Vor langer Zeit schuf der Mensch sich seine Identität. Jetzt sucht er sie. Auch ich suche – hin und wieder finde ich etwas, das danach aussieht. Dieses Etwas schaut (mich an?) mit Spiegelaugen: immer dasselbe Entsetzen, dieselbe Hoffnung, dass die Wahrheit zwischen uns ist. Übersetzung aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Von Tadeusz Dabrowski noch nie etwas gehört und gelesen? Die Ausrede, von diesem Autor sei ja bislang noch nichts aus dem Polnischen übersetzt worden, gilt nicht. Das Buch „Schwarzes Quadrat auf Gold“ ist bereits 2010 erschienen und hat
Read More Mit bleibender Kindheitsneugierde –Carl Wilhelm Macke zum 80. Geburtstag des Sozialphilosophen Oskar Negt am 1. August 2014. Es wird einmal Zeit, gegen das durch die Feuilletons, Talkshows und Buchverlage herumvagabundierende „68er-Bashing“ selbstbewusst zu bekennen: Ja, man ist in den späten sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts politisiert worden. Das ist, konfrontiert mit den bis dahin noch überall wie Mehltau über der deutschen Gesellschaft abgelagerten Nazi-Erbschaften, auch gut so… Und noch besser ist es, wenn man in den Jahren das Glück hatte, mit einem Lehrer wie Oskar Negt in eine andere deutsche
Read More Wenn ein Dichter Wenn ein Dichter an Gittern rüttelt, sage nicht: wie anders klingen Harfen! Und die ihn früher…. Und die ihn früher verfolgt hatten brüsteten sich danach nicht ohne Grund: sie wären seinen Spuren Übersetzt aus dem Polnischen von Karl Dedecius. Kann man das poetische, das experimentelle wie auch politische Potential von Lyrik in wenigen Worten besser, treffender, überzeugender zur Sprache bringen als in diesen zwei kurzen Gedichten – oder handelt es sich um Aphorismen – von Stanislaw Jerzy Lec? Der 1909 in Lemberg geborene und 1966 in
Read More Manchen blendenden Ruhm gibt’s, der so blendet wie das heftige Aufgleißen der Blitze und gleich diesem zucken erlischt im Dunkel, ohne eine Spur seines Lichts zu hinterlassen. Lieber als dieser Augenblicksglanz ist mir die triste Einsamkeit, in der ich kämpfe und in der nie das nichtssagende Rauschen von Beifallsstürmen meinen Geist verwirrt. Aus dem Spanischen von Fritz Vogelsang Merkwürdig irritierend sind das Leben und das Werk der 1837 in Santiago de Compostela geborenen Schriftstellerin Rosalìa de Castro. Liest man ihre Gedichte, die von Fritz Vogelsang sehr gut ins Deutsche
Read More Das Mädchen Eines Tages steht das Leben sanft lächelnd wie ein Mädchen plötzlich auf der anderen Seite des Baches und fragt (auf seine spöttische Art) Aber wie bist Du da gelandet. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel Lars Gustafsson gehört zu den Schriftstellern, die mit ihren Arbeiten kein großes Massenpublikum erreichen, aber unter den Kritikern einen großen Ruf genießen. Geboren wurde er 1936 und hat in Uppsala/ Schweden und im renommierten Oxford Literatur, Geschichte und Philosophie studiert. Neben Schwedisch spricht er auch ein exzellentes „Oxford-Englisch“ und ebenso perfekt die deutsche Sprache.
