Am Gittertor verklumpen sich die Opfer Am Gittertor verklumpen sich die Opfer, Gesichter nackt und vollkommen, verschlossen in der Unwissenheit, widersinnige Hände an ein Eisen geklammert, und draußen fährt der Zug vorbei sonnig und leicht, ein Knall aus eigenem licht über meine gekränkte Grenze Übersetzt von Daniel Graziadei Bücher der Alda Merini, einer im deutschsprachigen Raum so gut wie unbekannten Lyrikerin, findet man in jeder italienischen Buchhandlung, ja oft sogar am Zeitungskiosk um die Ecke. In den letzten Jahrzehnten war die 1991 in Mailand geborene und 2009 dort auch
Read More Arte Poética Entre tantos oficios ejerzo éste que no es mío, como un amo implacable me obliga a trabajar de día, de noche, con dolor, con amor, bajo la lluvia, en la catástrofe, cuando se abren los brazos de la ternura o del alma, cuando la enfermedad hunde las manos. A este oficio me obligan los dolores ajenos, las lágrimas, los pañuelos saludadores, las promesas en medio del otoño o del fuego, los besos del encuentro, los besos del adiós, todo me obliga a trabajar con las palabras, con la
Read More Ars Poetica Dreißig Meilen zum einzig anständigen Restaurant war nichts, ein Lidschlag im langen stumpfen Starren Wyomings. Auf halber Strecke schrie der unbekannte, aber schrecklich wichtige Essayist: Stop! Ich muß da rein; und lief fünfzehn Meter ins Land, ehe der Himmel auf ihn stürzte und er gelaufen kam, rief: Gott – da ist nichts da draußen! Einmal traf ich einen australischen Schriftsteller, der mir sage, er habe nie kochen gelernt, weil es kreative Energie koste. Am liebsten wäre er stumm gewesen; er stapelte die Seiten; er betrat jeden Tag mit
Read More Streichle die Stille Musik fällt in die Hände wie Schnee Wäre es die Zärtlichkeit die die Stille kennt wie in einen Spiegel schaut sie dir in die hohle Hand bis die Wolken erstarren und die Pappeln dem Atem anhalten Streichle die Stille Sie ist die Schrift unserer Seele zart lesbar. Übersetzt von Ingeborg Lokal und Christa Schmitt Immer wieder stößt man bei der Suche nach Schriftstellern, die unsere Wahrnehmung der Welt durch ihre Lyrik erweitern, vertiefen, empfindsamer machen, auf Namen, die man noch nie gehört hat. Es müssen nicht
Read More Prophezeiung Bald werden dir drei Brillen nicht mehr genügen – Du wirst weitere brauchen; Eine gegen das Schneegleißen der Stille und eine gegen den bösen Blick der Bahnhofsuhren Eine mit der du die Gedanken der Bäume lesen kannst und eine um auf den nächtlichen Straßen die verliebten Hadesschatten in Paaren wandeln zu sehn Eine die Dämonen in Luft auflöst und eine die deine Freunde wieder ohne weiße Perücken und ohne falsche Bärte zeigt Eine mit aufgemalten Augen damit keiner ahnt ob du wachst oder schläfst und eine mit der du
Read More Agli amici Cari amici, qui dico amici Nel senso vasto della parola: Moglie, sorella, sodali, parenti, Compagne e compagni di scuola, Persone viste una volta sola O praticate per tutta la vita: Purché fra noi, per almeno un momento, Sia stato teso un segmento, Una corda ben definita. Dico per voi, compagni d’un cammino Folto, non privo di fatica, E per voi pure, che avete perduto L’anima, l’animo, la voglia di vita: O nessuno, o qualcuno, o forse un solo, o tu Che mi leggi: ricorda il tempo, Prima che s’indurisse
Read More L’idea centrale È venuta in mente (ma per caso, per l’odore di alcool e le bende) questo darsi da fare premuroso nonostante. E ancora, davanti a tutti, si svegliava tra le azioni e il loro senso. Ma per caso. Esseri dispotici regalavano il centro distrattamente, con una radiografia, e in sogno padroni minacciosi sibilanti: «se ti togliamo ciò che non è tuo non ti rimane niente» Der zentrale Gedanke Er kam ihm in den Sinn (doch zufällig, weil es nach Alkohol und Verbänden roch), dieses sorgsame Bemühen, trotzdem. Und wieder,
