Transatlantische Elegie Zum Lächeln aufgelegt, und Erfolg, das Hündchen immer bei Fuß. So unterwegs im Lande Walt Whitmans, mit leichtem Gepäck. Frei schwimmend zwischen den Konferenzen, getragen vom Redefluss. Doch während Pausen, solange sich gewürfeltes Eis klirrend mit Gläsern ausspricht, rührt es dich an und nennt seinen Namen. In New Haven und Cincinnati von Emigranten befragt, die damals, als uns der Geist emigrierte, nichts mitnehmen durften als Sprache, und immer noch schwäbisch, sächsisch und hessisch die gutgelaunte und jedes Wort streichelnde Vielfalt der Zunge belegen, in Washington und New York
Read More Wie Gedichte entstehen Jeder kennt den Moment, da man auf die Lichtung tritt und die Hasen, nach einer Sekunde des Zögerns, im Unterholz verschwinden. Es gibt kein Wort, das sie aufhalten könnte. Du bist wohl nicht bei Trost, sagte mein Vater, wenn mir die Tränen kamen. Wie soll man ein Ganzes denken, wenn man nicht weiß, was ein Ganzes ist? Michael Krüger Es führt ein direkter Weg von diesem Gedicht über das Entstehen von Gedichten zu der „Münchner Rede zur Poesie“, die Michael Krüger im Oktober 2014 unter dem
Read More Du hörst zu – hörst du zu? – dem anderen, der von sich erzählt, du wartest auf den ersten Punkt, um von dir zu sprechen „ich auch…“ Jetzt hört der andere zu – hört er zu? Nein, er denkt nur: mach’s kurz. Ein letzter Rerst Herz für ein „Kopf hoch“ und ein „bis bald“. Dann das schwindende „ciaciao“, in dem das O verlischt. Aus dem Italienischen von Piero Salabè Im italienischen Original lautet das Gedicht: Tu ascolti – ascolti? – l’altro che ti racconta i casi suoi, tu aspetti solo
Read More Die Zeit ist schneller Vogelschatten Weit offen meine Augen in ihren Bildern Um das tiefgrüne Glück der Blätter Großes Erleben der Schmetterlinge Während die Unschuld Sich ihrer letzten Lüge entkleidet Süßes Abenteuer süßes Leben. Übersetzung: Barbara Vierneisel-Schlörb und Antigone Kasolea Um das schnelle Vergehen der Zeit in Worte zu fassen, gibt es im Deutschen eine ganze Reihe von alltäglichen Redewendungen. „Mein Gott, wie schnell die Zeit vergeht“ oder, beliebt bei Altherren-Geburtstagen: „Wir werden alle älter mit der Zeit“. Oder lakonisch kurz geseufzt: „Ist es schon wieder so weit?“ Oder
Read More Drüben Erst jenseits der Kastanien ist die Welt. Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen und irgendwer steht auf daher. Den will er über die Kastanien tragen: „Bei mir ist Engelsüß ein roter Fingerhut bei mir –“ Erst jenseits der Kastanien ist die Welt…» Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun, dann halt ich ihn, dann muß er sich verwehren: ihm legt sich mein Ruf ums Gelenk! Den Wind hör ich in vielen Nächten wiederkehren: «Bei mir flammt Ferne, bei dir ist es eng…» Dann zirp ich leise,
Read More Es riecht nach Schnee, der Sonnenapfel hängt so schön und rot vor meiner Fensterscheibe; wenn ich das Fieber jetzt aus mir vertreibe, wird es ein Wiesel, das der Nachbar fängt, und niemand wärmt dann meine kalten Finger. Durchs Dorf gehn heute wohl die Sternensinger und kommen sicher auch zu meinen Schwestern. Ein wenig bin ich trauriger als gestern, doch lange nicht genug, um fromm zu sein. Den Apfel nähme ich wohl gern herein und möchte heimlich an der Schale riechen, bloß um zu wissen, wie der Himmel schmeckt. Das Wiesel
Read More Schneemann Über Nacht kam das Tauwetter. Alle Spuren von Schnee waren aus den Gärten verschwunden. Und doch sah ich, als ich hinausschaute, einen Schneemann mitten auf dem Rasen. Ich dachte an Wallace Stevens’ ‚nichts, das nicht da ist, und das Nichts, das ist’ und entschied mich, es nochmals zu versuchen – mit Brille. Und tatsächlich, da stand er immer noch, in voller Lebensgröße. Niemand in der Nähe, keiner, der hinschaute. War’s eine Kristallisierung von Schuld und Wunsch, diese Verbindung von üblicherweise versteckten Elementen? Bei genauerem Hinsehen, merke ich, dass es
