Schaumriff
Aufgesattelt und losgeritten? Es blieb nicht verborgen, daß es Diskussionen gibt. Mancherorts wird es genutzt, um kleine Abrechnungen einzustreuen. Ioana Orleanu schreibt bei Faustkultur:
Sprachkunst, Arbeit am Wort, Rhythmik – wunderbar. Bei all dem Wohlklingenden aber, mag es noch so assoziativ, maritim, botanisch oder assonant daherkommen, muss man sich dennoch fragen (lassen…), ob jemand damit etwas anfangen kann. Wen erfreuen inflationär produzierte Abstraktionen wirklich? Wen erwärmen snobistisch-solipsistische Hermetismen auf lange Sicht? Wenn Lyrik nur noch bewusst vernebelt und nie mehr klärt (ah, dieses vermaledeite Gebot der Postmoderne: ein Irrweg, eine Krankheit!), wenn sie sich nur allein mit sich selbst unterhalten will, dann geschieht es ihr eigentlich recht, dass sie schwer zu pflegen und zu vermitteln ist.
Hergekommen ist die Diskussion allerdings von wo ganz anders, und ich möchte sie gerne dorthin zurückbringen: Die Perspektiven und Ausblicke, die erarbeitet wurden, die Selbstkritik, die existiert – das sind Dinge, die man sich jetzt nicht kaputt reden lassen soll. Machen wir einige kleinen Schritte zurück in den von Tristan Marquardt diagnostizierten öffentlichen Umgang mit Gedichten:
Wer ihn aufmerksam verfolgt, wird unschwer feststellen können, dass sich die Lyrikkritik in einem beklagenswerten Zustand befindet. Ihre Verstreutheit, thematische Kontingenz und Qualität stehen in krassem Widerspruch zur kaum zu verkennenden Produktivität und Vielfalt der Gegenwartslyrik selbst. Weder kann sie abbilden, was sich in der Lyriklandschaft zurzeit alles tut, noch bewegt sie sich – bis auf einige Ausnahmen – inhaltlich auf ihrem Niveau.
Was geschieht aktuell in den „modernsten“ Bereichen der Lyrik? Welche Betrachtung von welcher Ebene aus wird dem Geschehen gerecht? Gibt es überhaupt Gerechtigkeit im Blick auf die Lyrik? Tristan Marquardts Beschwerde klingt hier für mich so, als gäbe es zwar die neue Lyrik, aber nicht die adäquate Kritik. Er schreibt:
Prinzipiell gilt, dass kaum eine Hand voll aktiver Rezensent*innen sich mit der neuen Lyrik so gut auskennt wie die Mehrzahl der Lyriker*innen selbst.
Das liest sich für mich wie eine verdeckte Vorschrift, wer denn die neue Lyrik überhaupt besprechen darf, nämlich ausschließlich der, der sich mit ihr auskennt. Sonst hätte ich vorgeschlagen, nehmen wir ein Gedicht ins Zentrum und gruppieren Menschen unterschiedlichster Herkunft (im allerweitesten Sinne) um es herum. Was hat welcher Mensch zu diesem Gedicht zu sagen, was fällt ihm auf, wo fühlt er sich und seine Gedanken hingelenkt? Ich gehe jede Wette ein, daß man ein Gremium installieren könnte, dessen Einzelurteile extrem konträr ausfallen müssen. Vor allem, wenn man irgendeine gesellschaftliche Breite abdecken wollen würde. Der Schlosser aus meinem Betrieb käme vielleicht noch mit Bukowski irgendwie klar, der Controller womöglich mit Rilke und der Maschinenbediener mit Julia Engelmann (tatsächlich so geschehen: Schichtarbeiter in der chemischen Industrie, mittleres Alter, doppelte Portion, frisch rasierte Glatze, zeigt mir auf seinem iphone jenes youtubevideo von ihr, aus dem Bielefelder Hörsaal, welches sie in die Popularität katapultierte) – als Gremium für moderne Lyrik würde diese Mannschaft vom Standpunkt des Dichters aus versagen, wenn es sein „nachvollziehbares“ Urteil fällt: der Dichter solle mal zum Arzt gehen. Als Gremium zur Abbildung der Wirkflächen moderner Lyrik in der Industrie wäre es eine recht stimmige Auswahl.
Wo beginnt das „passende“ Gremium? Wo enden „persönliche“ Wertungen und subjektiven Urteile? Selbst eine Gruppe allseits anerkannter LyrikerInnen wird individuell unterschiedlichste Urteile fällen, und aus ihrem Votum wird letzten Endes nicht die „richtige“ Einschätzung entstehen, sondern der gemeinsame Nenner. (Aus solchen Einigungsdrücken profitieren in Wettbewerbssituationen sehr oft die mittleren Figuren, während die häufig viel interessanteren Extreme hintunter fallen. Bei der Beurteilung nur einer Sache führt der Einigungsdruck bisweilen zum Allgemeinplatz oder zur Belanglosigkeit.)
Wenn man nun ein Gremium installierte, das man breit mixt, wird man eine entsprechend breite Beurteilungsvarianz finden und steht vor dem Marquardtschen Problem – wer darf/sollte/könnte ein gültiges Urteil sprechen? Wer darf betrachten und wer wird befragt?
Die Lyrikpolizei sagt, Redakteure in regionalen Zeitungen taugen nicht für gültige Urteile – deren Äußerungen werden/wurden bspw. in der Lyrikzeitung regelmäßig als amateurhaft und nicht gebildet genug entlarvt. Kuckt mal, was schreiben die fürn Scheiß. Kennen sich noch nicht mal aus und wollen sich ein Urteil erlauben. Und schwimmen in ihrem Urteil in Sichtweisen von vorgestern.
Also Regionalzeitungsredakteure gehen gar nicht.
Wer noch? Kuratoren, Laudatoren, Kulturbeauftragte, Redakteure, Jurymitglieder – die sind lyrisch meistens noch so hinterm Mond, das geht auch gar nicht. Zeitschriftenmacher, Verleger, Lektoren, Volontäre, alle irgendwie mit Stallgeruch. Also laß uns in der Nische selbst suchen: da gibt es Schreibende, über die geschrieben wird und Schreibende, über die nicht geschrieben wird, die aber über andere schreiben. Es gibt also das heldische Personal und das dienende|dienstleistende. Und die, so meint Marquardt, gilt es zu kritisieren, daß sie ihren Job nicht richtig machen, daß sie jenen Helden nicht hinterherkommen, die sich im unbekannten Terrain nach vorne kämpfen – Avantgarde halt: hey, ich bin hier vorne! Wenn du mich sehn willst und richtig beurteilen, mußt du hierher.
Das ist eine entscheidende Geste: um den Lyriker von heute zu finden, muß man ihn aufsuchen. Es ist keineswegs so, daß er zu dir kommt. Er betreibt batteriebetriebene Toaster, bezieht sich dabei auf ein privates Leseerlebnis und sagt: er will damit nichts sagen. Man kann das nennen: Die heimliche Rückkehr ins Private oder Das heimliche Sagen.
Ich kann mich an eine Szene dieses Jahr auf der Leipziger Buchmesse erinnern, wo einer Kritikerin offenbar wurde, wie die von ihr geschätzten Gedichte tatsächlich entstehen, nämlich vor dem PC mit einer unglaublichen Menge inspirierender Tricks und Sprache erzeugender Mechaniken und Techniken. Sie war erstmal geschockt, denn für sie entstanden diese kuriosen Sprachgebilde noch immer mit Kopf, Papier und Stift und der Befund, ganz andere Talente dahinter zu entdecken, nahm ihr offensichtlich viel des vorherigen Respekts und der zuvorigen Begeisterung.
Daß in Gedichten sich „Spracharbeit“ versteckt, die komplett am Instrumentarium hängt und nicht mehr am Faktor Mensch allein; daß Inspiration heute sehr oft nur noch kurioser und ausgefeilter Serendipität geschuldet ist (übrigens auch bei vielen meiner Texte, ich liebe es!), war für die Dame eine Enttäuschung, und das zuvor ausgemachte Genialpoetische plötzlich nur noch pragmatische Raffinesse.
Ich persönlich finde die „Mittel der Zeit“ im persönlichen Schreibprozess so unterstützend, einzigartig weitgreifend inspirierend, daß ich ohne sie mittlerweile kaum mehr als langweilige Skizzen schreiben kann (was ja immerhin eine erste Stufe ist). Würde das also unbedingt verteidigen. Ich bin hier ganz bei Tristan Marquardt, der in einem Interview darüber schreibt,
… nicht nur zu sagen, dass man nichts mehr erkennen kann, sondern, dass man trotzdem weiterspricht. Und dass das nicht heißt, dass ich einfach nur wild mit Material um mich werfe, und das auf eine möglichst lustvolle coole Weise mache, sondern dass ich mir so viel Mühe gebe, dass ich wiederum eine Struktur gewinne, die exemplarischen Status hat.
Das ist für mich das Ende der Dekonstruktion, und zwar durch ihr Überwinden. Hier kommt man zu etwas Neuem nicht durch Zerhauen und mit Hilfe des allerletzten Zweifels, sondern durch Kombination. Der Franzose sagt übrigens comprendre, wenn er Verstehen meint, und das bedeutet doch eher ein Zusammenfügen, auf-die-Reihe-Bringen, las ich neulich in der Lettre.
Aber für mich war auch bspw. der batteriebetriebene Toaster, den Yevgeniy Breyger in seinem Band betreibt und den er sich aus einer Verszeile von Martina Hefter entwickelte, eine merk|würdige Offenbarung: zum Einen wedelt da jemand mit dem Mannschaftstrikot (ich spiele in der kooks-Liga) und zum Zweiten demonstriert er eine befremdende Gewißheit: es kommt auf nichts mehr an – ich kann in einem Gedicht wirklich alles veranstalten, das braucht niemand mehr in irgendeiner Art und Weise nachvollziehen zu können – Hauptsache, es klingt interessant und sieht gut aus. Wenn ich gleichzeitig versichere, jeder dürfe sich ohnehin denken, was er wolle, bin ich als DichterIn aus dem Schneider. Das hat etwas von Beliebigkeit und extremer Verschlossenheit gleichzeitig.
Ich persönlich halte das bei manchen KollegInnen für drückebergerisch und unfair. Ein Text führt, dafür ist er Text. Ein Text leitet und verleitet. Text ist kein Schaum. Es sei denn ein Schaumriff, wenn es das gäbe, auf dem man aufläuft und die Nase vollsumpft. Es ist die Eigenschaft von Text, unser eigenes Sprechen anzusprechen, indem er Sprache ausspricht. Die clevere Argumentation, daß der Text nicht schuld ist, wenn ich mich irgendwohin (ver)führen lasse, ja im Gegenteil, daß genau das der Text mir zeigen will, wie verführbar ich bin, ist ein unsauberes Spiel nach dem Motto: „Ich zeig dir was, aber daran, wie du drauf anspringst, bist du selber schuld. Ich will nicht, was du draus machst.“ Noch weiter gedacht: „Mein Sprechen spricht für sich, nicht für dich.“ Der Rückzug in ein extrem privatistisches Spracherleben oder eine extrem mechanistische Sprachkonstruktion ist immer auch ein Rückzug vom Sprechen. Oder sagen wir eine Umleitung. Man kann/könnte Sprachartistik auch betreiben, indem oder während man spricht.
Es ist für mich eine Höchstschwierigkeit, die Ratlosigkeit, die ich beim Lesen mancher AutorInnen zunächst erlebe, so zu überwinden, daß ich mich nicht verarscht fühle. Ich muß dem Texterzeuger vertrauen können, daß er nicht mit mir spielt oder mich instrumentalisiert, daß er mich nicht auf eine extra kurvige Strecke schickt, die mir nur die Reifen ruiniert, oder sogar in eine Sackgasse. Am Ende habe ich ein Buch gelesen, das mir zeigt, wie man „es macht“, aber es hat mit mir nichts gemacht. Falls das mein Anspruch ist. Falls ich die altmodische Basis vertrete, daß Sprache etwas mit mir macht. Tatsächlich ist das mein persönlich Antrieb, Gedichte zu schreiben und zu lesen – ich will sehen, was Sprache mit mir macht – und sie muß/darf/kann von sonstwoher kommen. Ich bin eigentlich nur ein Kristallisator (in der chemischen Industrie: dort ordnen sich die Moleküle und machen aus unspinnbarem transparenten Material spinnbares undurchsichtiges Polymer), und was dort reinkommt sieht komplett aus wie zufällig, entstammt aber komplett meiner Lebensbegegnung. Das ist hochindividuell. Wie anders als absolut individuell und persönlich kann ich also ein lyrisches Werk wie das von YB oder TM beurteilen?
Welches anderes Urteil als stets ein höchst persönliches erwartet TM? Aus meiner Sicht ist das Urteil eines Spargelstechers prinzipiell nicht falscher als das eines Litprofs, nämlich ihm entsprechend. TM meint aber, es ist nicht textentsprechend. Geht das denn? Ein textentsprechendes Urteil, eine Aussage, die explizit zum Text passt, sozusagen die wissenschaftliche Beschriftung des Balgs? Ich denke nein, genauso wie Text ohne Texter nicht geht, selbst wenn ich Worte erwürfele.
Tristan Marquardt heißt übrigens gar nicht Tristan Marquardt, sondern das ist so etwas wie ein Künstlername. Er gehört einer Generation an, die weiß, daß man als Alexander Rudolph nicht das gleiche Beachtungsniveau erzielt wie als Joschua Frauentang. TM gehört einer Generation an, die weiß, „wie man es macht“ - und er wünscht sich jetzt eine Kritik, die das nachvollziehen kann, was er macht.
Ich würde mich freuen, wenn er diese besonders befähigten Kritiker finden würde. Am ehesten wahrscheinlich in seinem Zirkel, weil ich für mich zumindest sagen könnte, daß ich mich seinen Texten nur ungern anvertraue. Zu oft fühle ich mich auf dem Holzweg und ich weiß, daß es vielen aus meiner Generation ähnlich dabei geht. YB hat das erst kürzlich ungewohnt drastisch erfahren müssen, wie sehr Ratlosigkeit kein guter Ansatz für eine fundierte Kritik ist. Das ist einfach so und man kann kein Verständnis herzaubern. Besonders wenn man betont, daß es nichts zu verstehen gibt (denn es gibt mehr als genug zu verstehen! – es ist immer sehr unglücklich Verstehen als nicht wesentliches Kriterium auszustreichen, denn Komposition will und braucht comprendre. Wer da noch an Stolterfohts altem Diktum festhängt, das einen völlig veralteten Begriff vom Verstehen verwaltet, kann nicht auf Verständnis hoffen). Dabei kann unser Körper Rhythmus verstehen und unsere Haut Wasser und wir können jeder Dynamik antworten, und ja, richtigerweise seit jeder Steinzeit.
Soweit ich verstehe, gibt es in TMs background aber eine große Gruppe LyrikerInnen namens G13, da gäbe es vielleicht Personal, das anzusprechen und zu ermuntern wäre, DIE adäquate Kritik zu schreiben?
Ideal wäre es natürlich die heldische Abteilung einmal selbst zu verlassen und die dienende dafür aufzusuchen, sprich: selber eine Rezension, eine Literaturkritik zu schreiben, in der Art, wie man sie sich für sich selbst erhofft. Es gibt gut etablierte Kanäle, die dafür absolut offen sind.
Das macht richtig viel Arbeit und man kriegt dafür nichts (außer Ärger). Man wird sterblich. Hinter einer guten Kritik ist der Mensch erkennbar, gibt es Positionen, Betrachtungsräume, Perspektiven. Man sollte es probieren - man verliert garantiert, während man Kontur gewinnt. Die Etiketten flattern nur so herbei und man kriegt die Seuche und wird nur noch heimlich geliked. Nur Mut, Tristan, das läßt sich alles überleben. Die Lyrikpolizei drückt auch oft ein Auge zu, immer mehr, immer öfter. Besprochene AutorInnen, die man kritisiert, werden deinen Namen nicht mehr nur respektvoll im Zirkel kreisen lassen oder – noch wirkungsvoller – nie mehr in den Mund nehmen. Das wird vieles verändern. Vor allem das Erscheinen deines nächsten Bandes wird von Revanchegelüsten begleitet und das Buch eventuell spektakulär öffentlich vernichtet. Aber das macht nichts, revanchegeplagte AutorInnen sind die wahren Helden.
Verheißungsvoller finde ich einen anderen Ansatz: Macht die Rezension zu einer Kunstform, sprengt die Vorstellungen davon, was eine Rezension sein soll, haben muß, andienen kann. Bewegt euch weg von den Helden, die auch nur Menschen sind. Seid Mensch unter Menschen und sagt, wie es sich anfühlt im Text zu sein. So ähnliche Slogans könnte man dem vielerorts gelobten „Poetisiert euch“ benachbarn. Öffnet die Texttüren! Tourt mit den Texten! Vom Offenen verhext und vom Hoffen versetzt! Besprecht das Sprechen des Andern! Ändert die Sprache der Welt!