Read More WILD There’s a surprise at the end. Everything should connect With everything. The brain Cools the blood, and the blood Cools thought. Those ancients saw The world as it is, A system of co-operation, Where things are both themselves And symbols and correspondences. Might it not be that a movement Of paint here on plain wood Is a retreat on a distant Battlefield; or that a child Moving counters on a blue Tarpaulin is an upward curve In the moment of a sleeping civilisation? The strumming of a guitar moves
Read More Diamant Könnt ich das Licht dir geben, unsichtbar im tiefen Blau der Fische. Könnt ich einen Apfel dir geben ohne verlorenes Paradies, eine Sonnenblume ohne Blüten oder Kompass aus Licht, das trunken sich aufschwingt zum Abendhimmel; und diese leere Seite, die du lesen könntest, wie man die klarste Hieroglyphe liest. Könnt ich ‚Flügel ohne Vogel‘ dir geben, so wie man schöne Verse singt, wär ein ‚Flug ohne Flügel‘ stets meine Schrift, wie Diamant vielleicht, Lichtstein ohne Flamme, unendliches Paradies. Aus dem Spanischen von Petra Strien Poema Diamante Si pudiera yo
Read More Photographie 1948 Ich halte wohl eine Blume. Merkwürdig. Es scheint, daß durch mein Leben einst ein Garten ging. In der anderen Hand halte ich einen Stein. Mit Anmut und Stolz. Kein Anzeichen, daß ich gewarnt wurde vor Veränderungen, daß ich die Verteidigung schon kenne. Es scheint, daß durch mein Leben einst die Arglosigkeit ging. Ich lächele. Die Biegung des Lächelns, die Mulde dieses Gefühls, gleicht einem gut gespannten Bogen, in Bereitschaft. Es scheint, daß durch mein Leben einst ein Ziel ging. Und ein Hang zum Sieg. Der Blick versunken in
Read More Posted On April 30, 2014By Carl Wilhelm MackeIn Bücher, Litmag
Sie kann einfach alles –Vier Dankesreden von Marie-Luise Scherer für zuerkannte Preise, in denen die Autorin und Journalistin über ihr Leben erzählt. Von Carl Wilhelm Macke. Wenn sie heute auf ihr erwachsenes Leben zurückblicke, dann sei es geprägt gewesen von einer anhaltenden Furcht vor dem Schreiben. Von einer Journalistin hätte man dieses Selbstbekenntnis wohl am wenigsten erwartet. Ist doch das ständige, sichere, professionell gekonnte Schreiben die wichtigste Grundlage für die journalistische Arbeit. Vielleicht aber sind es gerade die besten, um ihre Verantwortung wissenden Journalisten, die ihrer Arbeit gegenüber besonders skrupulös
Read More Ein Adler Oft bin ich ein Adler, so kommts mir vor am Schreibtisch Ich fliege steil in den Himmel empor am Schreibtisch Ich balle die Faust und drohe der Welt am Schreibtisch Zerschlage die Ketten und bin ein Held am Schreibtisch Den Kapitalisten heize ich ein am Schreibtisch Die Imperialisten schlage ich klein am Schreibtisch Ich kriege und siege mich groß und heiß am Schreibtisch Vielleicht auch gähne ich nur, wer weiß am Schreibtisch Aus dem Polnischen übersetzt von Karl Dedecius Dass wir im deutschsprachigen Raum mit so vielen
Read More Auch für mich – Carl Wilhelm Macke über die Politikerin und Publizistin Rossana Rossanda, die am 23. April 90 Jahre alt geworden ist. „Wir sind dabei“, schrieb die italienische Publizistin Rossana Rossanda einmal an ihren alten Freund, den Politiker Pietro Ingrao, „unser Leben mit einer Niederlage zu beenden, die mehr als persönlich ist, aber auch in persönlicher Einsamkeit.“ Für zwei linke Politiker und Intellektuelle, die ihr ganzes Lebens lang für eine solidarischere Gesellschaft kämpften als es der Kapitalismus bieten kann, ist das eine harte, eine sehr bittere Erkenntnis. In den
Read More September Song born 19.6.32 – deported 24.9.42 Undesirable you may have been, untouchable you were not. Not forgotten or passed over at the proper time. As estimated, you died. Things marched, sufficient, to that end. Just so much Zyklon and leather, patented terror, so many routine cries. (I have made an elegy for myself it is true) September fattens on vines. Roses flake from the wall. The smoke of harmless fires drifts to my eyes. This is plenty. This is more than enough. Septemberlied geboren 19.6.32 – deportiert 24.9.42 Unerwünscht