Read More Wenn meine Gedichte Wenn meine Gedichte alle verloren gingen würde die kleine Wahrheit die in ihnen leuchtet gleichwohl in irgendeinem grauen Stein am Wasser überdauern oder in einem grünen Strauch. Wenn alle Gedichte verlorengingen würde das Feuer sie endlos nennen rein von aller Schlacke, und die ewige Dichtung würde wiederum mit den Morgenröten erklingen. Übersetzung von Curt Meyer-Clason Josefina García-Marruz Badía, wurde 1923 in Havanna geboren. Ihr Studium an der dortigen Universität schloss sie 1963 mit einer Promotion in Sozialwissenschaften ab. Schon früh begann sie mit dem Schreiben von
Read More III. Wie die Männer, die sich vollenden in der Tat oder im Verlangen oder mit einem warmen Körper am Ende einer Gasse, im Hintergrund eines Dioramas, wie es sie früher im Kolumbusdenkmal gab, welche die Entdeckung Amerikas im Stil der Kompositionen des vergangenen Jahrhunderts darstellten, wenngleich sich das Papier etwas bewegte, auf das die Agaven gemalt waren mit einem grünen Drachen im Hintergrund, der die Reißzähne zeigte, und alle im Kanu – die wir das schwarze Gewässer des Lethe durchqueren, so leidet das Gedicht an dem dringenden Bedürfnis, das Wirkliche
Read More Immer bleibt das Andere Es ist gut, von Leben zu Leben zu wandern. Die Luft wird stickig, das Gedränge unerträglich. Die Alten meinen, mit ihnen höre alles auf, die Jungen, alles beginne mit ihnen. Du öffnest die Tür und gehst, hast keinem was getan. Hast eine Spur hinterlassen, keine einen Fingerabdruck, keinen, vielleicht den Duft der vergangenen Jahre (denn die Liebe verliert ihren Duft nicht), keinen, auch gut. Man wird dich zitieren, von dir sprechen mit Achtung und Angst, dich vorführen als Inbegriff von Dummheit und schlechtem Geschmack, auch gut.
Read More Der Weihnachtsstern Im frostigen Winter war eine Gegend – gewöhnt an Glut mehr als an Kälte, an Fläche mehr als an Berge – offenbar gut für die Geburt des Kindes, das da kam zu retten die Welt. Der Schnee fiel in solchen Mengen, wie er nur in der Wüste fällt. Dem neugeborenen Kind kam alles gewaltig vor: die Brust der Mutter, die Nüstern des Ochsen, Kaspar, Melchior, Balthasar und deren Geschenke, die man hereintrug. Den Kern bildete aber das Kind selber. Und das war der Stern. Aufmerksam, ohne zu zwinkern,
Read More Die Stadt Du sagtest: „Ich gehe in ein anderes Land, ich gehe zu anderem Meer. Es findet sich eine andere Stadt, die besser ist als diese. Jede meiner Mühen ist zum Scheitern verurteilt; und es ist mein Herz – als sei es tot begraben. Wie lange wird mein Geist in dieser Betrübnis bleiben. Wohin ich mein Auge wende, wohin ich auch schaue, die düsteren Trümmer meines Lebens sehe ich hier, das ich so viele Jahre ließ zerstören und verwüsten.“ Du findest kein neues Land, findest keine anderen Meere. Die Stadt
Read More Gibt es noch irgendwo Europa? Gibt es noch irgendwo Europa, das alte, graue, dekadente? Den Eiffelturm, und Rom, Paris, die Donau, jene blauen Borte, die fernehin und bang sich wiegte gleich einem müden Leichenzug? Gibt es noch irgendwo Europa, ist es denn nur mehr die Gestalt aus einem wunderlichen Mythos? In einem feuchten Wald ein Satyr? Ein Mondgeheimnis? Oder Horn, durch dunkle Wälder schallend? Ist’s gar ein kurioser Stern, ein unerreichbar fernere Stern, verborgen hinter Nebelweben, durch dunkle Sphären schwebend, schwach flackernd, bald verloschen, so daß bloß Schall und Rauch