Und wieder ganz im Ernst: Mir gefiel besonders die Typisierung von Charlotte Warsen, die uns zwar noch nicht die neue Kritik zeigt, aber die alte, wie sie versucht das Neue zu fassen, und damit immerhin Kritik dort entlarvt, wos besser ginge:
Was die Formen der Besprechungen angeht, sehe ich 3 Tendenzen, die ich problematisch finde, und in der Lyrikkritik mit besonderer Hingabe betrieben: die sich-am Riemen-reißerische Kritik, die in ihrer eigenen Deutungsunsicherheit ostentativ und against any interpretation herumsuhlt und damit immer wieder eine Vorstellung weitgehender Unverständlichkeit von Lyrik zementiert. Desweiteren die schizoid freidrehende, als Kritik und manchmal auch als Poetik getarnte, Paralyrik, die den zu besprechenden Texten, unter impliziter Berufung auf die prinzipielle Unverständlichkeit des Universums, ein eigens angefertigtes Wirrwarr zur Seite stellt, anstatt an irgendeiner Stelle auch nur versuchsweise von der Seite her einzuhaken, sowie, drittens, die Rezension im Modus der Regierungssprecheransage („verkünden statt begründen“, „Wir sagen hier nichts, aber wir sagen es scharf und bestimmt!“).
Der Bericht über das Lesen eines Buches ist ein Reisebericht. Der darf gestaltet sein, wie er will. Welche Ansprüche der eine oder andere an Literaturkritik auch stellt – man sollte nie vergessen, daß es die Reise des anderen ist. Es geht nicht um das Buch, und nicht um den Schreiber des Buches, sondern darum, ob und wie sich die Reise für den Lesenden gelohnt hat. Vielleicht fehlt da Ausrüstung, Ausdauer, Schuhwerk, vielleicht gibt es falsche Erwartungen – prinzipiell ist eine Rezension die persönliche Auskunft über Gelingen oder Mißlingen einer Begegnung mit einer Gangart, einer Bewegung auf fremdem Gebiet. Wer das Persönliche aus dieser Textform draussen haben will, braucht keine Leser. Und wer sich persönlich beim Reisen beobachten lässt, muß damit rechnen, daß er nicht ankommt dabei.
Es gäbe genug mögliche Rezensenten, von denen ich gerne eine Besprechung lesen würde, die aber bislang clever genug sind, sich nicht ihre likes-Quote zu versauen. Wahllos und rasch ein paar Männernamen: natürlich Tristan Marquardt, Ulrich Koch, André Rudolph, Tom Bresemann, Norbert Lange, Björn Kuhligk, Richard Duraj … alles gestandene Lyriker (und ach ja, Michael Gratz, der kein Lyriker ist, aber alle Kritiker bekrittelt, der sollte auch mal ein paar proofs ablegen), von denen man kaum/keine ausführlichen Wortmeldungen erhält, wenn es um die Bücher anderer geht. Die Aufzählung kann weitaus breiter weitergeführt werden. Es sieht fast so aus, als habe man im Allgemeinen Angst vor einem Profil, das sich im Netz verselbstständigen könnte. Ein paar Kurzstatements im halböffentlichen Bereich, intelligenzabbildende Lebenszeichen per Kommentarfunktion, den Rest sollen die Cottens, Engelhardts, Hartzens und Vasiks (um mit Frauennamen auszugleichen) dieser Welt erledigen.
Ich fürchte den Gedanken, daß man die Fähigkeit zum kreativen offenen Meinungsaustausch längst verloren hat. Schludriges Lesen in vorurteilbehaftetem Denken begegnet mir viel zu häufig, als das es kein Symptom sein könnte. Auf allen möglichen Etagen: ob das Jurymitglieder renommierter Preise oder gutbezahlte Kolumnisten hochklassiger Journaille sind. Oder Kollegen bei fixpoetry (mich inbegriffen). Wenn es die Fähigkeit zur prinzipiellen Offenheit gäbe (und ich weiß, die gibt es), gepaart mit der Eigenschaft, am Tisch zu bleiben, wenn es ernst wird, dann wäre auch eine andere Kritik möglich, denn dann wäre ein Fehler kein zu proklamierender Makel, sondern die Chance zu einer gemeinsamen Annäherung an „die Wahrheit“ (die auch der Diskurs an sich sein kann, das Berichten der Perspektive).
Das Blöde ist, man sitzt nicht gemeinsam am Tisch. Wir schreiben das Jahr 2016 und jeder ist in seinem eigenen Raumschiff unterwegs.
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Kommentare
Aber, aber ich weiß nicht wie sehr aber ...
Mir gefällt Dein Ton ja inzwischen. Habe aber doch noch einige Anmerkungen. Der Fabrikarbeiter mag ein schöner Prototyp des nicht Vorgebildeten sein. (Aber stimmt das? In der Schule war er und Freizeit hat er auch.) Aber dennoch, auch Angestellte kann man hinzufügen: Ich kenne eine Briefzustellerin, die liest Miron Białoszewski und Titus Meyer, eine Rechtsanwaltsfachangestellte, die liest Lothar Klünner. Und wieso nur so schauen: Ich finde, ein Betriebswirtschaftsstudent, der Stoltherfoht liest oder ein quer eingestiegener Informatiker, der Monika Rinck schätzt, gehören jetzt, wo jeder Zweite Abitur macht, ebenso dazu. Und es gibt auch Leute, die Schwierigkeiten mit Arbeitengehen haben, weil sie z.B. psychisch krank sind, und stattdessen z.B. Johanna Schwedes lesen. So viel um Dein Tableau an lesenden Nichtschreibern zu vervollständigen.
Merkwürdig scheint mir, dass „Lyrikpolizei“ hier in einem Atemzug mit Tristan und mit Lyrikzeitung steht. Tristan und die Lyrikzeitung verfolgen ausweislich Tristans Text sicher andere Ziele und haben andere diskursive Arbeitsweisen. So weit es sich um die von Dir erwähnte Lyrikzeitung handelt, werden da doch Regionalzeitungsautoren dann mit scharfer Kritik bedacht, wenn sie in der von Dir angegriffenen Art auf herkömmlicher Weise generell urteilen wollen und z.B. sich dadurch anmaßen, dass sie DAFÜR wenig Kompetenz besitzen. Da sind Deine Anliegen denen der Lyrikzeitung sehr ähnlich.
Ich denke, unterschiedlicher Sicht könnte man sein in der Frage, ob die vollständige Subjektivität des öffentlichen Kritikers das Allheilmittel gegen die Probleme der Kritik sein könnte. Im Moment habe ich da eher eine andere Diagnose. Ich beobachte eher, dass sich Kritiker immer mehr von den Rechten einverleiben, die früher Dichtern zugestanden wurden. (Danke für die schöne Anekdote von der Messe!) Dazu gehört eben auch jenes, nicht mehr rechtfertigen zu müssen, was sie tun, sondern es ihrer Inspiration anheimzugeben. Da die bekannten Kritiker (anders als viele Blogger) in einem Medium arbeiten, dass gewisse Relevanzansprüche behauptet, in eine Breite wirken will etc. sehen sie sich oft bemüßigt, nicht nur ihre Lesegeschichten zu erzählen (die sie oft nur luschig anskizzieren, dass sie kaum nachvollziehbar werden, es sei denn, man teilt zufällig dieselben Lesegewissheiten). Sie behaupten zudem, ihre eigene Lesart wäre außer für sie noch für jemanden relevant. Bzw. noch schlimmer: Wenn sie glückt oder scheitert heischen sie mit rethorischen Manipulationen darum, dass der Leser nicht mit der Schulter über diesen mehrv oder minder merkwürdigen Leser zuckt, sondern dies im Guten oder Schlechten dann doch für eine irgendwie objektive Wirkung des Textes halten. Sonst müsste man doch Sätze wie: „Das Interessiert mich nicht“ öfter von Rezensenten lesen. Meist steht da aber doch: x [Name des Textes oder gar Autors!] ist [„scheint“ wäre in diesem Zusammenhang ja fast genauso verfänglich] so und so.
Lesegeschichten sind einfach sehr, sehr, sehr verschieden und lassen oft kaum Schlüsse zu. Schlüsse lassen sie erst zu, wenn der Rezensent einerseits hinreichend sorgfältig beobachtet und zweitens nach gewissen Merkmalen schaut, die sich auch andere zu eigen machen können. Michael Gratz beteiligt sich gern an der Suche nach solchen Merkmalen und hat (jüngst z.B. bei Ames) die Subjektivität, die sich auf Lektürebeschreibung unter Nennung von Lesekriterien stützt, verteidigt.
Um auf Breyger zu kommen: Ich wundere mich: Eigentlich hatte Breyger wie Du vor zu schnellen Urteilen gewarnt. Er hatte doch gerade wie Du seine Lesegschichten offenlegen wollen, z.B. anhand einer Stelle bei Hefter. Mir wurde da etwas klar! (Du misstraust ihm gerade deswegen.) Und wenn er sagt: „Lest doch wie ihr wollt“, dann ist doch das ebenfalls die Zurücknahme des offziellen Urteils in dem Bewusstsein, dass der Autor eines Textes sich keine Autorität über seinen Text anmaßen sollte.
Wo Breyger apodiktischer klang, „seit der Steinzeit klar“ etc. verwies er auf Merkmale eines öffentlichen Gesprächs. Es gab offenbar Fragen an seinen Text, die er lange nicht mehr gehört hatte (z.B. seit seiner Schulzeit) auf die seine Texte deswegen keine Rücksicht nahmen. (Wie ich mal etwas merkwürdig berührt war, als ein Beitrittskandidat zu dem Literaturverein, in dem ich damals noch Mitglied war, von Altmitgliedern scharf um Rechtfertigungen angegangen wurde, warum seine Texte weder Metrum noch Reim trügen. (Stichwort: Unverbindlichkeit, das hatte ich wiederum lange nicht gehört und hab dem jungen Autoren ausgeholfen.)
Vielleicht ist es eher das Multiperspektivische, dass Breygers Texte (wie Hefters) so merkwürdig macht. Er hatte ja spätestens in seinem Studium ständig Leute mit verschiedenen Ansichten über Literatur, verschiedenen Herkünften etc. in seiner Umgebung. Er ist vielleicht mehr als andere daran gewöhnt, dass Proklamationen bestimmter Lektüreerfahrungen oft ein Prozess gemeinsamen Forschens an einem Text vorausgeht. (Warsen schreibt für mich, als wäre es bei ihr nicht anders). Das hat nicht jene Begrenzungen, die Du in Bezug auf Juryentscheidungen knapp und plastisch schilderst. Der Unterschied: In diesen gesprächszusammenhängen gibt es keine faulen Kompromisse, weil eine gemeinsame Entscheidung gar nicht ansteht.
Breyger ist vielleicht auch ein Schlitzohr, ich wills nicht bestreiten, er beweist es in seinen Texten, ob seine Gedichte „letztlich“ interessantere Lektüren ermöglichten, wenn sie verbindlicher wären, darüber sei hier ausdrücklich nicht geredet. (Ich bin froh zu wissen, welche Leser ich um Hilfe bitten müsste, wenn ichs allein mit Hilfe der öffentlichen Breygerphillologie und dem Buch nicht klären könnte.) Nur so viel: Wenn „Raumschiff“ der einsame Tisch sein sollte, dann passt Breyger nicht in Dein Bild. Schade, dass Dein schönes Fazit „Wenn es die Fähigkeit zur prinzipiellen Offenheit gäbe (und ich weiß, die gibt es), gepaart mit der Eigenschaft, am Tisch zu bleiben, wenn es ernst wird, dann wäre auch eine andere Kritik möglich, denn dann wäre ein Fehler kein zu proklamierender Makel, sondern die Chance zu einer gemeinsamen Annäherung an „die Wahrheit“ (die auch der Diskurs an sich sein kann, das Berichten der Perspektive).“ durch dieses unpassende Beispiel etwas an Glaubwürdigkeit verliert.
PS: Michael Gratz bespricht immer wieder mal selbst Dichter. Dazu gehören ebenso Barockdichter, avancierte (Papenfuß, Lange oder Genschel), genau wie vergleichsweise gemäßigte (Braun-Biermann- und letzte DDR Generation) selbst Nazibarden (und andere. Ich schrieb die hin, die mir sofort einfallen.) Möchtest Du diese proofs mal lesen?
Von Rudolph und Lange hab ich auch schon Kritisches gelesen. Vielleicht hindert bei Manchem auch der zu akribische Anspruch vor zu vielen solcher Arbeiten? Duraj hat z.B. auf FB wohl wenig Angst um Likeverluste. Deinen plausiblen Verdacht hege ich allerdings manchmal ebenfalls bei anderen Leuten. „Man wird sterblich.“ davor haben Leute Angst, die dennoch nicht unsterblich sind.
PPS: Stolterfoths Diktum verwaltet einen veralteten Verstehensbegriff: Welches Diktum? Das vom Teufel? Der das Verstehen „gesehen“ hat? Welchen Verstehensbegriff? Kann man es so genau sagen? Inwiefern? Waren nicht eher in die Feststellungen, wie der Dichter es verstanden haben muss, recht rustikale Verstehensweisen involviert? Vielleicht verwaltet das Diktum nichts sondern war mehr Rock'n Roll? Ich habe Frage, besonders weil Ulfs Reisebeschreibungen durch den von mir geschätzen Wittgenstein mir einsichtiger sind.
Probleme
Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Bertram: "Er hatte doch gerade wie Du seine Lesegschichten offenlegen wollen, z.B. anhand einer Stelle bei Hefter. Mir wurde da etwas klar! (Du misstraust ihm gerade deswegen.)"
Ich mißtraue dieser Formulierung, weil ich mir selbst misstrauen würde, wenn ich es so machen würde. Ich gleiche das ganz konkret mit mir ab und das macht meinen Eindruck natürlich absolut subjektiv. Ich sitze da und rätsle über einen Begriff, den jemand aufbringt, eine explodierende hagebutte, das kann mich Tage begleiten, einfach weil Sätze mich einhaken können und mitnehmen. Ich bleibe keineswegs kalt. Also rätsle ich über etwas und tappe im Rätsel herum und stelle irgendwann fest, es ist ein Rätsel, für das es in mir nie eine Antwort gegeben hätte, weil es einfach dort keine antwort gibt, sondern die antwort so unerreichbar und vielleicht sogar lapidar im andern wurzelt, daß ich mich frage: würdest du das auch so schreiben/wollen und gleiche es damit ab, was ich selbst gerne im gedicht geschehen sehen wollte. würde ich meinem leser eine reaktionsfläche anbieten, mit der er nicht wirklich in kontakt kommen kann? welchen beweggrund kann es geben um gerade diesen begriff so und nicht anders zu bringen? gibt es einen beweggrund verankert im text? ein muß, eine folge, einen rythmus, eine harmonie - eine wie auch immer begründbare subjektive unausweichlichkeit, an der ich den leser teilhaben lassen möchte, und wenn es ein ton ist, eine attitüde - oder ist es irgendwie nicht nachvollziehbar, warum dieser effekt dort hingehören soll.
ich unterhalte mich also tatsächlich mit mir sehr ernsthaft über das vorhandensein von begriffen wie den batteriebetriebenen toastern - ich gehe nicht leichtfertig darüber hinweg. aber ich hadere auch damit. ich hinterfrage es, ich mißtraue der lenkungsabsicht, die angeblich nicht da ist, aber in jedem text allein durch das geschehen des textes geschieht. und wer seinen text durchgeht und durchlebt, dem geschieht genau das: es gibt richtungen, zugkräfte, zentren. es gibt großartige krumme begriffe und großartige exaltierte textszenen, ich liebe es wenn viel passiert, wenn der autor es schafft eine lebendige szenerie zu erschaffen, die große dynamische auswirkungen hat, und das "nur mit worten" und wortkolissionen, ich spüre oft eine heidenfreude wenn aus eigentlich unbegreifbarem sich ein richtiges theaterstück entwickelt. wenn ich spüre, daß der autor im text ist und mich einlädt mit ihm im text zu sein.
die toaster haben mir das leider irgendwie versaut. ich unterstelle YB wegen den toastern ein trikot, das ist klar eine polemische unterstellung, aber eben auch eine frage: aus welchen gründen schreibt der autor das so wie er es schreibt?
es gibt z.B. bei mir einfälle über die ärgere ich mich später, ob dieser oder jener begriff nur schauspiel und winke winke war, oder tatsächlich wichtig und "sinnvoll". bringt das was. ist das ein guter effekt. nutzt er dem text. ich möchte also von mir wissen, ob das noch ok ist mit den freiheiten, die ich mir nehme und dem leser wie ein demo vorspiele.
vielleicht ist mein problem, daß ich von mir selber weiß, was fürn mist ich selber produzieren kann, wenn ich schreibe wie ... oder agiere wie ... - ich imitiere, ahme nach, lerne ein gefühl kennen und bin dann unzufrieden mit mir, weil das resultat zu sehr linie ist, an der ich entlang will und nicht linie, an der das gedicht entlang will. ich möchte texte schreiben, denen ich nicht hinterherkomme, so viel tempo nehmen die auf, oder in denen ich versinke, weil sie so schwer sind. und habe die erfahrung gemacht, daß ich das mit wenig ich besser kann als mit viel ich. wenn ich wegfalle ins gedicht und trotzdem bei mir bleibe.
und von daher erscheinen mir die toaster noch immer rätselhaft und die kompositionsnotwendigkeit/technik dahinter erschließt sich mir nicht über das gedicht. die toaster ichen mir irgendwie zu sehr. das ist natürlich ein subjektiver eindruck.
und es sind so meine probleme, die ich beim zugangfindenwollen habe. und ja, mißtrauen ist eins davon.
