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Vor dem Labor brummen die Monsterkühlschränke, Neonleuchten flackern. Nachts legen wir die Beine in die Kühlschränke. Aber die sind heute voll. Ich trage jede Woche ein Bein herauf. Schweiß klebt mir die OP-Kleider an die Haut. Wer noch nie ein Bein in den dritten Stock geschleppt hat, weiß nicht, wie schwer es einem werden kann. Es heißt, Herzen wären schwer. Aber das stimmt nicht. Es sind die Beine. Mein erstes Jahr nach dem Examen. Die im Ersten schaffen die Beine weg. Oder die ganzen Toten. Sie werden durch den ParkRead More
  Die Welt betrachten – ins Unendliche reisen Alf Mayer über die Reihe Naturkunden und deren Schule des Sehens Wir wissen alles und sehen nichts. Unser Auge hat seine Frische eingebüßt, wir vermögen nicht mehr zu schauen, bringt Claude Lévi-Strauss 1963 unsere Anschauungsmüdigkeit auf den Punkt. Und dann verschwinden auch noch die Wörter. Als das „Oxford Junior Dictionary“ im Jahr 2007 Worte wie „Breitband“ neu in seine Seiten aufnimmt, werden gleichzeitig mehrere Worte des Naturlebens gestrichen. Die Richtlinien des Wörterbuchs, so verteidigt sich der Verlag, wollen es eben, dass das Lexikon „dieRead More
Der kultivierte Cyborg, der unsterbliche Popstar und die lebende Wand des Wallpaper-TV Der Cyborg, das elektronisch­organische Mischwesen aus Mensch und Maschine, ist keine Zukunftsmusik mehr. Er ist auf der Ebene der Mechanik und der Chemie (1) so real wie auf der Ebene von Geist, Wahr­nehmung und Intelligenz. Wir sind die Cyborgs. Aber nicht das ist der Skandal. Aus dem Kino wissen wir, dass man mit dem Cyborg-­Status durchaus leben kann, eine entsprechende Kultur und ein entsprechen­der Auftrag vorausgesetzt. (Denn anders als bei einem »fleischlichen« Menschen, der einfach da ist, gibtRead More
Nachruf auf Yu-chien Kuan / Guan Yuqian Je älter ich werde, desto weniger Menschen gibt es, die ich um ihr Leben und ihre Persönlichkeit beneide. Das war als jüngerer Mensch sicher anders, doch je älter man wird, desto gewisser ist man auch, dass sich noch hinter dem strahlendsten Gesicht etwas nicht ganz so Strahlendes verbirgt. Bei Guan Yuqian / Yu-Chien Kuan war das anders. Ihn habe ich beneidet, zumindest ein bisschen. Nicht unbedingt um sein Leben, aber auf jeden Fall um seine Persönlichkeit. Eigentlich musste einem aber auch sein LebenRead More
Erst war er blind, dann konnte er alles sehen… Kapitel 0 Der Bombenanschlag, bei dem Mr. und Mrs. Khurana nicht anwesend waren, breitete sich flach und dröhnend aus und hatte seinen Ursprung unter der Kühlerhaube eines geparkten weißen Maruti 800, wobei dieses Detail, das Detail mit dem Wagen, natürlich erst später bestätigt werden konnte. Ein ordentlicher Bombenanschlag hat überall gleichzeitig seinen Ursprung. Ein überfüllter Markt hat auch überall gleichzeitig seinen Ursprung, und Lajpat Nagar war beispielhaft für dergleichen Getümmel. Seine Stände bildeten einen unförmigen Sumpf, aus dem hier und dortRead More
Man lebt nur zweimal Von Bodo V. Hechelhammer Der Film beginnt mit einer Beerdigung. Eine kleine Trauergemeinde nimmt still in einer Kirche Abschied. Auf einem aufgebahrten und mit einem Tuch verhüllten Sarg erkennt man die Initialen »J.B.« und führen den Zuschauer damit bewusst zunächst in eine falsche Richtung, wer denn hier verstorben sein soll. Denn der Geheimagent, auf den die Initialen passen würden, befindet sich unter den Trauernden und beobachtete von einer Galerie diese Szene. So beginnt »Thunderball«, der unter der Regie von Terence Young (1915 – 1994) gedrehte JamesRead More
Die Hand meiner Mutter Von Christiane Nitsche Es gibt Sprachbilder, die mich zur Verzweiflung bringen. Der Schicksalsschlag als „schwere Prüfung“, zum Beispiel – den Tod eines geliebten Menschen mit einer Stunde Schwitzen unter den strengen Blicken des Fahrlehrers zu vergleichen, das will mir bis heute nicht gelingen. Fakt ist: Der Tag, an dem ich meiner Mutter die Hand hielt, während sie schmerzhaft langsam in den Tod hinüberging, war einer der härtesten meines Lebens. Einer, unter dessen Last man in die Knie gehen kann. Und das nicht nur bildlich. Es gibtRead More