Read More Der große Schnee Erster Schnee heut morgen früh. Der Ocker, das Grüne flüchten unter die Bäume. Ein zweiter, gegen Mittag. Von der Farbe bleiben nur die Nadeln der Kiefern, die manchmal noch dichter fallen als der Schnee. Dann, gegen Abend, hält die Geißel des Lichtes ein. Schatten und Träume haben gleiches Gewicht. Ein wenig Wind schreibt mit der Zehenspitze ein Wort außer der Welt. Übersetzt aus dem Französischen von Friedhelm Kemp In den ersten Dezembertagen, wenn es vielleicht zum ersten Mal sich im still ankündigenden Winter einmal schneien könnte, lege
Read More Requiem Ich ließ mich nicht von meiner Heimat scheiden, Floh in die Fremde nicht vor der Gefahr. Ich blieb bei meinem Volk in seinem Leiden, Blieb, wo mein Volk zu seinem Unglück war. (April 1957) Ein kurzes Gedicht, dem ein längerer Text „Statt eines Vorwortes“ als eine Art Fußnote folgt: „In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise ‚erkannte’ mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehenden Frau mit blauen Lippen, die einen Namen
Read More als mir die sprache abhanden kam vielleicht trank ich gerade kaffee oder schlug eine zeitung auf. vielleicht zog ich die vorhänge zu, oder sah auf die straße, als sie mich verließ. ich dachte noch, was für ein röcheln aus der tiefe der wand, was für ein klirren in diesem raum. kein fensterglas sprang, kein sessel fiel um in der küche. an den straßenschildern erloschen namen zu buchstabenasche. über den häusern fuhr der worttanker davon, massig, lautlos. meine zunge zuckte wie ein gestrandeter wal im trockenen mund. ich floh aus der
Read More Worte (für Beverly) Die Zunge ist das erste Blatt des Rückgrats Sprachwälder umstehn es Durch Spracherde gräbt sich die Zunge – ein Maulwurf In Bögen aus Schrift fliegt die Zunge – ein Vogel Die Zunge ist gefiedert und allein im Mund Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes John Berger hat dieses Gedicht 1980 geschrieben. Ein weiteres, seiner Frau gewidmetes Gedicht stammt aus dem Jahre 1974. Beverly, mit der zusammen er viele Reisen, unendlich viele Museumsbesuche und Jahrzehnte in Quincy, einem Bergdorf in Hochsavoyen (Frankreich) gelebt hat, ist
Read More Bitte Komm wieder auf die Wiese auf die du noch niemals kamst und leg dich ins Gras in dem du schon immer liegst laß den Uferstaub durch die Finger rinnen wie Mehl; Wieder ist nie immer zum ersten Mal Komm wieder über den Sand der über dich weht komm wieder über das Wasser das dich bedeckt still der noch Unbegegneten Trennungskummer: Nie ist nun zum ersten Mal wieder Immer Sag wieder daß du da bist klopf wieder an sing dein Vergessen daß ich es lernen kann Wein in die
Read More Die Dinge ganz lassen In einem Feld bin ich das, was es nicht ist. Immer ist das der Fall. Wo ich auch binbin ich das was fehlt. Wenn ich gehe, teil ich die Luft, und immer strömt sie nach, um die Räume zu füllen, wo mein Körper gewesen ist. Alle haben wir Gründe, uns zu bewegen. Ich bewege mich, um die Dinge ganz zu lassen. Keeping Things Whole In a field I am the absence of field. This is always the case. Wherever I am I am what is
Read More Durch den Spiegel Liebste, so weit voneinander schlafend teilen wir doch die Nacht. Und wir träumen einander. Erwachte ich jetzt, wäre ich nicht. Ich träume dich, die mich träumt. wenn ich dich wecke, werde ich verschwinden. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel Bei der Lektüre der Gedichte von Lars Gustafsson hält man immer irgendwann inne. Man kommt nicht weiter im Verständnis der Verse und fragt sich, was man sich bei vielen Dichtern fragt. Was will uns der Autor damit sagen? Und bei Gustafsson beginnt es manchmal schon bei den