Read More Sprache Die Sprache ist wie Wasser. Beim Halten verliert man sie, im Fließen hat sie Bestand, schenkt eher Leben als Ertrinken, wäscht keine Flecken aus, ist der erste Grund, dass alles keimen kann. Ich bin eine Lawine zärtlich weiß stürze ich dich zu umarmen. Da man in der „Edition Lyrik Kabinett“ leider überhaupt keine Angaben zu Tzveta Sofronieva findet, bleibt einem nichts anderes übrig als im Internet auf Suche nach weiteren Auskünften zu dieser Autorin zu gehen. Und schnell merkt man, dass die „Lawine“ kein schlechtes Bild ist, um
Read More Das Salz der Sprache Höre, höre: ich habe noch etwas zu sagen. Es ist nicht wichtig, ich weiß, es wird nicht die Welt retten, wird niemandes Leben ändern – aber wer ist heute imstande, die Welt zu retten oder auch nur den Sinn irgendeines Lebens zu verändern? Höre mich an, ich halte dich nicht auf. Es ist wenig, wie der Nieselregen, der langsam herniederrinnt. Es sind drei, vier Wörter, wenige mehr. Wörter, die ich dir anvertrauen will. Damit ihr Licht nicht erlischt, ihr kurzes Licht. Wörter, die ich sehr geliebt
Read More Selbst die Bäume Selbst die Bäume draußen spüren es, die feinen Zweige ihr sechster Sinn der Gnade, sie biegen sich in den Wind hinein und bitten um Verzeihung, die in einem Sturm kommen soll, und treten der Versammlung des Schweigens bei; dem großen Zeugen. Ein Mann, an einem Baum gebunden und ausgepeitscht, arbeitete nie wieder auf den Baumwollfeldern. Im frühen Licht, dem zarten Knochenlicht, das Herzen brach, fegte ein Lied von Feld zu Feld; das Gedächtnis einer Frau schritt Jahrhunderte ab, tiefer und tiefer, ein blaues Lied im Klopfen ihres
Read More Gedicht Ich könnte von Kriegen erzählen, von Göttern, die sich aus Langeweile das Leben ausdachten, von Igeln in meinem Garten, von mir. Ich könnte von einem Mann erzählen, der die Lesarten des Unglücks studiert wie ein rumänischer Philosoph. Auch mit Lorbeer kann man Dämonen vertreiben. Aber lieber die Klappe halten, die Stille ist laut genug. Ob Michael Krüger in den Kanon der „Weltlyrik“ gehört? Geschenkt, lassen wir diese dumme Frage. Ihn würde eine Antwort am wenigsten interessieren. Aber die Frage, warum er als Verleger in den letzten Jahrzehnten ein so
Read More Der Dichter mit den aufgekrempelten Hemdärmeln – Menschen, die Gedichte schreiben und lesen, stellt man sich immer als etwas vergeistigte, irgendwie von der Welt abgewandte Wesen vor. Leicht oberhalb der Erde schwebend, vielleicht mit elegantem Sonnenhut im Sommer, im Herbst mit melancholischem Blick durch Seitenstraßen schlürfend, immer weit ab vom ‚Mainstream’ nach Versen suchend, die noch niemand gesagt oder geschrieben hat. Typ Rilke oder vielleicht die Bachmann. Ganz anders war da Seamus Heaney, den man sich eigentlich immer nur vorstellen konnte mit aufgewickelten Hemdsärmeln am Tisch sitzend, vielleicht ein Whiskeyglas
Read More Posted On August 28, 2013By Carl Wilhelm MackeIn Bücher, Litmag
In der Kürze liegt die Würze – Vor 10 Jahren starb der Dichter Rainer Malkowski. Nun ist ein Band mit Aphorismen und kurzer Prosa erschienen, den Carl Wilhelm Macke gelesen hat. „Das Einfache kann federleicht sein – und hat doch, wenn es glückt, das Gewicht der Welt“. In diesen wenigen Worten ist schon der ganze Gehalt dieses schmalen und so vollkommen unprätentiösen Büchleins von Rainer Malkowski enthalten. Nichts als Aphorismen finden wir hier. Mal sind es sehr kurze, scheinbar flüchtig hingeschriebene Gedanken. Mal sind sie etwas länger in der Form,