Debatte über Lyrikkritik
Ich verfolge diese Debatte, die sich auf fixpoetry und auf anderen Seiten zunehmend entwickelt, mit großem Interesse und versuche, die jeweiligen Argumente in ihrer Berechtigung nachzuvollziehen. Ich möchte daher auf einen Aspekt hinweisen, der bisher noch nicht genügend beachtet wurde, zumal er das zentrale Problem ist, das auch dem Beitrag von Tristan M. zugrundeliegt: Es geht ums Geld - um die Tatsache, wie wenig, beispielsweise, von den Zeitungsverlagen in die Bezahlung anständiger Honorare investiert wird, so daß sich auch hierdurch bedingt keine wirklich "externe" Lyrikkritik entwickelt hat; wieso sollten die oben angesprochenen, zumeist wohl freiberuflich arbeitenden Autoren sich als Kritiker betätigen, wenn es dafür kein/kaum Geld, das sie nunmal zum Leben brauchen ? Solange sich an diesen ökonomischen Verhältnissen nichts ändert, bleibt uns Lyrikern eben nur das Eigenblutdoping - und es ist doch gerade angesichts dieser deprimierenden Umstände das große Verdienst solcher Seiten wie fixpoetry oder dem signaturen-magazin, daß sich durch den kontinuierlich fortgesetzten Diskurs eine eigene Form von Objektivität entwickelt.
@Frank
„würde ich meinem leser eine reaktionsfläche anbieten, mit der er nicht wirklich in kontakt kommen kann?“ Die Frage ist rhetorisch, vermute ich, Du würdest Deinem Leser keine solche Fläche bieten. Ich glaube auch, Breyger und Hefter tun dies nicht. Sie haben nur andere Anforderung daran, was es heißt, Kontakt herzustellen. Sie fliehen auf andere Weise ein vorschnelles umarmt werden, vor die sprachlichen Mühlen des anderen gespannt werden.
Zu mir und anderen haben Hefters Texte dennoch oft so guten Kontakt, besonders auf Lesungen, dass sich der Kontakt auch leise lesend herstellt. Breyger habe ich zu wenig gehört. Mir wurde aber klar, dass man ihn wie Hefter lesen könnte. Das heißt für mich gar nicht, dass Breyger Hefter Nacheifert, ihr Epigone wird. (Ich nehme ein mögliches Misstrauen nicht als gegeben hin, bloß, weil sich Schwierigkeite/Unklahrheiten bei der Lektüre einstellen.) Ich hätte ihn vorher sozusagen bissiger gelesen. Nach seinem Wink sehen seine Text für mich gleich ganz anders aus. Das hat nichts mit Kook-Label zu tun. Denn Ulf z.B. liest ja ganz anders als Martina. Das ist ja nur von sehr Ferne vergleichbar. Das Kook-Label ist da DEINE unglückliche Schublade.
Du legst Dir die Arbeitsfrage vor: „würdest du das auch so schreiben/wollen und gleiche es damit ab, was ich selbst gerne im gedicht geschehen sehen wollte.“ Ich würde nicht zu Schreiben wissen,wie Hefter schreibt, selbst, wenn sich lesend der Kontakt herstellt. Also sollte ich das nicht tun. Ich müsste etwas herstellen können, was nicht nur von weitem wie Hefter aussieht (eine Hefterparodie, die andere Menschen umstandslos für Hefter nähmen) sondern ich müsste Texte schreiben, die auf dieselbe Weise rührend sind. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie sie es macht. Erst, wenn ich das könnte, könnte ich entscheiden, ob ich dann sagen würde: Aus meiner Sicht, sollte man so schreiben, oder eben nicht. Das wäre dann eine ethische Frage.
Bis dahin bieten mir Breyger und Hefter (Matthias Traxler, Saskia Warzecha?) Texterlebnisse, die ich anderswo so nicht bekomme. Manchmal mag ich mich dem aussetzen, manchmal nicht.
Ich glaube, Breyger bestreitet nicht die Lenkungsabsicht seiner Texte. Er hält das nur für eine so banale Frage, das darüber nur wenig Kluges gesagt werden kann: Wenn man schreibt „Toaster“ meint man eben „Toaster“ und nicht „Sonne“ oder „knirf“, (es sei denn, man weist das aus), „ein Bienentanz und damit meine ich: Bienentanz.“ (Sandra Trojan). Wogegen Breyger sich aus meiner Sicht wehrt ist der Umstand, dass Schmitzer wie Engelhardt zunächst ihre Gewohnheit mit der Deutung gänzlich anderer Gedichte auf ihn übertragen ohne zu sehen, was offensichtlich ist: Dass die Gedichte sich dagegen sperren. Sie sind keine Formen gedichthaften Meinens im klassischen Sinne. Breyger räumt zudem ehrlich ein, dass auch seine Sprache durch seine Lesegeschichte geprägt sein könnte. Vielleicht gibt es ja in der Zukunft ein Heftersches gedichthaftes Meinen und Menschen die das zu stereotyp empfinden?
Ich habe zwar (u.A. mit Luise Boege) einen gewissen Vorbehalt gegen bestimmte Mischungen von Spezialvokabularen aber offenbar weniger insgesamt weniger Misstrauen. Weil ich mir selbst weniger Mist zutraue? Wohl eher nicht.
Du schreibst: „ich liebe es wenn viel passiert, wenn der autor es schafft eine lebendige szenerie zu erschaffen, die große dynamische auswirkungen hat, und das "nur mit worten" und wortkolissionen, ich spüre oft eine heidenfreude wenn aus eigentlich unbegreifbarem sich ein richtiges theaterstück entwickelt. wenn ich spüre, daß der autor im text ist und mich einlädt mit ihm im text zu sein.“ Das kommt mir wie eine, wenn auch zurückhaltend lieberale, Forderung nach etwas wie innerer Notwendigkeit vor. Ich denke, wer so fragt, geht für das Neue leicht verloren. wie jemand, der eine chemische Reaktion bezweifelt und darum vergisst, die Reagenzien in Kontakt zu bringen. Ich frage mich, warum es Dir nicht reicht, dass Dich Breyger nicht so interessiert, warum es Dich dennoch so beschäftigt.
https://www.facebook.com/kunsht/videos/271407379864562/?pnref=story
Ich glaube, dieser Film würde mindestens Martina gefallen. Ist es gute Musik (Musik, die mit mir etwas macht?)? Die Frage geht merkwürdig am Werk vorbei. Aber es könnte eine Kunst werden, die nicht außermusikalisch ist. Jetzt ist es noch unverbindlich, eine Art Spielerei. Ein guter Anfang aber doch, diese Mischung aus Verspieltheit und unwillkürlichem Horror vor Insekteninvasionen (technisch oder wirklich.) Aber wenn ein Zweiter ein Dritter sowas bastelt, beginnt man Fragen zu stellen: Macht dieser interessantere Musik als jener? Soll die Musik (un)eingängiger sein? Oder sollte sie eher mit den unbeholfenen Bewegungsmustern der Drohnen korrespondieren? Oder: Wie viel Aufwand braucht einer für ein ähnliches Ergebnis? Lässt sich das gleiche Ergebnis geschickter mit weniger Drohnen erzielen? Auch: Sind die Bewegungen der Maschinen schön? Sollen sie eleganter sein? Insektenhafter? Erst wenn wir eine Gewohnheit im Umgang mit solchen Musiken gebildet hätten, würden wir anfangen können „innere Notwendigkeit“ dieser Kunst zu- oder abzusprechen. Irgendwann könnten wir eventuell aus der reinen Tonspur den Habitus der Drohnenbewegung gedanklich extrapolieren, wie wir aus bestimmten Buchstabenreihen (Gedichtformen) ständig und unwillkürlich auf einen bestimmten Habitus der (Kunst)person eines Dichters schließen und bei anderen nicht.
Und auch der Subjektive Kern: Wie in der Sprache sind hier keine Subjekte vorhanden. Aber doch auch hier sehr stark der Eindruck der Leibhaftigkeit? Wie gehen wir damit um? Vielleicht geht es auch Hefter eher um die Art der Anwesenheit von dem, wie Menschen, wie Bedeutungen in texten anwesend sind. Wenn Du möchtest: Wie sich Mensch, Habitus, Sinn in texte hineinprojiziert. Vielleicht leidet sie daran, wie andere Gedichte dies tun, weil diese andere Arten Unsagbarkeiten einschließen, die Sagbar sein sollten? Vielleicht muss man auch nicht leiden, sondern alles ist lustvoll?
PS: Vielleicht, Turowski hat ja Recht, können wir an anderen Stellen in der Debatte die wichtige Frage nach dem Geld stellen. Wo es naheliegender ist als hier, wo mindestens zwei Tagelang über Details von Gedichten nachdenken. Da können Fragen nach Geld Status etc. leicht eine Konzentration kaputt machen, die mir hier wertvoll erscheint.
erstmal vielen dank
für deine gedanken und den knirf, das ist so viel und umfassend, daß ich gar nicht alles auf die reihe bekomme. aber vieles kommt an und gärt und findet dann später seine entsprechungen und antworten. will sagen: es erreicht mich und bleibt bei mir.
kleine pause mit einem kaum zu lösenden thema: eine gelddebatte läßt sich nicht wirklich führen, finde ich. wenn ein kultusminister wüßte, wie stark eine gedachte lyriklandschaft schon jetzt nur von einem heimlichem mäzenatentum am leben gehalten wird. ich glaube ich habe das schonmal aufgezählt, da ist julietta fix, die eine riesenarbeit bewältigt und quasi ein becken ausspannt und auch für gelder sorgt, daniela seel, die wie eine löwin für ihre kookbooks kämpft, da sind - natürlich michael gratz, frank milautzcki, bertram reinecke, jan kuhlbrodt, stefan schmitzer (um mal einige der mir vertrauten diskutanten zu nennen) etc etc die sich einmischen, kappeln, riskieren, da gibt es wunderbare orte wie die lyrikkritik.de (mit einem wunderbaren hendrik jackson dahinter), planetlyrik (mit einem wundervoll hochengagierten Egmont Hesse dahinter) , natürlich der poetenladen, die signaturen etc. - alle mögen entschuldigen, daß ich die liste klein halten will - die fraglos großen lohn verdienen würden. also aus meiner sicht nicht nur die autoren, sondern auch die forenanbieter, am leben erhalter, ermöglicher incl. lyrik-verleger (denn damit verdient man kein geld).
ich fände dort staatliche gelder besser angebracht als in der allzeits subventionierten oper.
Ich kann das, was ich hier schreibe, nur schreiben - weil ich arbeiten gehe. Morgen früh gehts weiter. Dann verrammelt sich der Kopf mit Problemen die nicht im Entferntesten damit zu tun haben, was wir heute austauschen. Daß wir Kultur schaffen, quasi unentlohnt, sondern wie Maezene dafür einstehen ein literarisches Leben zu ermöglichen, sollte uns miteinander verbinden.
Film mit Film beantworten
Bertram, ich muß noch einkaufen, habe aber während einem Tee in der Sonne eine schöne Idee gehabt, wie ich dir antworten könnte und post das, bevor ich verschwinde.
Das Video zu deinem Link macht Spaß. Wenn ich überlege was da passiert, sieht man den Versuch mit einem neuen Verfahren eine alte Art von Musik zu machen, etwas, das als Musik erkannt wird. Und tatsächlich deckt das viele Momente der neuen Lyrik ab, man versucht mit frischen Vorgehensweisen, bisher unbekannten Nutzmustern, Text zu erzeugen und viel von der Begeisterung, die am Resultat entsteht, stammt aus der Be-Wunderung des Konzepts. Zu diesem ganzen Komplex neuer Erzeugungsverfahren und wie das mit Kryptizität und Tiefe zusammengeht, lese bitte meinen Essay „Karten“ in der Spritz (Dez. 2013), dort ist das alles sehr ausführlich dargelegt (immerhin zehn Seiten).
Da du mich ja ständig in die unmoderne Ecke jonglieren möchtest, hier ein kleiner Schwank aus meiner Jugend: einer der ersten Lyrikbände, die ich je besaß, war ein Luchterhand-Taschenbuch, der „Tod durch Musen“ von Friederike Mayröcker. Ähnlich wie Oskar Pastior für Ulf Stolterfoht, war der Tod durch Musen ein Initialerlebnis – ich kann etwas lesen und verstehe es nicht und es gefällt und fasziniert mich trotzdem. Fast zeitgleich verlor ich mich in die Hörwelt der „Lamb lies down on broadway“, ein Doppelalbum der frühen Genesis noch mit Peter Gabriel, erschienen im November 1974. Auch hier verstand ich die Handlung nicht, aber sie faszinierte mich.
Und hieraus klicke ich dir ein Hörbeispiel an: https://www.youtube.com/watch?v=Lmeyb8bX4Uo
Es ist eine neunminütige improvisierte Life-Version des ansonsten Fünfminüters „The Waiting Room“, gespielt im Empire Theatre am 19.April 1975 in Liverpool. Und zwar auf recht konventionellem Instrumentarium: die Geräusche, die man hört, entstammen handbedienten Instrumenten. Um 4:30 schleichen sich die Drums mit einem Rhythmus ein und der Bass legt eine wiederkehrende Basis, um 6:00 findet die Orgel die eigentlich zugrundliegenden Harmonien, während Peter Gabriel am Mikro beginnt ein verrückter Koyote zu sein. Das alles kocht, sprudelt, flimmert, glitzert, balgt und spritzt herum. Um 7:55 ruft eine Trillerpfeife zur Ordnung und zur Ruhe, die sich ab 8:55 tatsächlich einstellt.
Eine mehr durchstrukturierte Version findet sich hier: https://www.youtube.com/watch?v=0uxJFNfn6pA
Was ich hier höre ist Musik im allerfeinsten Sinne, die krummen und schiefen Elemente sind nicht Selbstzweck sondern bewußt eingesetzte Mittel, die am Ende zeigen: hey, ich kriege auch hiermit Spannung und Dynamik erzeugt, das ist nicht wirklich beliebig, sondern es gibt überdachende Struktur und Leben darin und darunter. Um 4:50 herum wechselt der Rhythmus in dem er dem treibenden Bass plötzlich das epische nimmt und zur Maschine macht, Peter Gabriel tanzt in seinem Rabenmannkostüm im Hintergrund, Phil Collins an den Drums wechselt von Achteln auf Viertel und zurück. Es klingt aus und weg.
Dem ganzen liegt ein Text zugrunde:
"The Waiting Room"
He panics, feels around for a stone and hurls it at the brightest point.
The sound of breaking glass echoes around the cave.
As his vision is restored he catches sight of two golden gloves
about one foot in diameter hovering away down the tunnel.
When they disappear a resounding crack sears across the roof, and it collapses all around him.
Our hero is trapped once again.
"This is it" he thinks, failing to move any of the fallen rocks
Man hört diese Handlung, die surreal genug ist. Das war Rockmusik anno 1974 (jaja, alter Kram) ohne jene elektronischen Hilfsmittel, die heute so vieles erleichtern. Und bitte Bertram, sag nicht daß das alter Käse ist. Eine ähnlich gekonnte Umsetzung von zeitgenössischen Ideen und Realitäten würde ich mir in der Lyrik von heute wünschen – und sehe da ganz ganz wenig Potential. Es gibt gute Ansätze, aber längst keine Könnerschaft. Die meisten halten sich immer noch damit auf, erstmal ihre Instrumente zu lernen, um so was spielen zu können. Wenn man beim Bild bleiben will. Viele sind begeistert, was für Töne da rauskommen und halten diese Töne dann schon für ihr Magnum Opus. Oh, da läßt sich Text gewinnen, fein fein – und bislang ist noch keiner auf diese Idee gekommen, noch feiner. Alles gut, aber das darfs dann nicht sein.
Der Aufwand an Könnerschaft hinter den Drohnen ist enorm!