Keine Ruhe nach dem Sturm Nicht immer, aber oft lasse ich Bücher zum Thema ’68 links oder rechts liegen, zumal wenn sie von selbstgewissen weißen alten zufriedenen Männern stammen. Dieses ist anders und, wenn ich richtig recherchiert habe, in der 3. Auflage erschienen. Wie der Name sagt, ist Ulrike Heider eine Frau, aber das alleine genügt bekanntlich nicht, um differenziert, genau beobachtend, farbig, aus der Distanz und trotzdem mit heißem Herzen zu schreiben. Vor allem: unideologisch, der genauen Beobachtung mächtig. Sympathisch ist das Buch schon, weil Heider nicht für K-Gruppen,Read More
  The Disappearing Newsroom  Wallace Stroby on Copy Boys, Night Shifts, and the End of an Era In the documentary The Typewriter, The Rifle, & the Movie Camera, writer/director Sam Fuller recalls the first time he ever walked into a newsroom. It was 1924, he was 12, and the newspaper was the now-long-defunct New York Evening Journal on Manhattan’s famed Park Row. “The noise was loud,” Fuller remembers. “Generally telephones ringing and, of course, typewriters clacking. And every once in a while I’d hear ‘Copy! Copy boy! Copy!’ I’d look around, and I’dRead More
 … So when the music’s over … So when the music’s over When the music’s over, yeah When the music’s over Turn out the lights Turn out the lights Turn out the lights Well, the music is your special friend Dance on fire as it intends Music is your only friend Until the end Until the end Until the end  (The Doors / Strange Days) Bei jeder Reise, jeder Rückkehr nach Mississippi kommt sie zurück:  die Wehmut, die Erinnerung an einen einzigartigen Bluesmusiker, an L.C.Ulmer. Meine erste Begegnung mit L.C.UlmerRead More
Bevor alle Namen verschwinden, ist es schön am Nebelort In ihrem Romandebüt „Ben“, das 2010 im feinen kookbooks-Verlag das Licht der Welt erblickte, erzählte Annika Scheffel auf sehr unkonventionelle Weise von einem Paar, dessen Schicksale auf seltsame, magische Weise miteinander verwoben sind, von zwei Menschen, die von höheren Mächten als dem eigenen Willen füreinander bestimmt sind. Held des Romans ist Benvolio Antonio Olivio Julio Toto Meo Ho, der auf dem Weg zu seiner großen Liebe märchenhafte Abenteuer bestehen muss und hierbei nach und nach die ihm von seinen Eltern gegebenenRead More
Eine Ballade über Gemeinschaft, Wurzeln, Tradition und Moderne, Liebe und Verlust Ein Fluss namens „Long Man“ und eine Mutter im aussichtlosen Kampf gegen die Zeit stehen im Zentrum dieses zweiten Romans von Amy Greene.  Long Man (übersetzt aus der Sprache der indigenen Bevölkerung) fließt seit Urzeiten durch East Tennessee, hat seine Ufern fruchtbar gemacht und den Menschen seit jeher als Transportweg für ihre Waren gedient. In den 1930ern lebten die Einwohner im Herzen Appalachias noch weitgehend ohne Strom. Die Tennessee Valley Authority machte es sich daher zur Aufgabe, diesen ZustandRead More
NUTOPIA New York, 1973 John Lennon, der Sänger der Beatles, lernt Yoko Ono 1966 in London anlässlich einer Ausstellung der japanischen Künstlerin und Menschen­rechtsaktivistin kennen. Für die Performance Bed-Ins for Peace verbringt das Paar 1969 aus Protest gegen den Vietnamkrieg eine Woche im Bett. 1973 verkünden Ono und Lennon in einer Pressekonfe­renz die Gründung des Kon­zept­Landes Nutopia. Ihre Wohnung im New Yorker Dakota Building erklären sie zur „Nutopischen Botschaft“. Beim Betreten dieses Gebäu­des wird Lennon einige Jahre später von einem Bewunderer, dem er wenige Stunden zuvor noch ein Autogramm gegeben hatte, erschossen.Read More