Read More Eine Pazifistin als Kriegsphotographin –Die Anfang April in Afghanistan ermordete Photographin Anja Niedringhaus war seit vielen Jahren auch Mitglied in dem Verein „Journalisten helfen Journalisten„. Da sie oft wie eine Getriebene von einem Kriegsschauplatz zum anderen flog um dort Aufnahmen zu machen, war es schwer, sie einmal in Ruhe an irgendwelchen „friedlichen“ Orten zwischen Genf (ihrem Wohnsitz) und einem deutschen Ort persönlich zu treffen. Allerdings hatten wir einige Male einen Mail-Kontakt, in dem sie mir ihre jeweiligen Aufenthaltsorte kurz mitteilte. Zuletzt hatte sie mir kurz vor ihrem Abflug nach Afghanistan
Read More Die Dinge, die ich anders sehe denn der morgen ist kein wunderbares erwachen sondern neues leid in einem kerker aus licht … ich seh den himmel nicht mehr blau sondern rot ich stehe auf und beginne den tag … die frisch gewaschenen finger werden schlangen, winden sich auf dem leib. ich breche auf und geh … mein weg ist ein tiefer werdender fluss. mich zu begrüßen kommen die menschen auf mich zu … doch ich lächle die steine an mit händen und füßen. Übersetzt von Joachim Röhm Von William
Read More Posted On April 2, 2014By Carl Wilhelm MackeIn Bücher, Litmag
Quicklebendig – Könnte man es bei diesem Buch nicht mit einem Verweis auf einen bekannten Bibel-Spruch belassen? „Lass die Toten ihre Toten begraben“ (Mt 8,22). Warum soll man sich heute denn noch die Zeit nehmen, sich mit der Lebensgeschichte eines kommunistischen Intellektuellen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen? Das ist doch etwas für heute „politisch Tote“ die sich in der Erinnerung an längst verstorbene Kämpfer für die Weltrevolution an den vergangenen besseren Zeiten ihr Herz erwärmen wollen. Antonio Gramsci aber, der 1891 auf Sardinien geborene und 1937
Read More Hochverrat Ich liebe mein Vaterland nicht. Sein abstrakter Glanz ist ungreifbar. Aber ich würde ( obwohl es schlecht klingt) mein Leben geben für zehn seiner Orte, für bestimmte Leute, Häfen, Wälder, Wüsten, Festungen, für eine zerstörte, raue, monströse Stadt, für einige Gestalten seiner Geschichte, für Berge und – drei oder vier seiner Flüsse. Übersetzt von Leopold Federmair Ende Januar 2014 ist in Mexiko-Stadt der Schriftsteller, Essayist und Poet José Emilio Pacheco gestorben. In Deutschland war es eine Nachricht, die irgendwo versteckt in den Feuilletons platziert war. In der spanischsprachigen
Read More Ode an das Danke Dank an das Wort, das Dank sagt. Dank an das ‚Danke‘, weil das Wort Schnee schmilzt oder auch Eisen. Bedrohlich sah die Welt aus, solange nicht das ‚Danke‘ mild wie eine helle Feder oder süß wie ein Blütenblatt aus Zucker von Lippe zu Lippe sprang, mal groß, aus vollem Mund, mal kaum hörbar geflüstert, so war das Wesen wieder Mensch und kein Fenster, so fiel ein wenig Licht in den Wald, und unter den Blättern ließ es sich singen, ‚Danke‘, du bist die Pille gegen den
Read More fünfziger syndrom und kaum war das kleine Land dem grossen krieg ohne zerstörung entkommen begannen seine bürger beflügelt vom fleiss der ihnen schon immer nachgesagt wurde friedlich und freudig mit der zerstörung des landes. Aus aktuellem Anlass ist es mal wieder geboten, an die „andere Schweiz“ zu erinnern… In der Schweiz finde, so vernehmen wir es von den Umfrageinstituten, der chauvinistische Populist Blocher ganz besonders bei der älteren Generation Unterstützung. Es seien gerade die älteren Eidgenossen, die sich trotzig gegen eine weitere Weltöffnung der Schweiz sperren und einem Blocher
Read More The Sleepout Childhood sleeps in a verandah room in an iron bed close to the wall where the winter over the railing swelled the blind on its timber boom and splinters picked lint off warm linen and the stars were out over the hill; then one wall of the room was forest and all things in there were to come. Breathings climbed up on the verandah when dark cattle rubbed at the corner and sometimes dim towering rain stood for forest, and the dry cave hunched woollen. Inside the forest