Aus dem Essay „Karten“:
„Soweit die Welt mir vertraut ist, hält sie heute andere und komplexere Problemstellungen parat als zu Zeiten des Neopathetischen Cabarets. Wenn sich das „alles schon mal dagewesen“ auf Techniken und Formen bezieht, also auf Erscheinungstypen der Lyrik, dann kann man sicher eine Menge abhaken. Bezieht man die Frage aber auf den möglichen Inhalt von Lyrik, muß man zugeben, daß wir „in einer anderen Welt“ leben, die nicht nur ihre eigene Formen, sondern auch ihre eigenen Inhalte hat. Wie ein heute komponierter Song mit den gleichen Akkordfolgen, die Bob Dylan schon benutzt hat, Inhalte trägt, die zeitgemäß sind, könnte ein Gedicht à la Morgenstern einfach, gut und zeitgemäß sein. Es ist dann die Morgensternsche Art zu reisen – durch die heutige Zeit. Wie es auch Sinn macht Dada zeitgemäß zu wiederholen. Es ist dann die dadaistische Art zu zeisen – mit den Materialien der Zeit. Alle Parolen für oder wider die eine oder andere Art „Lyrik anzubieten“ empfinde ich als unzeitgemäß und dienen meistens nur der Selbstlegitimation und der Positionierung von Pseudo-Modernität, die sich über Abgrenzung aufstellt. Ausdrucksverbote und Formgebote sind kontraproduktiv und haben in einer freien Welt nichts verloren. Wirklich angesagt ist in diesem Sinne Öffnung statt gesteuerte Kanalisierung, Auflassenkönnen statt Gymnastik in Handschellen. Inhalt steuert Form von alleine in neue, angemessene Bereiche hinein. Wenn es überhaupt ein Maß für Modernität gibt, dann ist es dieses: auf welche Weise hat Inhalt in Form gefunden. Darüber wäre zu reflektieren. Was veranstaltet der moderne Lyriker in sich, um zu einem Gedicht zu kommen, das als Form anders rüberkommt als Bisheriges und ist das dann noch Kunst oder im Abseits erzeugte Kuriosität?“
Man möge die Rezension von Helmut Salzinger vom 10.März 1967 in der ZEIT über Mayröckers Tod durch Musen lesen und feststellen – die Positionen und Konflikte sind nicht neu und lassen sich in den schon damals bekundeten Statements wiederfinden. So meinte Eugen Gomringer, daß es sich bei Mayröckers Poesie um „Poesie handelt, in welcher das Herstellen von Texten das Anwenden von Sprache überwiegt“. Eine brauchbare Analyse finde ich, die, richtig verstanden auch schon das wirklich Neue auf dem Teller hat: Wirklich neue Poesie ist heute eine Poesie, in der das Anwenden von Sprache hergestellt wird, man muß sagen: wieder hergestellt, also die Dekonstruktion überwunden und ein neues Sagen geübt wird. Viele sind noch auf der reinen Herstellerschiene – wer ein Gedicht ordentlich abhandeln will, betrachtet es „hergestellt“. Vor sich hin, auf die Drehplatte.
Bertram, die ganzen Einlassungen, was modern ist und neu und was hunkepus, finde ich lächerlich, dieses ganze Streben nach vorne und verweisen nach hinten und bejammern, daß man nicht verstanden wird etc. Von der Musik kann man lernen, daß man sie macht, wie man sie gerne selber hört und sich wohlfühlt damit, auch wenn sie mal garstig ist. Und wenn man da drin ist, gefällts auch anderen. Wenn man nicht drin ist, sondern drum rum stolpert, dann erreicht das auch niemand.
Also schiebe mir nicht immer Zuetikettierungen rüber, welche heimlichen Altlasten da aus mir sprächen. Das ist nämlich wirklich alt und Schnee von gestern. Das machen nur Leute, die sich nicht auf Augenhöhe unterhalten wollen, bzw. die ihre Perspektive privilegieren.
Toasty
Auch wenn ich mich dazu nicht äußern wollte: Ich habe nirgendwo gesagt, ich hätte den Batterytoasty von Martina. Ist auch nichtmal so. Good night, white pride.
das stimmt absolut. vielmehr
das stimmt absolut. vielmehr habe ich sämtliche roboter von yevgenyi geklaut. und bertram sei hier noch für seine klugen ausführungen oben in seiner antwort gedankt.
yevgeniy muss es heißen,
yevgeniy muss es heißen, natürlich.
Lyrikpolizei
Lieber Frank Milautzcki, Sie schreiben,
"Die Lyrikpolizei sagt, Redakteure in regionalen Zeitungen taugen nicht für gültige Urteile – deren Äußerungen werden/wurden bspw. in der Lyrikzeitung regelmäßig als amateurhaft und nicht gebildet genug entlarvt. Kuckt mal, was schreiben die fürn Scheiß. Kennen sich noch nicht mal aus und wollen sich ein Urteil erlauben. Und schwimmen in ihrem Urteil in Sichtweisen von vorgestern.
Also Regionalzeitungsredakteure gehen gar nicht."
Soweit es die Lyrikzeitung betrifft, empfehle ich einfach mal zuerst hinzusehen. Dort zitiere ich sehr oft ("positiv oder "neutral") Regionalzeitungen und manchmal, sehr gelegentlich, zitiere ich auch "geistige Gänseblümchen", Klischees, Stilblüten und sowas ("eine gelegentliche Kolumne", schrieb ich manchmal dazu, Sie können es hier nachlesen https://lyrikzeitung.com/tag/geistige-gummibarchen/ ). Im übrigen weit öfter aus sogenannten "Hoch"- oder "Qualitäts"-Zeitungen. Warum also die Sottise gegen "Lyrikpolizei/Lyrikzeitung"? Alte Rechnungen begleichen kann es nicht sein, da waren wir uns gelegentlich schon mal einig.
korrektur
äh, geistige gummibärchen, nicht "gänseblümchen" :)
und "Hochfeuilleton", nicht
und "Hochfeuilleton", nicht "Hochzeitungen"
ein Beispiel
https://lyrikzeitung.com/2014/02/04/17-wie-formalistisch-sollen-rezensio...
da schreibt mal einer etwas über absolut kleinauflagige erzeugnisse, wo der verlag sicher froh ist, daß er eine referenzfläche anlegen kann, und wir haben nichts andres zu tun und jedes lavieren und aufpimpen zu einer wie auch immer gerechtfertigten kritik zu nutzen. ich denke auch hier eher an charlotte warsens aufdeckung, aus welchen gründen denn so kuriose und seltsame rezensionen geschrieben werden. es gibt gründe für "schlechte kritiken" ...
da gibt es große unsicherheit, ein großes problem etwas "handfestes" zu schreiben und man flüchtet sich in ideen am rand und begleitende auffälligkeiten. das ist eigentlich ein hilferuf, so blöd es klingt: hey ich weiß nicht weiter - und er kommt auch aus dem hochfeuilleton (törne -falb). deshalb bin ich der meinung, man möge bitte mit dem schwächeln derjenigen leben, die sich doch mal an lyrik "rantrauen".
ich hatte damals kommentiert: "ich weiß nicht, ob es besonders klug ist, jeden angreifbaren satz über lyrik anzuprangern und damit letztendlich die lyrik ganz aus möglichen kanälen herauszuboxen, weil niemand mehr, der nicht lyrik-fachmann ist, eine rezension in einer „publikums-zeitung“ riskieren will. dann verbleibt letztenendes die lyrik ganz bei den lyrikerInnen. "
und in diesem sinne meine ich auch das substantiv "lyrikpolizei". wir dürfen schmunzeln, aber nicht schimpfen über gelegentliche hilflosigkeit und ratlosigkeit. oder gar bloßstellen.
ich würde ohnehin vorschlagen, es einfach besser zu machen. und zwar selbst besser zu machen. auf die wenigen aktiven "lyrikkritikerInnen" zu schießen , oder die paar hanselinchen, die sich mit mulmigen bauch, aber gewohnter auch eingeforderter souveränität, mal hergeben für ne kritik, das finde ich zu einfach. warum traun sich denn die wenigsten der rund 500 poetInnen, die allein in der "Poeten-Liste" des poetenladen aufgeführt sind, und nicht nur theoretisch sondern auch praktisch mit lyrik arbeiten, sich mit einer kritik zu exponieren?
Ich glaube, das ist eine wichtige frage. gibt es da vielleicht außer scheu sogar auch angst? flattert da im kopf das eigene buch davon, wenn man für seine kritik zerissen wird.
ich lebe manchmal mit ungesagtem, als hätte ich es gesagt. ich habe früher briefe geschrieben, die ich nie abschickte und als ich den empfänger dann sah, war mir so, als hätte ich schon alles gesagt.
manche meinen auch, sie haben etwas gesagt, wenn es gefacebooked oder geliked ist.
danke für das wort sottise! wir beide wissen wie schwer es ist, zitierbares auszustellen, das ist immer auch ein gratwandeln. ich möchte uns daran erinnern, ein bißchen gnädiger mit nicht ganz so "professionel" erzeugten meinungen umzugehen. ansonsten bin ich und bleibe ich ihnen treu, herr gratz, als täglicher besucher der lyrikzeitung wie seit jahren (über ein jahrzehnt) schon.
bei uns ist das was andres
alles schön und gut und jedem seine eigne meinung, aber sie hängen sich an eine klitzekleine glosse und schreiben sätze über "die lyrikzeitung", die sind grundfalsch und genau das gegenteil ist wahr. und verzieren es mit dem etikett lyrikpolizei. selbstverständlich nicht ohne hinzuzufügen, daß sie die polizeiberichte jeden tag lesen. und bestimmt haben sie noch nie jemanden kritisiert oder glossiert, schon gar nicht bekrittelt, ich hab grad keine lust nachzusehn... ich verstehe, bei ihnen geht es anders als bei andern nicht um alte rechnungen und "präsenzpunktesammeln". jeder hat seine eigne politik, aber bei uns selber ist es jeweils was ganz andres. in diesem sinne! (aber ja, mich würde auch interessieren, was sie mit "stolterfohts altem diktum" eigentlich meinen)
mehr zum thema
also: ich würde vorschlagen, daß wir mehr über das thema reden als über mich. ich glaube nämlich schon, daß - wenn wir über lyrikkritik sprechen - es zirkelinterne zusammenhänge gibt. den begriff lyrikpolizei habe ich ganz bewußt benutzt, um uns wach zu machen für das, was in anderen vor sich gehen könnte, was in anderen gezündet oder verstärkt werden könnte, wie sieht es aus in rezensenten, die rezensieren wollen oder sollen und sich flüchten in beiläufiges gießen. das geschieht doch nicht immer freiwillig, sondern oft aus ratlosigkeit und hilflosigkeit - die angst vor der blamage läßt kuriose blüten blühen. und auch die angst vor dem pranger.
also wenn wir wirklich über lyrikkritik reden wollen, dann über die, die es vielleicht geben könnte. Mir ist ein Wort begegnet, das ich für einen guten Aspektwert halte: Interanimation. Also die Lebenszeichen zwischen den Worten, das könnte ein passendes Kriterium sein, Begriffe wie Ambiguinität, Interpenetration - nach was kann man schauen, wenn man ein gedicht anschaut. welche perspektiven gibt es, welche aspekte zeigen sich - jenseits der schulmeinungen. gäbe es ein begriffliches instrumentarium , das hilft die ratlosigkeit und hilflosigkeit zu überwinden?
Film mit Film beantworten (aussschließlich dazu)
Vorvorbemerkung: Ich habe so eifrig geschrieben, dass ich nicht gesehen habe, was alles geschah. Ich freue mich, wenn zumindest die Bälle flacher werden, ich kanns hier nicht mehr recht berücksichtigen. Meine Bälle sind vielleicht noch etwas höher als Deine heutigen, ich hoffe aber doch flacher als Deine gestrigen aber ich hab jetzt wirklich von morgens bis abends dran gesessen und muss, muss nun auch etwas anderes tun und kanns nicht ändern.
Motto: „KONSERVATIVER, subst. masc. Ein Politiker, dem es die bestehenden Übel angetan haben, im Unterschied zum Liberalen, der sie durch neue ersetzen möchte.“
Ich bin jetzt ziemlich enttäuscht. Das Ende Deines Textes verletzt mich auch sehr.* Aber von Dir stammt auch die Forderung, am Tisch sitzen zu bleiben, wenns ungemütlich wird. Ich kann leider die von Dir angebotene Materialfülle nicht berücksichtigen. Ausweislich des Ausschnittes von „Karten“ hat der Essay aber auch eine andere Stoßrichtung und passt nicht so ganz zu der hier von Dir vertretenen Sprachführung. Dazu unten mehr.**
Ich möchte Dich nicht „ständig in eine unmoderne Ecke jonglieren“. Ich möchte Dich nicht garstig hin un her schieben. Sondern Du bekräftigst Deinen Standpunkt und ich ändere die Perspektive, sodass hinter Deinen Hacken eine Ecke sichtbar wird.
Natürlich sehe auch ich Leute auf der Bühne, von denen ich denke: sie sind noch damit aufgehalten „ihre Instrumente zu lernen“ „begeistert, was für Töne da rauskommen und halten diese Töne dann schon für ihr Magnum Opus.“ . Da trägt eine junge Dame Gedichte über Abendstimmungen zu zweit und ähnlich lyrische Themen vor und ihre poetische Arbeit besteht hauptsächlich darin, dass sie Zitate ihrer englischen Lieblingsliedermacherin dazugruppiert, die wiederum ihre Abende besang und sicherlich von vornherein professionell genug war, ihre Erfahrungen möglichst anschlussfähig sprachlich zu gestalten. Das ist Poesie wie wir sie aus dem Alltag beiläufig kennen, wo uns wohl immer mal eine fremde Zeile durchs Hirn spult. Aber wir würden diese Erfahrung kaum allein zur Grundlage eines Textes machen. Nur mit einer gewissen Anmut kann man sich erklären, dass das einen Verleger fand. Aber dann fällt mir etwas anderes auf: Wie beiläufig und anspruchslos kann multilinuales Gestalten sein, so beiläufig, dass man heute seine Schulfreundin da locker hinschleppen kann. Nichts ist hier mehr als Avantgarde zu feiern,misstrauisch zu begutachten oder zu verreißen. (Dass Montage und Intertextualität ewige Mittel der Poesie sind, versteht sich von selbst.) Es haben sich die Sprachgebräuche ringsrum geändert (Denglish, schlimm schlimm!) und so ist eine multilinguale Poesie keine Verfremdung mehr.
Danke für den Hinweis auf den Genesis Song. Ich bin immer auf der Suche nach Musik, die ich abends mit Gästen nebenbei laufen lassen kann. Und habe mich besonders über die 50 Minuten Version des Stückes gefreut. (Denn ich habe auch keine Lust Playlists zu bauen.) Damit durchdringe ich diese Musik noch nicht in Deiner Tiefe. Was Du sagst über die vollkommene Integration und Ökonomie der künstlerischen Elemente kann für mich Grund zusätzlicher Achtung für das Stück sein, Quelle seiner Schätzbarkeit ist es für mich nicht.
Für mich war Pink Floyd so eine Avantgarde Erfahrung. Ich hatte meiner Mutter abgebettelt, mir ganz gegen ihre Meinung von qualitätvoller Musik (Das hieß mindestens Klassik!) eine Pink Floyd Platte mitzubringen und sie kam mit Ummagumma wieder, ein herber Schock für jemanden, der bisher nur das „Wish you Where here“ Album kannte. Schon nach mehrmaligem Höhren war ich der Überzeugung, dass das neue Album wirklich auf eine sehr andere Art tatsächlich unglaublich geil war. Auch wenn ich für die künstlerische Integration aller Bestandteile keine Argumente beibringen kann, auch wenn Pink Floyd diesen Weg für sich verwarfen, auch wenn die Platte schon damals 18 Jahre alt war.
Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zwischen dem,was Martina treibt und Deiner Mayröckererfahrung soweit sie Ulfs entspricht, bzw. meiner frühen Pink Floyd Erfahrung. Ulf beschreibt seine Pastior- und Mayröckererlebnisse jedenfalls immer ein wenig so, als wären es, wie manche seiner Rockerfahrungen, Transzendenzerfahrungen. In Pastior in der Musik ist ein Versprechen des ganz Anderen, darin, dass irgendwo ein Tor auf geht, sich die Welt an einer Stelle als größer erweist oder so etwas.
Für mich waren die frühen Floyd solche Fluchtereignisse. (Wie merkwürdig war es für mich zu entdecken, was für unpassend profane Texte Doors- oder Zeppelinsongs hatten, die für mich anschließend an die Floyd Erfahrungen in den besten Momenten ähnliche Momente hatten. Desintegration pur!) Um so eine solche Anderswelt geht es Hefter (und Breyger) wohl viel viel weniger.
Ich wollte eine Freundin in den Urlaub nach Mecklenburg locken und zeigte ihr einen Bildband von Mecklenburg mit spektakulär schönen aber rauhen und irgendwie kunstlosen s/w Fotos des Bundeslandes. Dazu liefen wie zufällig die frühen Floyd, sie empfand die Musik als unpassend, weil die sie an bestimmte 80er Filme erinnerten. Sie war nicht in der gewünschten Traszendenz sondern in einer medialen Klebrigkeit gelandet. Es liegt nicht an der Form des Werkes sondern wesentlich an den Umgangsgepflogenheiten,was der Inhalt eines Kunstwerkes ist.
Deswegen sollte man keinen Gartenzaun errichten zwischen Konzeptkunst hier und (was eigendlich „wahrer“?) Lyrik dort.