 „Emma oder das Ende der Welt“ Wie lebt man weiter, wenn das Schlimmste geschehen ist? Constanze Matthes über ein Buch des norwegischen Autors und Musikers Ketil Bjørnstad. Der Roman beginnt mit einer Tragödie, einem schmerzvollen wie unfassbaren Verlust, den Eltern nie erfahren sollten. Emma, die neunjährige Tochter von Aslak Timbereid und seiner Frau Hanne, stirbt nach einem Flugzeugunglück – als einziges Opfer. Zu Beginn von Vorahnungen gequält, sucht der Vater gemeinsam mit der Mutter seines Kindes nach einem Schuldigen des Unglücks. Der neue Roman „Emma oder das Ende der Welt“ desRead More
»Mein Name ist Sa. Ich bin deine Frau.«  Der September kam und ging. Der Oktober ging, und die Santa-Ana-Winde kamen. Sie rauschten mit der Wucht der Autos auf dem Freeway in östlicher Richtung von den Bergen herunter und knickten die Halme des Papyrus um, den Mrs. Khanh in Keramiktöpfe neben dem Spalier gepflanzt hatte. Sie erlaubte dem Professor jetzt nicht mehr, seine nachmittäglichen Spaziergänge alleine zu unternehmen. Stattdessen folgte sie ihm diskret im Abstand von fünf, sechs Metern, wobei sie sich wegen des Windes den Hut auf den Kopf drückte.Read More
  Allegorese I Gründonnerstag Überfischte Meere Vermüllte Strände Karfreitag Millionen Kinder Ohne Schule, Millionen auf der Flucht, Getötet, versklavt: Eines liegt am Strand, Die Welt geht Vorüber und interessiert. Ostersamstag Volle Gräber, Weinende Frauen. Den letzten Fisch, Das letzte Boot Wir teilen. II In der tiefsten Tiefsee Zwei Gerippe, Ineinander verfugt: Das eine Von einem Wal, Von einem Menschen Das andere: Verstehe Dies Gleichnis! Elegie colt und ständer, ständer und colt: dollars, noch feucht vom blute der toten indianer, sklaven und … (werbepause:peng, peng, peng!) … schüler, schülerinnen, lehrerinnen undRead More
Dies Haus des Kummers Helen Garner macht in ihrem Gerichtsroman „Drei Söhne“ ihre Leser zu Angehörigen einer von Trauer geschlagenen Familie. Eine Kurzrezension von Alf Mayer – und dann Helen Garner selbst in einem Textauszug. „Ich sah es in den Nachrichten. Nacht. Gebüsch. Wasser, verschwommene Lichter, ein Hubschrauber. Männer mit Warnwesten und Schutzhelmen. Hier war etwas Schlimmes passiert. Etwas Fürchterliches: Lieber Gott, lass es einen Unfall gewesen sein.“ Das notiert die Australierin Helen Garner auf Seite zwei ihres True-Crime-Buches „Drei Söhne“ (This House of Grief), einem Meilenstein des Genres. EinRead More

Posted On Dezember 8, 2018By Rolf BarkowskiIn Litmag, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special DUE

Der Verlust-Wörter-Blues

Wörter, die man nicht mehr hört Wo sind sie geblieben? „Meine“ vermissten Wörter? Die so gut wie gar nicht mehr auftauchen. Außer in meinem Kopf. Aber sonst? Und sind sie zu Recht verlustig? „ Knicks“  und „ Fräulein“ . Wer braucht den Knicks noch ? Sind ja nicht mehr bei Hofe. Und das ein artiges Mädchen einen Knicks machen soll – undenkbar. Ein verhuschtes „ Fräulein“ ,meist im Zusammenhang mit „ bitte zahlen“, ab und zu taucht es noch auf. Beide Wörter: kein wirklicher Verlust. Schon anders bei „ Backfisch“Read More
Gegengift in Buchform – einige Empfehlungen Kurzkritiken von Borgward Hobermann, Alf Mayer und Thomas Wörtche zu: Volker Angres, Claus-Peter Hutter: Das Verstummen der Natur Sue Black: Alles was bleibt Ayse Bosse, Andreas Klammt: Einfach so weg Christiane Collorio, Michael Krüger (Hg.): The Poet’s Collection Peter Graf: Was nicht mehr im Duden steht & Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch Ursula Heinzelmann: Vom Käsemachen Justinian Jampol (Hg.): Das DDR-Handbuch Rem Koolhaas: Elements of Architecture Rainer Moritz: Mein Vater, die Dinge und der Tod Rudi Palla: Verschwundene Arbeit Wolfger Pöhlmann: EsRead More
Willkommen zu unserem Verlust-Special UNO. Verlust ist überall. Er bestimmt uns mehr, als wir wissen (wollen). Wir selbst und die Kultur sind voll des Verlorenen. Zugespitzt lässt sich sagen: Kultur ist Umgang mit Verlust. Und wenn wir lieben, trauern wir auch, „that’s the deal“, betont gerade – absichtsvoll öffentlich – Nick Cave in seinen „Red Hand Files“. Die Idee zu diesem Verlust-Special war ein kleines Korn, entwickelte sich dann immer zwingender. Und breiter. Wir haben das Special zweigeteilt, lesen Sie hier nun die Beiträge unseres Verlust UNO, Anfang Dezember folgt dannRead More
