes Buch von ihm und ehrlich gesagt, kam ich anfangs gar nicht so recht rein und es lag lange am Nachtkästchen, das bei mir ja ein Socken- und Unterhosenschubladenkästchen ist. Dann aber, dann zog mich dieser Prekariatstext voll rein. Das rattert und pfeift und ist nah dran an allem, was einem grad so bewegt.
Ich bleibe in Graz, wechsle aber von Wallstein zu Surhkamp, also von Albrecht zu Setz, zu:
Clemens J. Setz und muss mich kurz halten, denn ich habe es noch nicht ganz aufgegeben, über INDIGO zu schreiben. Dieser Roman ist magisch und hat eine ausführliche Behandlung verdient. Ich hoffe, ich hab irgendwann 2013 dafür Zeit.
DEUTSCHBODEN von Moritz von Uslar ist ja schon 2010 erschienen und war lange auf meiner Leseliste, dass ich dem Buch aber ausgerechnet in Kritzendorf in diesem schrägen Sammelsurium aus Floomarkt und Fabriksabverkauf begegnen sollte und es dann im Kilopreis gemeinsam mit anderen Perlen (z. B. Hettche) erstehen durfte, war schon ein sehr willkommener Zufall. Seinen Erstling hab ich ja nicht fertig gelesen und sogar verschenkt, seine Reportagen und seine 99 Fragen Interviews im Zeit Magazin aber lese ich sehr, sehr gern und eine Reportage im besten Sinn ist auch Deutschboden und die Idee dahinter, ein paar Monate in einer deutschen Kleinstadt leben und einfach alles aufzuschreiben ist so einfach wie überzeugend. Nicht minder überzeugend, allerdings schon auch etwas schwerere Kost ist der aktuelle Goetz.
JOHANN HOLTROP
von Rainald Goetz hab ich auf Deutschlandtournee gelesen. Von der Kritik wurde der Wälzer ziemlich harsch behandelt, aber ein tolles Buch ist das schon. Schon klar, so kann man nicht über derartig großartige Bücher berichten aber besser kurz Jahresrückblick-mäßig aufgerollt, als gar nicht gewürdigt und vielleicht schaffe ich es ja doch noch mal die Notizen in Form zu bringen und Stichhaltigeres abzuliefern.