Read More Ende Und nun endlich Rast, nach all den lastenden Jahren voll geduldigen Schaffens, die innere Ruhe wo die Kraft zu leben am äußersten Ende des rinnenden Fadens die Kunst ist, ganz allmählich am bitteren Grund der Nacht, mitleidlos, um dort das Glas bis auf den letzten Tropfen zu leeren, das dir am Ende das Leben noch hinhält. Hinterlistiger Schluck, in ihm harrt gnadenlos seit jeher schon de Satz des Likörs ohne Namen, und dann reglos das Haupt, unverwandt und erhaben, es lauscht dem Konzert, das stolpernd, schrill, anschwillt zu ohrenbetäubend
Read More Posted On August 21, 2013By Carl Wilhelm MackeIn Bücher, Litmag
Expedition in die Tiefe der Erinnerung – Ist es Zufall, dass einem bei der Lektüre der Kindheitsgeschichten von Karl-Markus Gauß immer auch Walter Benjamin einfällt? Diese Assoziation ist nicht übertrieben, nicht eine Nummer zu groß. Da schreibt einer, den wir vornehmlich als literarischen Botschafter des „anderen, an den Rand unserer Aufmerksamkeit gedrängten Europas“ kennen, über eine Reise in die vergessenen Winkel seiner Autobiographie und immer fühlen wir uns da auch an die Kindheitsszenen bei Walter Benjamin erinnert. Von Carl Wilhelm Macke. Gauß kopiert in seinen Texten nicht Benjamin, sondern er
Read More An den Reporter Schreib auf, so viel Du kannst, Mein Freund, Aber berichte der Welt nicht nur Die Zahl der Getöteten Auf den goldenen Feldern Slawoniens. Weil eine Zahl keinen Namen hat Und keine geraubte Zukunft Berichte der Welt, Es waren Johann und William Und Victor und Francesco, Die getötet wurden, Mitten in Slawonien, Und dass Gabriel und György Und vielleicht auch Du Morgen getötet werden. Schreib auf, soviel du kannst, Mein Freund, Aber berichte der Welt nicht nur Die Zahl der Getöteten Auf den blutenden Feldern Slawoniens. Slavko Bronzic‘
Read More Vom Glück einen Menschen getroffen zu haben – Vom Glück einen Menschen getroffen zu haben…Das sagt sich so leicht, aber letztlich gibt es immer nur wenige Menschen, auf die dieses Glücksbekenntnis zutrifft. Rolf Schwendter war gewiss so einer. Von Carl Wilhelm Macke. Vielleicht bin ich ihm zwei-, drei Mal in meinem Leben persönlich begegnet und jedes Mal war es ein Glückserlebnis. Und immer war es im Umkreis des heute leider fast vollkommen „Sozialistischen Büros“, das vor allem in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts versucht hat, zwischen dem Terrorismus der RAF
Read More Dichterlesung in Còrdoba Wie sie träumen, die Leute – Sie mit den beigen Stiefeln, die Fotos macht vom Tisch mit dem lachsroten Tuch, sechs kleine Flaschen Mineral, sechs Mikrophone, wo später die Dichter hinkommen mit ihren druidischen Worten. Klein der Saal, spanische Stimmen, verputzte Wände, Gezwitscher von tausend Vögeln, die auf Gedichte warten, Reiher, Bussarde, Krähen, Spatzen, bis die Stille herunterschneit und die heiligen Amseln beginnen. Übersetzt aus dem Niederländischen von Ard Posthuma. Als Lyriker war der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom bislang im deutschen Sprachraum kaum bekannt. Dabei hat
Read More Das Leben ist immer anderswo Selten nur ist eine Treppe derart eng, steil und gefährlich wie in diesem Fall. Du gehst sie vor meinen Augen seelenruhig nach getaner Arbeit hoch. Rückblickend ins Atelier ist es auf dem Bild das Kleid nur, das noch zuckt. Denn der Körper ist woanders. Wo ist er? Das sag ich später dir, dreh dich nicht um jetzt, sieh, da kommt die letzte Stufe. Aus dem Bulgarischen von Andreas Tretner Wie wenig wir doch wissen von der zeitgenössischen Kultur aus Ländern, die von uns einmal
Read More Ich mache Verse, meine Herren! Ich mache Verse, meine Herren, mache Verse, mag aber nicht leiden, wenn man mich Poetin nennt, trinke lieber einen Wein, so wie die Maurer, hab eine Zugehfrau, die mit sich selber spricht. Diese Welt, die macht sich ulkig, Dinge gibt’s, ihr Herren, die trag ich hier nicht vor, Fälle gibt’s doch nicht mal Ställe zum Wohnen für die Armen, ohne Abstandsgeld. Nach wie vor sind da die Ledigen mit ihrem Hündchen, nach wie vor sind da die Eheherren mit der Geliebten, noch immer sagt den