Verlust des Verlustes Eine hauntologische Grille – von Georg Seeßlen                                                                  I Unser Denken entsteht aus Unterscheidungen (Tag/Nacht, Lebendig/Tot, Rau/Glatt, Flüssig/Fest usw.) und unser Leben entsteht aus Trennungen (Mutter/Kind, Ich/Welt, Lust/Pflicht, Realität/Magie usw.). Jede Unterscheidung und jede Trennung ist zugleich Gewinn und Verlust. Etwas muss da immer abhanden kommen, aber wo geht es hin? Verlust ist nur spürbar, weil etwas nicht einfach weg ist. Der Kopf und die Kultur sind voll vom Verlorenen. Der Segen und das Verhängnis des Menschen: Dass er aus dem Verlust eine Produktivkraft gemacht hat.  KulturRead More
Elf Dörfer entfernt Leg die weißen Gladiolen nieder in jener Mulde der Zeit, in der sich im kühlen Zimmer die Nachbarn drängten wie dunkle Boote am Abend des Sturms. Sein Körper lag noch im Bett: doch er war schon seit Stunden nicht mehr der Mann, der Bretter zu Fässern bog, der seinen Sohn verlor im Krieg und seine Tochter an einen Heimatlosen. Nicht mehr der Mann, zu dem die Katze zurückfand, die er ausgesetzt hatte, elf Dörfer entfernt. Einst hielt er dich auf dem Arm: dachtest du. Aber er stand,Read More
Das Vergehen unvermeidlich Aus dem Vorwort von Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“ Allein schon das 16-seitige Vorwort wäre eines Sonderdruckes auf besonders säurebeständigem Papier wert. Judith Schalansky schlägt darin einen stupenden Bogen zwischen Verlieren und Verschwinden, Vergessen und Zerstören,  Erinnern und Bewahren, öffnet den Raum für ihr in langjähriger Arbeit entstandenes „Verzeichnis einiger Verluste“, für das sie sich einen Untertitel versagt. Einfach nur: Verzeichnis einiger Verluste, als wäre es ein Katalog, ein Register. Das aber ist es natürlich nicht. Vielmehr handelt es sich um eine bis an die Schmerzgrenze des Schönen reichhaltige und kundigeRead More
“Winning you was easy, but darkness was the price” Schöner sterben mit Leonard. Für Thomas Wörtche – und gewiss nicht nur für ihn – ist Leonard Cohen sozusagen der Schutzpatron des Verlustes. So viel Trost und  Wissen und Lehre in seinen Songs und Worten, in dieser Musik. Im Grunde seit „So long, Marianne“ (1967). “I´ve grown old/in a hundred ways/but my heart is young/& still it plays/on the theme of Love/and the theme of death” (Notebooks – 19-20) Der Verlust des eigenen Lebens ist, egal, wie man dazu steht, ein gravierendesRead More
  Nicht zurückholen, aber erfahrbar machen Alf Mayer über das „Verzeichnis einiger Verluste“ von Judith Schalansky Handschmeichlerisch fühlt dieses Buch sich an, die Anmutung wie ein Stück fein bemooster Marmor oder Schiefer, doch deutlich leichter, längst nicht so schwer, die Farbe ein nach oben von Grau ins Schwarz verlaufendes Moiré, die Schrift Silber. Ein wenig wie eine Grabplatte, aber ohne deren Trauer. Tatsächlich ist es ein seltsam heiteres, ein seltsam elegisches Buch – schön oft bis an die Schmerzgrenze. Eine Gegenrezeptur fürs Zeitalter des schnellen Vergessens. Was interessiert noch etwas von Vorgestern? AberRead More
Subutex und Millenial im Paradise Lost von Ute Cohen Dritter Band. Er stirbt. Mit Vernon Subutex’ Tod versiegt auch jede Hoffnung auf Versöhnung in einer Gesellschaft, in der kein Mensch Kontrolle über sein Leben hat, einer Gesellschaft, in der jeder auf seine Weise trügerischen Hoffnungen erliegt, einer Gesellschaft, in der das Paradies längst verloren ist. Dass der esoterische Klang des zweiten Bandes von Virginie Despentes Trilogie in einer bombastischen Endzeitvision enden würde, wird wohl kaum jemanden verwundern. You want it darker? Despentes killt die letzte Flamme oxytocinverzückter Jünger, lässt dasRead More