Konzeptualität kann, das ist kein geringer Vorteil, veralten. Das konzeptuelle Moment Pastiors z.B. ist heute kein Transzendenzversprechen mehr. (Der Maler Newman usw., wird zu wenig drüber geredet.) Konzeptualität wird um so ernster, je weniger es auf das ästhetische Ergebnis , die Werkgestalt ankommt. Das ist, da sind wir uns einig, bei Hefter nun so nicht der Fall. Ich würde sagen, bei dem Film den ich gepostet habe auch nicht. (Jene Freundin sagte mir gestern bei einer Grillfeier: „Ich mochte das Video, was Du geteilt hast nicht liken, weil sie sich mit den Instrumenten so wenig Mühe gegeben haben“ Sie erkannte das Stück aus einem SF-Film, es gibt also ästhetische Integration, die ich nicht sah.)
Ich würde es nicht mehr konzeptuelles Moment nennen, wenn Resultat und Konzept zusamemnarbeiten müssen um Begeisterung (oder Provokation) auszulösen, es um das Ausüben einer Praxis geht, von der man hofft, sie könne sich konsolidieren. (Was bei Martina, wie ich sie lese, der Fall ist, Ulfs Poetologie weist oft in eine andere Richtung, ob die Poetik immer seine Praxis trifft, weiß ich nicht). Da müsste man dann auch Hölderlins „Hälfte des Lebens“ und den ganzen Trakl, den Holz usw. der konzeptuellen Poesie zurechnern, und die Geschichte der Lyrik als eine der Spätlinge erzählen, weil die ja ebenfalls neue Möglichkeiten der Kristalisation von Sprache gefunden haben, die an Stellen, wo es klassische Poesie nicht ist, unentschieden sind und auf die Zeitgenossen beliebig wirkten. (Ich erinnere doch nur Dir Bekanntes).
Du weist nun diese Ansprüche ab. Du sagst z.B. Dichter sollten „erstmal ihre Instrumente zu lernen“, Du möchtest erstmal die „gekonnte Umsetzung“ sehen. Was soll denn gekonnt heißen, wenn es die Maßstäbe dafür, was gekonnt heißen kann sich erst mit der Praxis konsolidieren werden? Man kann doch nicht die Maßstäbe der Zukunft fix und fertig aus der Tasche ziehen. (Nach Schillers Massstab ist Trakl einfach nicht gekonnt.) Naja klar, wenn man konservativ die Gegenwart lediglich als Verlängerung der Gegenwart denkt, geht es natürlich so.***
Ich möchte Deiner Haltung zu Breyger nun ein paar Formulierungen unterschieben weil sie Deinen so ähnlich sehen. Dir geht es ja auch irgendwie um die Reibung an Grenzen, so beiläufig, wie Du den Umstand anmerkst, dass Genisis „ohne jene elektronischen Hilfsmittel, die heute so vieles erleichtern“ arbeiten. Breyger, so könnte man zusammenfassen: „technisch hat das allenfalls den Wert dass der [Dichter] flexibles Material bereitstellen lernt … Bei kritiklosen [Lesern] wird das als neue Offenbarung hingenommen“. „Mit dieser Unterdeterminiertheit“ falle „der Gestaltbegriff“ und der Text ist „in einem amorphen Zustand der Überraschung“, er entstehe. „eine Schreck und Bluffästhetik. Nur fehlt ihr der große Elan … Der Radikalismus trifft ins Leere, da keine Wurzeln mehr da sind, an denen man operieren könnte“ Treffe ich sehr daneben, wenn ichs so zusammenfasse? Ich gebe Dir recht, die Auseinandersetzungen sind ja nicht neu. Sondern es gab sie 1958 auch schon, denn die Zitate stammen aus dem Artikel „Sitten und Gebräuche der Neutöner“ von H.H. Stuckenschmidt aus Nr. 123 von Laskys „Monat“.**** Der Kern seiner Kritik zielt vor allem (neben Boulez und Stockhausen) auf John Cage. (Laut Artikel wie Breyger „ein netter, femininer, gebildeter Mann“) Er hat zwar recht, aber vor allem auf monströse Weise Unrecht wenn er dessen präpariertes Klavier auf die Music bruit zurückführt und die Aleatorik auf Gesellschaftsspiele wie Kirnbergers „Methode Sonaten ausm Erml zu schütteln“. Man sieht ein Werk eben nicht richtig, wenn man nur auf Formmerkmale aus der Perspektive einer vergangenen Praxis starrt. Man kann dann nicht sehen: ob „die krummen und schiefen Elemente“ „Selbstzweck“ sind, oder „bewußt eingesetzte Mittel“ und diagnostiziert stattdessen: „ganz ganz wenig Potential. Es gibt gute Ansätze, aber längst keine Könnerschaft.“ Bei Stuckenschmidt kling das so: „Die Buben sollen erstmal Fugen schreiben, dann wird ihnen der Übermut schon vergehen“.
Was Du in „Karten“ schreibst, fällt teils unter dieses Problem: Die Frage: „ist das dann noch Kunst oder im Abseits erzeugte Kuriosität?“ könnte aus Deinem Essay wie aus dem Monat stammen, ebenso die Formulierung, wir hätten „komplexere Problemstellungen parat als zu Zeiten des Neopathetischen Cabarets.“ Ich bin da nicht so sicher, Kunstfortschritt kommt manchmal aber längst nicht immer durch Überbietung zu Stande, auch bleibt, so lange man Komplexität nicht recht messen kann (in einem Sinne ist ein Uhrwerk komplexer als ein Müllhaufen in einem anderen ist er hochkomplex und ein z.B. mechanisches Uhrwerk dagegen einfach.), bloße Behauptung. „Inhalt steuert Form von alleine in neue, angemessene Bereiche hinein.“ man müsste sich qua gemeinsamer Praxis erst einig sein, was angemessen ist, dann könnte man schauen, ob dem so ist. Vielleicht ist es auch eher umgekehrt? Es ist doch so: Formen sind Abstraktionen von vorhandenen Texten. Eine Inhalt-Form Betrachtung kann damit von vornherein nur diesen Abstraktionen gerecht werden und keine entstehenden neuen Praxen und deren „Formen“ sehen*****, sondern allenfalls aus einem Vergleich der bisherigen eigene Förmchen basteln. (Naja, ich gebe zu, das wäre immerhin etwas.)
In mamchem aus dem „Karten“- Essay gebe ich Dir nicht unrecht: „die Morgensternsche Art zu reisen – durch die heutige Zeit.“ würde ich ebenfalls nicht per se angreifen. Man muss eine Kutschfahrt nicht verhöhnen, und nicht wie Benn in Busreisen den Niedergang der Kultur sehen.
An zwei Stellen jedoch sehe ich auch, dass der „Karten“ Essay eine andere Stoßrichtung hat: „Ausdrucksverbote und Formgebote sind kontraproduktiv“ schreibst Du! Und redest von „Gymnastik in Handschellen“ während Du in Bezug auf Genesis die musikalischen Limits betonst und die vollständige Integration gegen Breyger würdigst.
Was mich noch etwas stört: Du gibst vor Gommringer brauchbar zu finden, wenn er etwas über Poesie formuliert, „in welcher das Herstellen von Texten das Anwenden von Sprache überwiegt“ Da habe man das wiklich neue auf dem Teller: „Wirklich neue Poesie ist heute eine Poesie, in der das Anwenden von Sprache hergestellt wird, man muß sagen: wieder hergestellt, also die Dekonstruktion überwunden und ein neues Sagen geübt wird.“ Für mich ist das mit viel Chupe das Gegenteil von dem herbeigeredet, worum es Gommringer ging. Warum möchtest Du Dir diese Ahnschaft erschleichen? Ich stelle mir vor, wie Du reagieren würdest, wenn Breyger das täte.
Lieber Frank, der Schluß Deines Textes reißt Gräben als Wunden auf. Ich bin traurig, dass Du meine Mühen um die Sache als Aufreißen alter Gräben nimmst. Alt-Neu, konzeptuell-???, ich habe jetzt wirklich von heute morgen an gesessen um die Sache klar zu bekommen und hoffe, dass Du dies hier nun nicht wieder mit so rüden Alternativen abbügelst. (Vielleicht ist es dann nur für mich als öffentliches Nachdenken.) Ich übersehe doch, dass Du Dich in den letzten Jahren verändert hast. Ich sehe auch, dass Du Dich mit meinem Ich aus den Jahren, als wir uns gestritten hatten, heute verstehen würdest. Auch mir ist eine Ästhetik, die vom Machen asugeht ungemein wichtig, sonst würde ich mich nicht so abmühen hier. Allein, auch ich bin gereis(z)t. Sozusagen „Über Nacht gab es Schnee“ oder ich bin weiter gereist und: „BEIM ZU TAGE FÖRDERN
INS BETTUCH GERITZTER EINGEBUNGEN GABS
PANNEN“ (Mara Genschel)
Ich meine das nicht im Sinne einer Überbietung durch Novität, denn auch das: Dass bei der Würdigung mancher Ikone der Moderne über das konservative Spätwerk so ostentativ die Nase gerümpft wird, erregt mein höchstes Misstrauen.
Musik: Drin oder nicht drin******: Ich habe in Konzerten gesessen und war trancehaft Drin und voll des Staunens über die Kunstfertigkeit, während meine Nachbarin eine regelmäßige Konzertgeherin und ebenfalls musikalisch praktizierend auf dem Stuhl schubberte.
Ich habe an der Musik gelernt, dass die Kommunikation in der Musik zwar besser funktioniert, weil die Notwendigkeit des Übens allen einsichtig ist. Dennoch musste sich die Musik erst in Genres und Subgenres aufspalten, damit es friedlicher wird. Das intuitive Urteil eine Popkeyborders oder einer gestandenen Kirchenchorsopranisten sagt zweifellos etwas aus, aber mitunter wenig Interessantes über zeitgenössische Blockflötenmusik oder den jungen Freezazz aus Norwegen.
* Ich möchte keine up to date Spielchen mit Dir spielen. Hast Du das immer noch nicht gemerkt? Ich möchte mit Dir über Breyger reden. Merkst Du nicht, dass ich meine Karten ganz schön doll auf den Tisch lege? Mich angreifbar mache? Wie verbohrt bist Du?
** Wenn Du ihn mir zukommen lassen willst, lese ich ihn bei Gelegenheit. Im Gegensatz würde ich Dir den Essay „Nagelproben“ aus dem Essayband „Metonymie“ zukommen lassen, auf dem meine Überlegungen hier beruhen, falls Du ihn nicht besitzt.
*** Für mich hat das aber auch noch ein anderes Geschmäckle: Man kann doch eine Kunst nicht bloß deswegen abweisen, weil man ihr die Maßstäbe, nach denen sie zu bewerten wäre, nicht recht ansehen kann. Dann wäre die Kunst eher eine Art Servicebetrieb, der bei Strafe eines Verrisses Objekte zur Verfügung zu stellen habe, an denen der Rezent seine Klugheit erweisen kann.
****Seine Polemik hat den Vorteil, dass sie sich an ein gebildetes Publikum wendet und nicht wie der von Dir gepostete greschmacklose Salzinger Artikel, seine Leserschaft für dumm verkauft und ihr ernstlich einreden will, er sei unfähig einzusehen, warum es sinnvoll sei zwischen „Redeströmen“ und „Textflächen“ zu unterscheiden, oder zwischen „in der Sprache“ und „mit der Sprache“ usw. Das ist zu doof, ich klemm mir den Rest.
***** An Texten, wie denen von Titus Meyer und manchen Arbeiten von mir sehe ich, wie heikel das ist. Gediegenes Handwerk führt nämlich irgendwo von ganz allein wo anders hin und zwar jenseits herkömmlicher Angemessenheit, die regelmäßig Rezensenten erneut die Frage aufnötigt: „Kunst oder im Abseits erzeugte Kuriosität“. Ich beschreibe, ich klage nicht, denn sie kommen nach langem Grübeln dann oft genug auf die Kunst.
Man denkt vielleicht Sonnete von Nicht-Sonetten unterscheiden sei eine klare Sache und man könne von dort fortschreiten, aber man ist doch sehr schnell im Gestrüpp. Formmerkmale sind vielleicht eher schmale Lichtungen im Urwald. Um so wertvoller seien uns die Lichtungen, die die Poetologie in Hartnäckiger Arbeit gehauen hat!
****** Dieses Drin oder nicht drin unterstellt denen, die nicht wollen, sie könnten nicht. In Jazz und zeitgenösssicher Musik ist der Vorwurf monströs, vielleicht auch bei Breyger. Ich finde doch treffsichere kritische Statemants von ihm z.B. jüngst zu Czollek. (Zitiert hast Dus nicht aber gelesen auf G13.) Wo das ist, kann man doch auch mehr zutrauen?
Dein Beispiel für Lyrikpolizei - und Geld
Dein Beispiel für Lyrikpolizei - und Geld
Dein Beispiel ist sehr unglücklich. Da bekommt jemand Geld dafür, Lyrik zu besprechen und nutzt das für eine merkwürdige Generalabrechnung, die, ich habe Katrja Horn auch gelesen, rein gar nichts mit dem Gegenstand zu tun hat. Er hat sein Geld sich erschlichen und Spaß dabei gehabt. Wie wohlfeil, winzige Verlage und wenig bekannte Dichter zu verreißen.
Von dem guten Drittel, das ohne bezahlen sichtbar ist, ließe sich alles was gesagt wird, auch ebensogut von Jan Wagner behaupten. Da macht sich nicht jemand schlechtere Arbeit sondern quasi gar keine. Das wäre aber teurer und man müsste sich über Glaubwürdigkeit Gedanken machen und vor Reaktionen Angst haben müssen. Das Beispiel ist noch nicht einmal aus einer Regionalzeitung. Und nicht einmal das, soll man, um der Lyrik als Ganzes willen, kritisieren dürfen? Man sollte einfordern können, dass die Zeitungen, die immerhin für Geld arbeiten, das bessere Niveau auf Fixpoetry, Signaturen oder Lyrikzeitung halten.
Du stauchst an anderer Stelle ja auch Breyger zusammen. Der sich auf G13 ebenfalls ehrenamtlich engagiert. Der es teuerer hat, als junger Lyriker den Doyen von Babelsprech, den gern in den Zeitungen zitierten Czollek (deswegen weil er so schwammige Sentenzen absondert, die gut zum oft ungenauen Denken der Zeitungen passen) zu kritisieren, erfordert Mut und hat etwas von einem „Der Kaiser ist nackt Ruf“. Und auch Du wirst zugeben: Alles was er neben dem von Dir monierten Pauschalurteil zu Max schreibt, trifft auf Max (egal ob man sein Urteil teilt oder nicht) es liegen dem Beobachtungen über Text zu Grunde. Und einige interessante Einsichten bzw. Positionen über Poesie. Da wurde gearbeitet, das wirst Du zugeben müssen.
Anders gesagt, das Geschäft von Martin Rautenberg in der Jungen Welt war Lyrikverhinderung die er mit dem wenigen Geld dass für Lyrikvermittlung ausgegeben werden sollte betrieben hat. (Wenn Du ihm deswegen aufsitzt, weil Du Zwölftonmusik ebenfalls nicht magst, dann müsstest Du erst recht einsehen, wie gemein es Katja Horn gegenüber ist.) Solche Torwächter brauchen wir nicht. Währen Breyger bei aller Schärfe, vielleicht bei allem Irrtum, etwas über Texte vermittelt hat – unentgeltlich.
Du hast von Hilferuf gesprochen, ich schreibe es hierher, damit Du siehst, warum denn die Leute manchmal auf Dich mit Grund ziemlich sauer sind. Du verrennst Dich eben manchmal. Offenbar bist Du ein sehr emotionaler Mensch und wenn Dir etwas gründlich gegen den Strich geht … Mir ist wohl bewusst, wie viel Arbeit Du Dir mit Lyrikkritik machst und wie schwer es sein muss, sich diese Zeit abzuringen. Deswegen macht es mich traurig, wenn Du Geschirr, dass Du mühevoll getöpfert hast, immer mal wieder zwischendurch zerschlägst.
Müssen wir immer wie die Kaninchen auf die Schlange auf die großen Zeitungen hoffen? Ich glaube nein. Lyrikzeitung, Fixpoetry und auch Signaturen haben steigende Reichweiten. (Wenn ich ein Duzend Jahre zurückschaue z.B. war ich ziemlich der einzige Leser und Autor vom Literaturinstitut, der Fixpoetry aufschlug. Bei der Lyrikzeitung war es wohl nur deswegen etwas besser, weil dort der Bericht über die großen Zeitungen zum Profil gehört.) Ich glaube diese Reichweitenerhöhung übersteigt die Summe der zusätzlich eingesetzten finanziellen Mittel. Es kommt auch durch die Arbeit dort.
Wir sollten nicht den Tankern durchgehen lassen, was wir bei den Kleinen bitter beklagen. Man sieht, dass der Geldbetrag nur eine Hälfte des Geldproblems ist. Die andere ist der Status. Das Kleine wird nach kurzen Blick erledigt, wenn man das Große kritisiert ist man von vornherein zu pasuschal, hat nicht richtig hingesehen etc. Wir sollten viel Sorge tragen, da innerlich frei zu bleiben .