Read More Meine zerfetzte Seele musste notwendig zu deiner werden. Besiegt von deiner Seele kümmerte sich meine Seele nicht um sich und wurde du. Besiegt von dir habe ich dir einen starken Körper geschenkt, sanftes Begehren, Täuschungen vielleicht Nun öffnet sich nicht mehr der Sarkophag meiner Wünsche. Übersetzt von Georg Dörr Kein Geringerer als Pier Paolo Pasolini hatte großen Anteil an dem literarischen Werdegang von Amelia Rosselli. Eine erste Auswahl früher Gedichte von der 1930 in Paris als Tochter einer Engländerin und eines bedeutenden liberalen Antifaschisten geborene Lyrikerin stellte Pasolini 1963
Read More accademia die nacht sinkt nieder und wir sollten uns verlassen wie vielfach dämmerung mag noch in unsere venen passen wann können wir uns lassen ohne uns anzufassen es fassen das rote violett den abschied unter jedem lid ein bild ein pinsel der kreise zieht ein tropfen der ins wasser fällt eine träne die den kanal am fliessen hält. Fast alle Gedichte von Albert Ostermaier in seinem neuen Band mit dem Titel „Ausser mir“ ( Berlin, 2014 ) sind länger. Einige sogar wesentlich länger als ‚accademia‘. Aber abgesehen von der Länge ähneln
Read More Die Idee der Ordnung in Key West Sie sang über den Genius des Meers hinaus. Das Wasser war nie zu Geist oder Stimme geformt, Wie ein Leib, der, ganz Leib, mit seinen leeren Ärmeln flattert; und doch schuf seine mimetische Geste ständigen Schrei, bewirkte ständig einen Schrei, Der nicht unsrer war, obwohl wir verstanden, Nicht menschlich, der des wahrhaften Ozeans. Das Meer war keine Maske. Nicht mehr war sie. Lied und Wasser waren nicht vermischter Klang, Selbst wenn ihr Gesang das war, was sie hörte, Da ihr Gesang Wort für
Read More Altweibersommer Was die einen ‚Indian Summer‘ nennen die andern ‚Altweibersommer‘, geschieht diesen Herbst: es reihen sich die schönen Tage und das gelbe Laub fällt nicht vom Zweig, alles dauert rund und reif, auch die Frauen altern nicht, siehst du, die Laster sind süßer als voriges Jahr. Das Ende dieses Sommers kennen wir aus der Geschichte: der Überfall kommt – der barbarische Winter, es platzen die Häuser, Ohren erfrieren und die äußerst strenge Reinheit stößt vor. Böswillige Köpfe hinter der Ecke warten nur daß die Sonne untergeht um Gericht abzuhalten: gerichtete
Read More Nur ein Weniges noch und wir werden die Mandeln blühen sehen den Marmor in der Sonne leuchten und das Meer sich wiegen nur ein Weniges noch, um ein Weniges lasst uns höher hinauf. Aus dem Griechischen von Christian Enzensberger Gedichte gibt es, die sind von einer ergreifenden Nüchternheit, fast möchte man sagen Schlichtheit, und gerade deshalb erstrahlen sie in einer den Leser sprachlos machenden Schönheit und Vollkommenheit. „Nur ein Weniges noch“ von Giorgos Seferis (1900 – 1971) gehört für mich dazu. Veröffentlicht wurde es zum ersten Mal 1935 in
Read More Wir versuchen manchmal es zu sein, treu der Anweisung, fügsam der Mahnung, wach also, aufmerksam auf die vielen Täuschungen, sehr wachsam. Die Signale sind leuchtend und dunkel. Die Papiere klar zu lesen, aber undeutbar. Nimmt wahr oder nicht die Epoche dieses ans Licht Kommen ihres verborgenen Teils?- es fragt sich einer schärfer und dringender: und mittlerweile sind wir fortwährend andere, fortwährend verändern wir uns, wir die Zeugen, wir die Täter. Aus dem Italienischen von Guido Schmidlin Vor einhundert Jahren wurde Mario Luzi in Castello bei Florenz geboren. Er starb hochbetagt
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