Read More Do Not Go Gentle Into That Good Night Do not go gentle into that good night, Old age should burn and rave at close of day; Rage, rage against the dying of the light. Though wise men at their end know dark is right, Because their words had forked no lightning they Do not go gentle into that good night. Good men, the last wave by, crying how bright Their frail deeds might have danced in a green bay, Rage, rage against the dying of the light. Wild men who
Read More Zukunftspläne Jeder, der einen Sohn großzieht, wünscht diesem einen klaren Verstand. Ich nicht! Schließlich brachte mir mein wacher Geist ein Leben lang nur Verdruss. Viel lieber hätte ich daher einen völlig unbedarften Jungen, der ein sorgenfreies Dasein am Ende mit einem Ministerposten krönt. (um 1080) Beiläufige Notiz Einsam und allein bin ich: ein kranker Greis, das weiße Haar zerzaust wie Reif im Wind. Kräftig ist nur die Farbe im Gesicht: zur Freude meines Sohnes, der mich zum Lachen bringt, weil er nicht merkt, dass dieses Rot vom Trinken rührt. (entstanden
Read More Gedicht Zerstörte Landschaft mit Konservendosen, die Hauseingänge leer, was ist darin? Hier kam ich mit dem Zug nachmittags an, zwei Töpfe an der Reisetasche festgebunden, Jetzt bin ich aus den Träumen raus, die über eine Kreuzung wehn. Und Staub, zerstückelte Pavane, aus totem Neon, Zeitungen und Schienen dieser Tag, was krieg ich jetzt, einen Tag älter, tiefer und tot? Wer hat gesagt, dass sowas Leben ist? Ich gehe in ein anderes Blau. Ein kurzer autobiographischer Exkurs ist unumgänglich: Brinkmann wie der Schreiber dieser Zeilen stammen aus Südoldenburg. Aber wo
Read More ENVOI Lebt wohl, Wörter. Ich mochte euch nie, der ich Dinge und Orte mag und Leute am liebsten mit geschlossenem Mund. Geht aus und verlauft euch in einer plappernden Welt, seid weniger als nichts, seid ein Vakuum, vor dem sich Wörter hüten, daß es sie nicht durch Saugen, seine einzige Kraft hineinzieht. Das mag ich an euch, Wörter. Selbstzerstört, selbstaufgelöst werdet ihr getreu. Welchem Sinn? Sagt mir das, Wörter. Lauft, dann folge ich euch, um euch nie einzuholen. Kehrt um, dann laufe ich. Also lebt wohl. Michael Hamburger Ein Übersetzer
Read More Das Geschenk Ich rede vom Ende der Nacht Ich rede vom Ende der Dunkelheit Und vom Ende der Nacht rede ich Wenn du zu meinem Haus kommst, bring mir, du Lieber, eine Lampe Und eine Luke, aus der ich Das Gedränge der glücklichen Gasse sehen kann. Aus dem Persischen übertragen von Kurt Scharf Unabhängig voneinander schenkten mir zwei im Iran geborene Freunde zum letzten Weihnachtsfest Gedichte von Forugh Farrochsad. Da interessiert man sich schon seit längerer Zeit für lyrische Stimmen aus aller Welt und muss – nicht ganz ohne Scham
Read More Ohne Titel Ich, um zu geben nur Worte hab ich bereit nur das Gedicht das Atemkleid. Die hab ich gebreitet über die Insel ein tiefblauer weiter beständiger Himmel. Dann wehte der Jahreswind der Nord oder West das Sein bleibt nicht fest und sie schwinden. Übersetzt von Riccardo Caldura, Maria Fehringer und Peter Waterhouse Wie entdeckt man eigentlich Dichter und ihre Gedichte? Vielleicht auf Umwegen über die Werke anderer Schriftsteller, wo man zum ersten Mal den Namen eines unbekannten Dichters liest. Die lange Reise von Claudio Magris entlang der Donau
Read More Superlativ Ich lebte im goldensten Zeitalter, in der glücklichsten Gesellschaft, im gerechtesten System, unter der weißesten Lehre, mit der höchsten Moral, in der ewigsten Freundschaft, mit Blick auf die herrlichste Zukunft. Den komparativ habe ich übersprungen, ich gelangte direkt in den Superlativ. Stets mußte das Lächeln am glücklichsten strahlen, der Moment war der historischste, der Feiertag der feierlichste, der Fortschritt der fortschrittlichste. Ich glaube an den reinsten Glauben ich loderte mit der loderndsten Flamme: Wie oft stellte ich mich auf Zehenspitzen, um die höchste Latte einmal zu überspringen. Ich weiß
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