Berichtigung zu
Ok, Entschuldige, dass Breyger zu seinem Verriß noch Argumente zugeliefert hat, konntest Du nicht gesehen haben, als Du seine Bemerkung auf G13 zusammengestaucht hast. Das hat er später geschrieben. (Eventuell gar Dir "zu Liebe")
viel gute bewegung
bertram, bitte entschuldige, aber ich bin tatsächlich froh, daß dir der letzte satz weiter oben aufstößt und du für einen Moment (hoffentlich) enttäuscht bist. das sagt mir, daß du mir doch ins auge blickst und das stimmt mich dann wieder froh. der satz ist dir gegenüber unfair, denn er ist zu einem teil (vielleicht seinem größten) gar nicht an dich adressiert - die entdeckung, daß man sich mit mir auf augenhöhe austauschen kann, steht weithin noch aus und du gehörst seit jahren zu den wenigen, die (zurecht) vertrauensvoll auf mich reagieren.
ich kann mich zu den vielen impulsen, die beim lesen deiner antworten bei mir eintreffen noch nicht verläßlich äußern, bin erstmal platt für heute und verkriech mich gleich in entspannende serendipity. ich finde die denkfiguren, die in deinem/unseren austausch auftauchen richtig gehend spannend, und ich glaube die musikvergleichung kann uns noch einiges an stoff liefern und dinge herausschälen helfen. und finde noch viele ansätze und fäden mehr, die man aufnehmen kann.
auch gibt es viele sätze, die ich in mir erstmal breiter ziehen muß, weil sie nicht zu meinem gewohnten vokabular und meinen gewohnten denkbewegungen gehören, ich muß erst lernen sie vorurteilsfrei zu verstehen.
so. genug gesülzt. also hab etwas geduld mit mir - ich melde mich mit etwas mehr luft im rücken.
Frank: "mehr zum Thema" und ein PS
Naja Frank, da verstehe ich Micha schon. Du benutzt Lyrikpolizei als Kampfwort und entwertest ein Argumentieren aus Augenhöhe (auf der großen medialen Bühne sogar als Underdog) zur autoritären Knute. (Täter - Opfer – Umkehr)
Da darf man schon mal sauer sein!
Zu den verunsicherten Kritikern (bei Euch?): Viele Rezensenten mögen für das Leben auf dem Forum ein Wert an sich sein. Aber man wird niemandem verdenken können, wenn er den Wert des Forums und der Beiträge danach bemisst, was es für die Literatur tut. Und wenn Rezensenten Literaturverhinderer sind, werde ich es nie anders sehen, als dass meine Antwort, je nach Hinterhältigkeit ihrer Volten, ihnen auch weh tun darf.
Ich höre, ihr lektoriert alle Beiträge. Wie wäre es mit einer Checkliste, auf der minimale Fairnessstandarts verzeichnet sind? Damit das nicht zu Zensur wird, muss der Lektor ja nicht abprüfen ob er die Standards erfüllt sieht. (Auch eine Frage der Arbeitsbelastung.) Es reicht ja, wenn der Autor sich darüber Gedanken macht und dann im Zweifel wenigstens schon weiß, worauf er gefasst sein kann. (Mancher ist ja vielleicht wirklich nicht arglistig sondern unbeholfen.) Dann müsst ihr auch nicht immer für Eure ahnungsloseren Rezensenten in die Bresche springen.
Darauf könnten solche Dinge stehen wie: „Du sollst Dein Buch zeigen und nicht den Leser davor beschützen.“ (Das erlaubt immer noch Verrisse, macht aber solche aus Ärger auf Buch oder Autor schwieriger, und solche aus Missverständnis unwahrscheinlicher) „Formuliere keine Pauschalurteile über die Lyrik als ganzes, die sind meistens falsch, nenne lieber Ross und Reiter“, „Etwas nicht Verstehen ist für einen Literaturvermittler, der sich öffentlich verantwortet, mitunter problematisch, Leser haben damit oft geringere Probleme. Verwechsele Deine Rollenprobleme nicht mit den Problemen 'des Lesers'.“ „Verstecke Dich nicht hinter 'dem Leser', Leser sind immer verschieden, sondern zeige Dich als Leser“ (Das fordert ja Dein Artikel bereits ein.) „Je mehr Du aus einer Position der Übersicht heraus argumentierst, desto mehr musst Du auf harnäckige Prüfung Deiner Lagebeschreibung gefasst sein. Wo Du Dein Argument auf eine Teilung der Lyrik in wichtige und unwichtige Literatur stützt, gilt das gleiche.“ „Polemik muss Gegenpolemik aushalten“
Meine eigenen Standards sind natürlich noch ganz andere. Sicher ist meine Liste verbesserungs- und ergänzungsbedürftig. Aber ich glaube, damit einige allgemeine Normen der Fairness eingefangen zu haben. Es kann doch nicht sein, dass ein Rezensent, bloß weil er so „gnädig“ ist, mal über Lyrik zu schreiben, dass Recht hat, solche Umgangsformen zu unterschreiten, um mal ordentlich gegen jemanden in einer ohnehin marginalisierten Gruppe zu rempeln.
PS zu "viel gute Bewegung: Zu Deinem anderen Kommentar unten: Naja, es war nicht leicht, es nicht auf mich zu beziehen, da Du mich ja konkret angeredet hast. :-)
M(e)ining
Endlich etwas Zeit, Bertram, auch für die versprochene Reaktion:
“Ein Bienentanz und damit meine ich: Bienentanz” (Sandra Trojan).
Ich liebe Sandras Debüt und bedanke mich für diesen Satz.
In ihm steckt etwas drin, was doch sehr nahe kommt dem, wie mir einige von Breygers Bildern erscheinen. Dieses “Ich meine”. Ich kassiere den Begriff und mache ihn zu dem meinen. Das sehe ich als Verb – wenn ich meine, eigne ich mir an. Das wäre exakt mein Vorwurf an YB, ein gedichthaftes Meinen, also ein begriffliches Arbeiten, das zu mir hinschafft. Ich betone das Meinige und meine damit Töne, die eher mir als dem Gedicht hilfreich sind. Mit Raffen hat das insoweit zu tun, als Einzigkeit behauptet wird, Begriffe zu einem Alleinstellungsmerkmal umgekleidet werden, je origineller umso besser, weil “gemeinter”.
Auf der anderen Seite ermöglicht Sandras Satz eine Verstehvariante, die das “meinen” auch positiv auffassen kann: alle Sprache gehört ohnehin mir. Sobald ich spreche, macht meine Sprache einen Text und der fühlt sich für mich an. Ich stehe vor einem Bienenhaus, hänge dem Großvater an der dunkelgrünen Schürze, er riecht nach Tabak und Schnaps und gibt den Honighelden. Ich sehe die roten, gelben und blauen Schübe, höre das Gebrumme, imaginiere Flash Gordon, als die hawkmen fliehen. Das Wort Bienenhaus gehört mir, es ist bereits mein Wort wenn ich es ins Gedicht einbaue, hat eigene Farben und so färbe ich den Text, und ich meine exakt das Bienenhaus, das mir gehört.
Demnach wäre jedes einzelne Wort speziell verankert, eben “gemeint” und es gäbe keine Chance einen “ungemeinten” Text zu schreiben. Wo ich dann wieder bei dem Bemühen wären, dem Sinnabsprechen entgegentreten zu wollen, weil es meiner Meinung nach ein Texten ohne “Meinen” nicht gibt. Wozu sonst bräuchte man die personanima. Sie ist die Gedichtapparatur.
Es ist wie du sagst, Bertram – auch Breyger hat eine Lenkungsabsicht, ohne sie könnten wir nicht von einem Gedicht sprechen. Und das ist keineswegs banal, sondern essentiell. Dieses Argument wird gern als Unterscheidungshilfe benutzt: man verzichtet auf echtes “Verstehen” und öffnet sich und seinen Text in die wohlfeile Betrachtung. Das bezweifle ich. Es gibt immer Gründe für ein Wort und eine Melodie, es gibt immer Subtexte und Stories behind, genau das erzeugt das Rätsel “Text”, das ich als Leser schätze. Ich halte die überkanditelte Betonung von Textoffenheit für ein Täuschungsmanöver – jeder Text hat seine narrativen Hintergründe, seine musts und nogos, seine Basisstimme und sein walk & talk - nur so wird er zum “Text von ...”
Ich fand Yevgeniys Einlassungen im express! nicht immer ganz offen, sondern von vorneherein angesiedelt, was wahrscheinlich notwendig ist, es geht ja auch ums Wappnen. Ich wüßte ehrlicherweise auch nicht, ob ich sehr viel anders hineinfinden wollte in eine Diskussion, die vom ersten Anschein her unbedingt schwierig wird. Ich würde ein Mindestmaß an Rahmen setzen wollen, Perspektiven andeuten und damit Standpunkte. Womöglich hätte ich früher sogar sehr viel heftiger viel uncooler reagiert als Yevgeniy. Was mich dennoch nervt, ist das Getue, daß nur derjenige den Zug nicht verpasst, wer dieser großen Modernitätsoffenheit folgen kann, und jeder andere jemand ist, der sich gegen das Sperren wehrt. Das schreibst du auch, Bertram. “dass Schmitzer wie Engelhardt zunächst ihre Gewohnheit mit der Deutung gänzlich anderer Gedichte auf ihn übertragen ohne zu sehen, was offensichtlich ist: Dass die Gedichte sich sperren.”
Was mir da nicht gefällt, daß da nach deiner Lesart etwas “Offensichtliches” nicht gesehen wird, also mit einem Makel hantiert wird, den man den Rezensenten zuadressiert. Also: man ist nicht fähig. Ich denke: Offensichtlich ist nur das, was nicht linsenabhängig ist.
Wenn sich etwas sperrt, dann gibt es sicher einen guten Grund dafür. Und den würde ich gerne erfahren. Gibt es einen benennbaren Grund, eine ursächliche Notwendigkeit Text sperrig anzulegen? Das möchte ich erklärt bekommen. Die Frage ist nicht sehr kompliziert. Ich möchte mir selber keine Antwort drauf geben, sondern harre deiner Erklärung. Verkneife es mir aber nicht, das Beispiel mit einer andren Art von Kontaktaufnahme und Näherung zu verquicken, nämlich mit einer Umarmung. Welche ursächliche Notwendigkeit gibt es, eine Umarmung sperrig anzulegen.
Eine Begegnung Arm in Arm ist per se ein Experiment. Eine Anfrage an alle guten Geister und darüber hinaus, eine Mitteilung über das Erzeugen von Fragen und im schönsten Fall ein meeting, ein Gespräch, eine Debatte von Wange zu Wange. Es gehört zur Eigenschaft der Umarmung eine intime Begegnung zu sein. Und aus einem ähnlichen Charakter, einem Begegnungscharakter, sollte ein Gedicht seine Existenz ziehen. Das würde ich erwarten. Wenn sich das Gedicht dem versperrt, dann würde auch ich mich aus sehr egoistischen Gründen verweigern. Ich denke, man darf nicht vergessen, was ein Text von mir fordert: er will, daß ich mit meinem Innenleben auf ihn reagiere, sonst stünde er nicht vor mir. Er besucht sehr private Bereiche und Strukturen, penetriert, durchdringt, schließt auf, klingelt.
Der Umarmungsvergleich ist literaturwissenschaftlich natürlich großer Käse und spielt aus einer körperlichen Ecke, was meinem Anliegen gar nicht gut bekommt. Es erinnert an dein Wort von der “inneren Notwendigkeit”, die zu fordern du mir unterstellst (da hast du das geschehengelenkte Schreiben, das ich meine, leider gänzlich falsch verstanden) und dem ich eine “innere Beliebigkeit” dagegenhalte. Was passiert denn, wenn man einen Text schreibt?
Man aktiviert in einem Fließbereich einen inneren Bestand an Filtern, der nützlich sein wird Text zu erzeugen. Wie das alles im Detail aussieht, ist ganz individuell. Und selbst wenn ich jede Lenkungsabsicht verneine, gibt es wenigstens die Absicht, bewußt nicht lenken zu wollen oder gewisse Filter bewußt nicht einsetzen zu wollen und damit zu Resultaten zu kommen, zu denen man so und so gelenkt nicht käme. Ich sehe da keinen großen Unterschied. Das ist ebenso absichtsvoll erzeugt, nur ist der poetologische Code verschieden. Der eine liebt die semantische Drift und das Eigenleben der Dinge, der andere begeistert sich für “Gemeintes”, also die Drift ins individuell Codierte. Ich sehe da auch kein “Neues”, demgegenüber offen zu sein man verpassen könnte. Irgendwann wird es beliebig, welches Verfahrensmodell man benutzt, es ist und bleibt ein Verfahrensmodell, das den einen oder anderen Dreh mehr oder weniger hat, ein bislang unbenutztes Instrument benutzt, oder das Instrument auf neuartige Weise mechanisiert, aber immer bleibt es ein Erzeugungskomplott, den man schmiedet und ein Schmiedekunststück. Prinzipiell neues sehe ich nicht, also etwas, das ein anderes Prinzip Gedicht verfolgen würde.
Im Gegenteil: das “gemeinte Gedicht”, das individuell Codierte stößt derzeit an seine Grenzen. Man will die ganz große Avantgarde Nummer nicht mehr, die aus anderen Zuständen stammt, du schreibst ganz richtig: Konzeptualität kann veralten. Ich würde den Satz ausweiten auf das Konzept der Konzeptualität, weil es immerhin das Versprechen abgibt, man könne von einem Konzept her leben und nicht vom Komplex, also von der Behauptung her, statt vom Dialog.
Für mich ist die Poesie ganz originär das, was zwischen den Dingen passiert und wie wir dort überrascht werden können und nicht die Verwirklichung eines Konzepts, das ich “meine”. Die Situation zwischen den Dingen hat einen besonderen Freiheitsgrad, der Modi abbildet, und damit von rein materiellen Kausalitäten zwar nicht verschont ist, aber darüber hinaus narratologische Hintergründe anbietet. Was Kontext hat und im Kontext lebt, hat automatisch mehr Poesie als ein konzeptuell Erzeugtes. Modi zu betrachten heißt, Eigenschaften in einen Kontext zu stellen und also ontologische Beiträge zu liefern, während Konzepte Eigenschaften testen oder erfinden und Situationen betreiben, die es natürlicherweise nicht gibt, sondern nur hergestellt.
Mit diesem Absatz berühre ich das, was Eugen Gomringer gemeint hat, als er das “Herstellen von Texten” der “Anwendung von Sprache” gegenüberstellte. (Wobei ich mir keine Ahnschaft erschleiche, Bertram, sondern zeige, daß es keine Parteischaft gibt, sondern brauchbare und unbrauchbare Gedanken). Das Konzeptuelle hat sich überlebt. Es war ein gutes Mittel der Dekonstruktion etwas anderes als Nichtmalen entgegenzuhalten, heute malt man wieder und läßt poetische Geschehnisse wieder zu (auf welche Weise auch immer man sie erzeugt). Zygmunt Baumann hat dargelegt, daß in der Moderne nichts Neues geboren werden kann, wenn nicht das Alte leergeräumt und weggeworfen wird, und benutzte das Bild des Bergbaus. Das ist mir ein viel zu technisches Bild, weil wir hier bestenfalls die Mittel der Leerräumung, den Verbrauchsapparat modernisieren können. Daß in der Realität ganz neuartige Gesteine vor uns auftauchen, die nach einem adäquaten Werkzeug rufen, steckt in diesem Bild nicht drin. Man hat das vorhandene Werkzeug – um dennoch im Bild zu bleiben – dekonstruiert und jetzt wäre es an der Zeit das vor uns liegende Gestein in Augenschein zu nehmen und das Nötige zu tun, das dieses Gestein von uns verlangt, also den Kontext zu begreifen und auf ihn sinnvoll zu reagieren, das ist etwas wesentlich anderes als die Arbeit am eigenen Konzept.
Da du mich in die Nachbarschaft eines Textes von 1958 stellst, möchte ich mich revanchieren, Bertram, in dem ich dich in die Nachbarschaft eines Textes von 1894 stelle: “in der dichtung – wie in aller kunst-bethätigung ist jeder der noch von der sucht ergriffen ist etwas “sagen” etwas “wirken” zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst einzutreten”. Das schrieb Stefan George im Oktober 1894 in den Blättern für die Kunst.
Dieser Satz spiegelt in unseren Zusammenhang genommen bereits die Gomringersche Unterscheidung vom Herstellen und Anwenden. Nur zu Georgens Zeiten war man noch der Meinung, der Hersteller Mensch sei der gottgleiche Mensch, der heldische Mensch strahle als Engel durch die Zeitläufte. Der Anwender dagegen arbeitet im Bergbau und sorgt für den Reichtum und die Strahlkraft der anderen. Der Hersteller hat die Macht etwas in die Welt zu setzen, etwas zu erzeugen, der Anwender nimmt das gegebene Ding und macht was damit. Insofern ist er “ferngelenkt” weil dingabhängig, Konsument, Toaster im Test (wie ein kleines Independent Label hieß, das ich sehr mochte, weil es u.a. die Dr. Babelfish 7” veröffentlichte) und wir finden uns damit wahrscheinlich bei Breygers Robotniks. Der User ist der schicksalhaft Verkettete, der noch dazu mit seinen Emotionen Kämpfende, der Hersteller aber der Erzeuger von Welt.