Read More Der Interpret Er bekommt keine Briefe, hinterläßt keine Nachsendeadresse; nimmt ohne Ausweis und ohne Reiseziel Flüge auf verlassenen Rollbahnen. Er interpretiert Zeichen, die längst niemanden mehr kümmern; er jagt entweichenden Horizonten der Welt hinterher, die einst Heimat war. Seine Hände zittern, seine Schuhe sind abgeschlurft, sein Geist ist gespalten in Zonen unaufgesprengter Muscheln. Eines Tages wird er die Paßwörter vergessen: Falltüren werden gähnen zwischen seinen Substantiven und den Dingen, die sie benennen. Aus dem Englischen übertragen von Jürgen Brocan Dichter wie den 1969 in Bombay geborenen Ranjit Hoskotè sind
Read More Die Geschichte von Ödipus Er hatte versucht, die Rätsel zu lösen, die Dunkelheit zu erhellen in der sich alle bequem einrichteten so sehr sie sie auch bedrückt. Er erschrak nicht vor dem, was er sah, sondern vor der Weigerung der anderen es einzugestehen. Würde er immer die Ausnahme bleiben? Er ertrug die Einsamkeit nicht mehr. Und um seine Nächsten zu finden stach er sich die zwei Stifte tief in die Augen. Doch wieder erfasste er mit dem Tastsinn die Dinge, die niemand sehen wollte. Titos Patrikios Übersetzt von Anna Lazaridou
Read More Posted On Mai 29, 2013By Carl Wilhelm MackeIn Litmag, Lyrik
In deinem Zimmer Und vielleicht nur das: gelassen sein auf dem Boden oder Bett in deinem Zimmer, nicht traurig, auch nicht froh, ein Lied summend mit leiserer Stimme, schauend, wie du gehst und kommst, dich kämmst und lachst und weinst, was kochst und kostest und dann meinst, du wärest nicht mehr hungrig. Aus dem Hebräischen übersetzt von Ehud Alexander Avner. Obwohl 1930 in Berlin geboren und mit seinem literarischen Werk eng der jüngeren deutschen Literaturgeschichte verbunden, gibt es von dem heute in Israel lebenden Lyriker und Übersetzer Natan Zach
Read More Posted On Mai 22, 2013By Carl Wilhelm MackeIn Litmag, Lyrik
Über die Zeit In der Zeit, die ich brauchte, um Luft anzuhalten und unterzutauchen im Badewasser (das Blut dumpf in den Adern pochen zu hören, und dann zurück an die Oberfläche zu kehren), waren meine Eltern gestorben, war das Haus verkauft worden, wurde es abgerissen um mich herum, Wand um Wand, mit Kugel und Kette. Ich mache einen Schwimmzug unter Wasser, erreiche schnaufend die andere Seite – da ist meine Ehe gescheitert, sind die Töchter erwachsen, in festen Händen, ist schlaffer die Haut um Beine und Arme, und mein Herz
Read More Auf die Nacht der Bilder zu Als wir noch die gleichen Träume hatten Und die gleichen Segel Wie die Seefahrer der Liebe Als wir ihre Gestade entdeckten: Ebbe und Flut, wir erheben uns und wir sinken nieder Mein Leib reiste in einem Schiff Aus Sehnsucht, Und meine Gesänge in einem Schiff Aus Funken – Auf die Nacht der Bilder zu. Unsere Liebe – Wir sollten ihre Wälder vermählen Mit der dort anbrandenden Luft – Unsere Liebe durchforstet die Berge und Ebenen, die sie Ringsum umzingeln Unsere Liebe – eine Treppe
Read More Die Straße Ich seh‘ mir eine Straße meiner Stadt an, durch die ich tausend Male schon gegangen bin, und mir kommt vor, ich habe sie niemals angeschaut. Die blassgelben Fassaden, die Geschäfte, die Bar, Autos und das bisschen hin und Her. Gerade so wie unser Leben: gelebt, am Ende schon und doch so unvertraut. Aus dem Triestiner Italienisch von Hans Raimund Schreibt jemand in seinem heimatlichen Dialekt, so scheint – zumindest im deutschsprachigen Raum – das Urteil schon festzustehen: fast immer wird Dialektdichtung mit „Heimattümelei“ oder „Naivität“ oder „Kitsch“
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