Im Prinzip haben wir im letzten Jahrhundert so viel hergestellt, daß wir heute vor einer komplexen Wand stehen, in der all unsere feinen Werkzeuge versagen. Modernität als das, was uns wirklich voranbringt und adäquat auf Weltenzustände antwortet, kann heute nicht mehr das benennen, was wir gestern gelernt haben (im Prinzip schlägt Yevgeniy das aber vor: “Wir müssen nicht mehr darüber reden, wer etwas in einem Gedicht nicht versteht”), sondern wir müssen alles, was wir gestern noch gelernt und für richtig befunden haben, erneut anschauen, ob nicht vielleicht gerade dieses beteiligt ist an jenem Trugschließen, das uns die gesunden Utopien vermauert hat.
Ich denke oft, man hat den Switch noch nicht verstanden, den wir brauchen um aus dem Wust der dekonstruierten Welt wieder herauszukommen. Auch Yevgeniy argumentiert so: “Wer auf der Suche nach aphoristischen Aussagen über die Realität, Vereinfachungen der komplexen Wirklichkeiten sucht, der ist verloren, schlichtweg dumm.” Ich habe gegen den Satz nichts. Er sagt, die Welt anzuschauen erfordert, sich einer komplexen Wirklichkeit zu stellen. Genau diese Wand der Komplexität, in der jedes Handeln Wurmfortsätze kreiert, die man nicht mehr abschätzen kann und die man nicht mehr im Griff hat – die sich aus Vereinfachungen erzeugt hat und auf der unser gesamten Planet ineinander verwebt ist, genau diese Wand ist selbstgemacht, Resultat des Herstellers Mensch. Dieser stolze Gockel Mensch, der noch alles mit “seiner” Mathematik und Physik geregelt bekommt.
Dekonstruktion ist also wichtig, aber genauso wichtig ist der Schritt danach: die Traute, dann auch wieder was draus zu machen. Wenn die Anwendung des Arsenals der Schiefheiten ein Arsenal von Rundheiten ergibt. Der Anwender ist ja wie der Hersteller ein Erzeuger, wobei der Anwender das Loch, der Hersteller den Strom erzeugt, mit dem der Anwender das Loch macht. Und wenn schon Dekonstruktion, dann bitte auch die Resultate der Dekonstruktion, das angebliche Fertigsein mit dem Verstehen beispielsweise, nicht aussparen. Diese Rückzugspositionen: das ham wir doch schon durch, das müssen wir nicht nochmal betrachten, wären dann stimmig, wenn die Resultate dafür sprächen, daß es nicht mehr notwendig ist, darüber zu reden. Betrachte ich mir die Wand, vor der wir stehen, dann bin ich mir ziemlich sicher, daß diese Altresultate nicht der Weisheit letzter Schluß waren und sind und adäquate Antworten immer und immer wieder gesucht werden müssen und zwar – entgegen deiner Vermutung, ich würde von hinten her Maß nehmen – den Modi des Jetzts entsprechend, den Verwachsungen hinterher und den labyrinthischen Knoten.
Neuer Text muß von seiner Grundanlage her nicht sperrig sein – er ist es sehr oft zu Recht, weil Resultat der Anwendung von Sprache, die mit der modernen Komplexität zu schaffen hat, aber er ist es sehr oft auch hergestellt und zumindest dann unbedingt bezweifelbar, weil er dann zur Wand gehört und nicht zur Dekonstruktion oder zur Neukonstruktion.
Eine Kutschfahrt kann auch heute lustig sein, hast du mir geantwortet, als ich Morgenstern aufbrachte. Damit berührst du ein anderes Thema, das mir ganz wesentlich für das Verständnis der postmodernen Welt scheint, den Modus der Bewegung, aber das greift tief in physikalische Theorien, geht fließend über in die Betrachtung von Geschwindigkeit und Dauer, das sollte ein eigener essayistischer Schauplatz sein, wobei ich dann wieder gesagt bekomme, daß das keiner auf einer Literaturseite lesen will. Nur soviel: die Tiefe einer Betrachtung ist ganz abhängig vom Modus der Bewegung, je schneller ich bin, umso weniger detailreich ist meine Sicht. Irgendwann erreicht mich nichts mehr. Wenn Gedichte also Tempi repräsentieren, wie du es vorschlägst, dann komme ich aus dem Düsenjet mit dem Wissen um das Leben in der Kabine und habe von der Welt keine Ahnung. Das Lichtschnelle hat sogar noch nicht mal ne Ahnung von Zeit und es lernt massiv und greifbar zu sein erst durch den Verzicht auf Tempo. Insofern ist mir eine Kutschfahrt sehr viel lieber als lichtschnelles Dasein, das mich zerfetzt.
Der Sonntagmorgen ist rum. Es ist gerade zwölf Uhr. Die ganze letzte Woche war wieder mal hart und ich kam nicht mal dazu an der fixzone zu arbeiten. Jetzt habe ich für heute noch so viel vor und verschiebe alles, was ich noch gern gesagt hätte, auf später.
Warum ich nun eigentlich vom Tisch aufstehen möchte
Ich habe nicht das Gefühl, dass wir noch wirklich über Breygers Gedichte reden. Dass Du diese Texte massiv unter Verdacht hast, war mir schon aufgefallen. Aber statt Unterscheidungen aufzunehmen, um sich den Texten gemeinsam zu nähern, streust Du lieber neue Verdächtigungen und führst Deinen Privatfeldzug gegen „Unverständlichkeit“ und dergleichen. Wir sollten wohl aufhören miteinander zu reden
Was haben Breygers Texte zum Beispiel mit dem von Dir diagnostizierten Problematik hoher Geschwindigkeit zu tun, die jene Wahrnehmungen behindert, die man auf langsamen Fahren macht? Außer das seine Texte wie auch viele der klassischen Tradition halt recht „dicht“ sind. Sind Lohenstein oder Hofmannsthal nicht auch Düsenjets? Wie diagnostiziert man es an Breygers Texten? (Ich hatte nur Dein Verkehrsmittelbild aufgenommen, die Tempofrage kommt erst von Dir.)
Ich finde es äußerst unschön von Dir, erst im Express einen ziemlich scharfen Angriff auf Breyger zu führen und dann die Nase zu rümpfen: „Ich fand Yevgeniys Einlassungen im express! nicht immer ganz offen, sondern von vorneherein angesiedelt, was wahrscheinlich notwendig ist, es geht ja auch ums Wappnen.“ Wenn es Merkmale eines Wappnens gäbe, könnte Dein Angriff auf ihn dafür eine Ursache sein? Um ein winziges aber besonders krasses Beispiel aus Deiner Expresssuada zu nennen: Warum tust Du so, als wäre das Konzept der „zärtlichen Freude“ eine besondere Merkwürdigkeit (Idosynkrasie?) von Breyger, wo es das Konzept seit dreihundert Jahren im Deutschen gibt? (u.A. bei Ganghofer, Sulzer, Trautwein usw.)
Ich habe nun nochmals alle Äußerungen Breygers im Express gelesen und finde: So wie er sollte man über Gedichte reden. Es gab eben von vornherein Missverständnisse, das ist nicht seine Schuld, wenns jemands Schuld sein soll (Muss doch nicht sein!). Besonders schön finde ich, dass er sich nicht mit Meinungsfragen aus dem Fenster lehnt. Ich finde, was er zu sagen hat, schildert er klar (Es ließe sich so auch meist über meine und andere Texte sagen) und enthält sich aller Angriffe und dergleichen, wenn man von seinem akribischen Bestehen auf Rechtschreibung absieht. Aber über Rechtschreibung redet ja nicht nur er dort. Und ich kann schon verstehen, dass ein Poet, dem man in verschiedenen Formulierungen mal direkt, mal subtiler Beliebigkeit vorwirft, und der manchmal agrammatisch ist, auf seiner Genauigkeit besteht, um dem Missverständnis vorzubauen, es handele sich im Einzelnen um Flüchtigkeitsfehler oder gar Unwissenheit.
Statt die ungewohnten Distinktionen meines letzten Posts aufzunehmen (dazu hattest Du gesagt, wollest Du die Antwortzeit gebrauchen) pickst Du Dir aus einem lange lange zurückliegenden Post einen schillernden Begriff um erneut Breygers Texte zu verdächtigen. (Wenn Du nicht mit mir redest, kann ich aufhören zu reden.): Der Begriff war „gedichthaftes Meinen“: Ich hatte etwa knapp Folgendes andeuten wollen: Wer in Gedichten einen Begriff wie „Nacht“ „Mond“ „Horizont“ oder „Skyline“ liest, ist oft gehalten, sich eine Nacht, einen Mond etc. besonders zu vergegenwärtigen, in sich schwingen zu lassen, besonders intensiv vorzustellen, sich hineinzufühlen, oder ähnliches damit die Lektüre des Gedichtes gelingt. Das gilt für Gedichte von Uhland genauso, wie für solche von Krolow oder Küchenmeister. Auch bei Breyger kommt man mit solchen Lesegewohnheiten teils ein Stück voran, sehr oft durchkreuzt er sie aber auch. Er benutzt z.B. das Wort Skyline männlich. Da ist sofort diese gedichthafte Emphase durchbrochen. Das Wort wird eher herbeizitiert. (Sollte so etwas wirklich nur meine Linse sehen?) Solche Schachzüge sind unübersehbar häufig und sehr leicht zu verstehen. Auch was den Mond betrifft, braucht man kaum mehr als seinen Alltagsverstand: Wenn einer im Alltag sagt „Ich liebe den Mond“ und wir haben keinen Grund ihm zu misstrauen, dann können wir schließen: Aha, er liebt den Mond. Wenn einer sagt: „Ich liebe nur den Mond“ dann wissen wir im Alltag: Es stimmt etwas nicht, niemand liebt nur das und sonst nichts. Wenn er dann noch fortsetzt „Den Mond, den Mond, den Mond“ dann wissen wir: Was immer er uns sagen wollte: Das ist keine Weise seine Liebe zum Mond auszudrücken, sondern es hat etwas mit Ironie zu tun, oder der Sprecher will uns verunsichern oder er ist sonst irgendwie merkwürdig usw. Ob er den Mond liebt, muss offenbleiben. So hatte ich es gemeint. Ich meine schon: Wenn man genau hinschaut, dann sieht man es leicht, vielleicht hat Elke zufällig, hast Du zufällig kurz nicht richtig hingeschaut und es ist tatsächlich nicht linsenabhängig, sondern einfach ein kleiner Irrtum aus dem nichts weiter folgt. (Es wäre doch recht unfair, diesen Lapsus Breygers „Unverständlichkeit“ in die Schuhe schieben zu wollen.) Mache mir doch daraus nicht gleich den Vorwurf einer Majästetsbeleidigung, dass ich drauf hinweise!
Ansonsten ist Dein „meinen“ (von „meins“) eine Hypostasierung, ein sprachlicher Mythos, der nur aufgeht, wenn man im Hintergrund ein gespensthaftes Ding wie die Meinung vergegenständlicht. Sage einen Satz! Und nun sage diesen Satz und meine ihn auch! Wir sind uns doch einig, dass das keinen Unterschied macht. Wenn man es sagt/schreibt hat, ist sofort das ganze Bedeutungsgeschehen da (egal welche gespensthaften Vorgänge im Kopf ablaufen). Nur wenn man sich die Sprache so gespensthaft von Meinungen begleitet vorstellt, die das Eigentlche wären (eine Art „Subtext“), dann ist Deine Rede plausibel. „Meinen“ ist aber ein Tätigkeitswort um sprachliche Akte aufeinander zu beziehen und wir benötigen dazu keinen Zustand des „Habens von Meinungen“. Man benutzt es dafür, um Missverständnisse zu kären: „Nein ich meinte dies damit“ oder sich aufeinander zu beziehen: „Ich schließe mich der Meinung meines Vorredners an.“ Eine Meinung, die irgendetwas anderes sagt, als die Worte, die man eben sagt, kommt dabei nie zum Vorschein: Was hat man denn, wenn man sagt: „Ich meinte das und das.“ Doch wieder nur eine sprachliche Äußerung. Und wenn man sagt: „Du hast zwar das gesagt, ich glaube aber nicht, dass das Deine ehrliche Meinung ist“ kann man ebensogut sagen: „Du solltest hier das nicht sagen“.
Es gibt damit einen sehr guten Grund gerade nicht auf einem „Meinen“ zu bestehen. (Anders als bei Texten, die verborgene göttliche Botschaften enthalten.) Eine Diskussion, wie die von Express sollte auf Augenhöhe stattfinden. Normaler Weise kann ein Interpret dort immer sagen: „Der Dichter meinte x“ Darauf kann der Dichter aber nie antworten „Nein, ich meinte y“ Entweder würde er sich damit ein Privileg einräumen oder aber man würde ihm sagen: „Und warum steht das nicht im Text“ und man hätte ja immer recht. Deswegen sollte man genau wie Breyger sprechen: „Im Text steht xy“. Alles, was man darüber hinaus vom Dichter verlangt wäre ein ursopatorisches Deuten. Und genauso ist es auch mit dem Subtext. Ich spitze einmal zu. Zunächst liest man den Text und stellt sich dumm. Dann zeigt man seine Klugheit und sagt, was in dem Text „eigentlich“ steht. Das ist ein Einfallstor, Kontexte einzubringen (was man immer muss). Nur bringt man diese Kontexte immer ein, als wären es dann notwendige Kontexte, die sich zwingend aus dem Text ergeben, dabei kann jeder Kontext auch arbiträr sein. Deswegen kann ich die Rückfrage verstehen: „Woran sieht man es am Text, dass da noch mehr anwesend ist?“ Der Subtext muss also schon an der Textoberfläche auffindbar sein, wo er nicht arbriträrer Kontext sein will. (Interessanter Weise ergibt sich im Express um Tim Holland sofort wieder die gleiche Frage.) Breyger baut sich nicht auf, sondern er zieht sich bescheiden auf dasjenige zurück, was man fairerweise gemeinsam auf Augenhöhe klären kann und sonst nichts.
Du fragst: „Wozu braucht man sonst sie Pesonanima“? Wenn Du sie so gebrauchst, sollte man sie gar nicht gebrauchen. Es sieht hier so aus, als bräuchtest Du sie um hinter einem Kleid, das weniger wichtig ist, das Du sozusagen durchstreichst, ein Eigentliches zu finden auf das nur der Deuter Zugriff hat. (Kann es auch sein, dass auch Dich manchmal tiefschürfende begriffliche Konzepte behindern, die Welt zu sehen?) Ist es im Kontext Deiner Breygerkritik nicht pikant, dass Du als dieses Eigentliche etwas ausmachen willst, das aus „Maske“ und „Wind“ zusammengesetzt ist?
Einerseits wirfst Du Breyger vor zu viel eigenen Sprachgebrauch zu haben („Raffen“, Ideosynkrasien?) zum anderen polemisierst Du in diesem Kontext gleichzeitig gegen Konzeptkunst. Das finde ich nicht fair. Je strenger die Konzeptkunst wäre, desto klarer wäre die doch jenseits persönlichen Meinens. (Das genau kritisierst Du doch hier an ihr!)
Ich mag auch nicht von „echtem“ Verstehen im Gegensatz zu unechtem sprechen. Wäre das nicht ganz schön willkürlich, wenn ich meine bevorzugten Leseoperationen verbindlich machen möchte für alle? Auch Leseweisen veralten. Wir können heute dafür abstrakt begrifflich Gründe angeben, warum Schillers „Glocke“ mal ein geschätzter Text war, wir können ihn aber, und wenn wir uns auf den Kopf und wieder gerade stellen nicht mehr ganz unmittelbar als berückenden phantastischen Text, in dem wir ausgedrückt finden, was man sagen sollte, indem wir jedes Wort an seinem Platz empfinden ... usw. Wir können es nicht! (Schon die Schlegels konnten nicht.) Die Leute, die es konnten, mögen sich in der Sache geirrt haben, aber es wäre naseweis zu behaupten, sie hätten falsch gelesen.
Aber Du setzt alle in Verdacht, die Breyger anders lesen als Du. Für mich haben manche Texte den intimen Begegnungscharakter, den Du von Texten forderst (Offenbar kommt es hier und da auch für Elke zu Stande.) . Ich würde es dennoch nicht zu einer Forderung machen, denen jedes Gedicht standhalten sollte. (Es gibt auch andere schöne Dinge, die Texte ermöglichen können.) Mache den Text nicht dafür haftbar, dass er Deiner Leseweise nicht entgegen kommt. Ich kann die Einsicht, das Leseweisen sehr verschieden ausfallen können, nicht überkantidelt finden. Dazu habe ich zu viel Erfahrung mit auch meinen eigenen Lesern.
Unter der Debatte um das Verstehen verstehe ich etwas anderes: Verstehen heißt nicht: Sagen können was man Verstanden hat. Das wäre Interpretation, Kontrollverstehen. Man versteht viel mehr, wenn man nicht in dem Modus versteht, immer dahin zu kommen „Der Text heißt dies und dies“ Echtes Verstehen: Seinen Partner versteht nicht der am Besten, der das elaborierteste Set von (wahren? Psychoanalytischen?) Aussagen über ihn formulieren kann, sondern der, der jederzeit adäquat auf ihn reagieren kann usw. (Da sind Aussagen manchmal eine Hilfe, manchmal stehen sie im Wege.)
„Gibt es einen benennbaren Grund, eine ursächliche Notwendigkeit Text sperrig anzulegen?“ Du weißt doch, dass Umarmungen erdrückend sein können. Erzähle mir doch nicht, dass Du nicht schon gesehen hast, wie Texte missbraucht und instrumentalisiert wurden. Wenn Dirs noch nicht passiert ist (mir schon) dann lese das bei Günther Eich nach. Dein Gesprächsangebot wird mir vergellt: Du fragst nicht: Warum sollte man eine Umarmung / einen Text sperrig anlegen wollen“ Du fragst nach einer „Notwenigkeit“, die dann gleich noch „ursächlich“ sein soll. So ist sichergestellt, dass ich nie zu einer befriedigenden Antwort käme.
Ich finde den Begriff „Umarmung“ treffend, weil Umarmungen deswegen bedeutungsvoll sind, weil sie etwas einerseits Intimes sind (einen Akt der Zuneigung) und andererseits etwas sehr konventionelles bedeuten. (Ein Begrüßungsritual.)
Innere Notwendigkeit: Du hattest im Genesis-Post gefordert, dass die Textteile bei Breyger besser zusammenarbeiten, hattest aber keinen Vorschlag gemacht, wie bzw. keinen Fehler aufgezeigt. Du hattest auf Genesis verwiesen und betont, wie gut Text, Musik und Bühnenshow zusammenarbeiten. Menschen meinen oft, man würde einem Text leicht abspühren, ob die Teile des Werkes gut oder weniger gut zusammenarbeiten. Und kleiden dies Lesegefühl, das sie nicht meinen rechtfertigen zu müssen, in den Begriff „innere Notwendigkeit“. So hatte ich Dich verstanden. Dass das flasch gewesen sein soll, wundert mich, denn Dein Post von Sonntag legt mir an keiner Stelle wirklich nahe, Deine Haltung anders zu sehen.
Zum nächsten Problem: Man kann anders als Du behauptest etwas verpassen. Man kann etwa die Mondstelle verpassen. (Du versuchst ja, daraus, dass Dus verpasstest, ein Argument zu schmieden wider mich.) Du wirst das zumindest zugeben müssen, so lange Du nicht etwas behaupten willst wie: „Alles was ich sehe ist sichtbar, darüber hinaus gibt es aber nichts“ Ob es ein Neues oder bloß Beliebigkeit ist (gar ein prinzipiell Neues), was Du verpasst, darüber sind die Meinungen eben geteilt, so lange sich das, um es neutral zu sagen, ja irgendwie abstoßend wirkende andere Sprechen entfaltet. (Das Du Prinzipiell Neues nicht siehst, zugestanden, das hast Du ja mit anderen Worten bereits dargetan.) Ich habe gestaunt, wie gut ich beim wieder Nachlesen mit dem Breygerschen Tändeln zwischen Sageweisen schon klarkomme. Früher war ich da schwerfälliger, jetzt gehe ich die Lastwechsel recht sicher mit und „verhaue“ mich lesend seltener. Man könnte sich daran gewöhnen.
Ich bin mit Dir sogar einer Meinung, dass ich eine sozusagen romantizistische Avantgarde, eine die sich aus einer subjektivistischen Entgrenzung von Sprache speist, skeptisch beurteile. Ich denke aber, damit ist wenig über Breyger gesagt, der mir viel weniger indeosynkratisch vorkommt. Da fühle ich mich weit besser geleitet.
Ich halte es anders als Du auch für einen Irrweg, die Poesie aus dem Verhältnis der Dinge zueinander zu bestimmen. Ich halte die Sprache für ein Mittel, die Dinge überhaupt erst (als Dinge und Verhältnisse) zu sehen.
Auch Konzeptkunst hat Kontext. Natur können wir nicht erkennen, wo wir sie als gegeben, gar offenbar betrachten, sondern nur, indem wir sie in ihrer Ausformung als geworden und durch die Konventionen unseres Blickes überformt wahrnehmen. Deswegen berührt mich die Bescheidenheit der Konzeptkunst sich als gänzlich hergestellt zu präsentieren, das den Blick trainiert. Ich verstehe nicht, wie Du aus veralteter Konzeptkunst, auf die Du den Blick lenkst, dazu kommst, Konzeptkunst überhaupt anzusehen. Schaue doch neuere an. http://0x0a.li/de/text/glaube-liebe-hoffnung/
Man hat immer gemalt und poetische Geschehnisse zugelassen. In der „großen Zeit des Nichtmalens“ und der Konzeptkunst haben sich einige für Nichtmalen und Konzepte interessiert und ansonsten wurde ringsherum sehr viel gemalt, sehr viel poetisiert. Schau allein die Lesebücher dieser Zeit durch. Du willst hier ständig der Kunst eine Entwicklung unterschieben, denkst aber ich täte das. Konzeptkunst (besonders die im engen Sinne) war und ist heute etwas für wenige. Das liegt aber nicht in der Sache, sondern an Moden. Am Mokumentary-Trend sieht man, dass es potentiell auch eine Sache für viele geht. (Besonders: wo die Mittler sich nicht verweigern.) Baumann habe ich nicht gelesen. (Auch schön: https://www.youtube.com/watch?v=Z40Er_--5rQ)
Hübsch ist Deine Parade auf meine Zitate. Du weißt aber hoffentlich, dass ich niemals über den Wert und Unwert von Menschen reden würde „ist nicht wert in den Vorhof“ ? Ich denke, ich war mit meinen Zitaten näher an Dir dran, sie waren weniger aus der Hüfte geschossen? Allerdings gebe ich zu, dass der erste Teil des George-Satzes mir heute noch valide erscheint. Leider versteht man George so, als hätte er eine absolute Kunst gefordert, die sich der Wirklichkeitsaussagen enthält. Du weißt ja aus den „Nagelproben“ von mir spätestens, dass ich das für unmöglich halte, und das Georges Gedichte nicht gerade danach aussehen, als wollten sie nichts sagen, sondern sehr bestimmte, auch politische Botschaften tragen. In Deinem Zitat geht es, und diese Lesart finde ich interessanter, um ein Suchtverhalten. Die Sucht, in jedem Text eine Botschaft aufzufinden, wie das Kind sein Osterei, halte ich tatsächlich für eine Art Sucht, die in den Schulen geprägt wird. Sie schadet allerdings der Ausübung wie der Rezeption von Kunst!
Ich glaube nicht, dass Du recht hast, dass Georges Satz schon die Unterscheidung zwischen Herstellen und Anwenden spiegelt. Gomringers Unterscheidung gehört ja zum Werkzeugkasten einer Theorie, die nicht zuletzt GEGEN George antrat. Meinst Du nicht, Gomringer würde George weitgehend als angewandten Wortgebrauch betrachten, gegen den sich die konkrete Poesie deutlich abheben ließe? Irrt er sich? Irrte sich George über sich selbst? Viel eher ist es doch so: George sagt lediglich: Der entstandene Sinn ist kein Kriterium für die Beurteilung einer Kunst als Kunst, ansonsten würde er für sich in Anspruch nehmen, seine Wörter wohl angemessen/ausgewogen/artifiziell angewandt zu haben. Wenn Du George, Gomringer, mich (Stolterfoht, Breyger) hier in einen Topf packst, dann doch nur wegen unserer gemeinsamen Intuition, dass es gut sein könnte, lieber etwas länger auf den Text einer Dichtung zu schauen, wenn man etwas über Dichtung wissen will, bevor man zu anderen Fragen übergeht. Das ähnelt mir zu sehr dem Formalismusvorwurf, wie ich ihn aus dem neuen Deutschland kenne, als das ich das irgendwie ernst nehmen könnte. (Manches, was Du über Georges Weltbild andeutest, könnte natürlich trotzdem stimmen.)
Ich sehe es umgekehrt wie Du. Arge Zuspitzung: Seit 150 Jahren gibt es einen aniformalistischen Impuls der zu den Sachen selbst will und immer wieder „Tabula Rasa“ ruft. Als Gründe wählt man die, die eben da sind: Not der Arbeiterschaft, Kriegs- und Zivilisationskatastrophen, politische Missstände, Einbeziehung neuer Klassen. Auch einige konkrete Poeten haben diesen Reflex ja. Der Kunst hat es auf die Dauer wenig geholfen. Und sie ist auch nirgends angekommen, obwohl doch so viele Dichter, Philosophen und Lehrer diesen Anspruch verfochten. Was gibt es für einen Grund, das weiter als Allheilmittel zu preisen? Statt dessen geht uns die Komplexität derś Barock oder von Novalis verloren. (Selbst Brechts gegenrhytmische Technik kann man nicht mehr hören, wenn die Muster gegen die er anarbeitet, nicht mehr gegenwärtig sind.) Wie stark konnten sich Dichter darauf verlassen, welche Strophenform welche Aussagerichtung bei, sagen wir, Novalis performt. (Es ist ja nur ein Beispiel, wenn es um ausgestorbenes geht, muss man in Kauf nehmen, dass das Mittel als abgestanden gilt.) Da setzte leider selbst die Uni aus. Nur weil man die Komplexität alter Dichtung unterschätzt, fordert man von der Heutigen oft zu wenig und unterschätzt die „normalen Leser“ vergangener Zeiten. Novalis gibt eben mehr her, als selbst manche meiner akademischen Lehrer glaubten (und allemal mehr als symbolistische Nachstimmungen). Wer liest heute noch Wilhelm Arendt, Kuba oder Weirauch? Haltbarer geblieben sind allemal die Kunstfertigeren: Rilke, Brecht, Eich oder Celan. Das hat seinen Grund: Nur wenn das Gedicht viele technische Kniffe kennt, die der Leser mitvollzieht, kann es einige, der sehr hohen Ansprüche, die so viele Leser an die Leistung dieser Textform stellen, erfüllen. Anders geht es leider nicht. Selbst Dichter, die wir heute auch für ihre klare politische Haltung schätzen, wurden ihrerzeit wegen zu großer inhaltlicher Schwammigkeit angegriffen. (Etwa Heine und Tuchholski.) Das ist ein Ostinato, was man lieber wegblenden sollte.
Ich bestreite natürlich nicht, dass ein guter Text heute einfach sein kann. Es gibt geniale Würfe, ich mag z.B. „Erhabenes für Gerhard Falkner“ von Mara Genschel sehr.
Der Rest Deines Textes ist mir zu unkonkret, als das ich Stellung nehmen wollte. Ich hatte den Express eher so gesehen, dass Breyger bei einigen öffentlichen Lesern auf eine Wand aus Unverständnis traf, und ich denke nach wie vor, dass Du einfach Dein Desinteresse nicht zu seinem Problem machen willst.
Immer wieder Sonntags
Lieber Bertram, ich denke, wir wollen nicht über dieselben Dinge reden. Mein Schaumriff war angetreten auf Tristan Marquardt zu antworten und jetzt sitzen wir da und streiten uns über Breygers Gedichte, die ich nicht kenne, soweit sie mir aber im express begegnet sind, für sehr interessant halte (bitte lies dazu meinen allerersten Leser-Kommentar dortselbst), bei denen ich aber Schwierigkeiten in der Rezeption habe. Um das zu zeigen benutzte ich die Picks, die mir der express! anbot. Also: wenn wir uns ganz konkret über YB's Texte streiten wollen, bin ich der falsche – falls du das von mir erwartet hast, dann tut es mir leid, daß ich dir das nicht bieten kann.
Im Schaumriff ging es mir um das “Urteilen” über Gedichte im weitesten Sinne, weil ich das mit TMs Kritik an der Lyrikkritik zusammen bringe und stelle die Frage: wie anders als absolut individuell und persönlich kann ich ein lyrisches Werk beurteilen? Welche Kategorien und Verfahren gäbe es, welches Instrumentarium und welche Näherungsweisen wären adäquat? Da gibt es Teilantworten: es wird gesagt, daß es auf die Leseweise ankommt: “Mache den Text nicht dafür haftbar, dass er deiner Leseweise nicht entgegenkommt”, schreibst du – und Yevgeniy: “ich bin sehr froh, Elke, über deine Lesart des Käfergedichts, die der meinen entspricht. Stefans andere Lesart entspricht ebenso der meinen. Nur ungern würde ich dieser Käferkolonie eine Lesart wegnehmen.”
Wenn wir Lesart und Leseweise kurzerhand derart zusammenbringen können, daß wir darunter das Gleiche verstehen, bin ich dabei. Wenn wir anhand des express! Beispiels nach gelungener oder nicht gelungener Lyrikkritik fragen wollen, stolpere ich sofort über die Rahmengebung, die Yevgeniy setzt, worüber zu sprechen wäre und worüber nicht, die so ausfällt, daß ein Leser das als arrogant empfindet und sich daraus immer mehr Zoff entwickelt. Diese Rahmengebung: “Die Annahme, es gäbe eine sogenannte hermetische Lyrik, die nur szenelesbar oder intelektuell [sic] verklärt, sei und dem gegenüber stehe die andere 'verständliche' Lyrik, ist tatsächlich dermaßen absurd und verklärend, dass ich nicht das Gefühl habe, dafür noch argumentieren zu müssen, das wurde genügend getan.”
Der letzte Satz kann den Diskussionswilligen sagen: darüber rede ich mit euch nicht. Selbst wenn ihr wollt, ich finde das nicht des Diskutierens wert. Also wenn das euer Problem ist, dann brauchen wir hier nicht weiter reden. Ganz unparteiisch, Bertram, es gibt kaum einen schlechteren Einstieg in eine offene Diskussion, in der die Beteiligten gerade anheben ihre Rezeptionsprobleme zu artikulieren. Wenn nämlich das von dir beschriebene Sperren genau das Problem ist, und der Gegenüber sagt, darüber rede ich nicht, dann sperrt sich aus meiner Sicht der Autor und – das ist das clevere – schiebt gleichzeitig eine Absolution für private Lesarten nach, die sagt: ich bin einverstanden mit möglichen Lesarten. Das kann man auf zweierlei Weise sehen: Die bösartige Variante wäre: der Autor schützt seinen Text und will nicht rausrücken mit der richtigen Lesart – das würde derjenige denken, der davon ausgeht, es gäbe eine richtige Lesart. Die gutartige Variante wäre: der Autor verschenkt seinen Text und geht davon aus, daß der Leser auf seine Art und Weise damit etwas anfangen kann und wird.
Vielleicht gibt es noch weitere Sichtweisen, ich will hier nicht zu tief rein, weil es mir nur darauf ankommt, zu zeigen, daß es zu Yevgeniys Aussagen immer ein zunächst unentscheidbares Perspektivenpaket gibt, und zwar leserabhängig. Du betonst immer wieder meine Erwartungen an ein Gedicht, Bertram, ja, die gibt es. Und es gibt auch Erwartungen an die Auskünfte des Autors. Ich möchte zum Beispiel ungern in einem übergaren Bereich umherstochern, wie in einem Schaum, heißt das nun was, oder heißt das nichts, und jedesmal wenn ich mich bewegt habe, antwortet mir das Gedicht: falsch gelaufen, bitte zurück zum Anfang. Und dort steht der Autor und sagt mir: “es ist nicht nötig einen 'Schlüssel' zu finden”. Und dann kommst du Bertram, und verteidigst das Gedicht und sagst: lieber Leser, dein Suchen nach dem Schlüssel ist daran Schuld, daß du mit dem Gedicht nichts anzufangen weißt. Mir persönlich (FM) ist das alles vertraut und ich habe damit keine Probleme (aber darüberhinaus Kritikpunkte, was das Anlegen von Schaum angeht), aber wie soll der Betrachter etwas entschlüsseln, das nicht zu entschlüsseln ist, also Räume betreten, die offenbar beliebig sind. Ich bitte dich noch einen Moment bei der Denkstange und in der Perspektive des Normalverbrauchers zu bleiben: natürlich taucht die Frage der “Beliebigkeit” auf, sie stellt sich, wenn die Textbefragung so strapaziert wird, daß sie ganz ohne Antwort bleibt. Dann wünscht man sich Hilfe vom Autor. Vielleicht bekommt man sie – express! - aber sie wird angereichert mit dem Statement: “Der Witz ist: Diese Beschreibung von mir könnte man nun genauso gut Streichen [sic] und durch eine Gegensätzliche [sic] ersetzen.”
Ich als Normalverbraucher denke mir spätestens jetzt: hier werde ich doch irgendwie verarscht. Dem voran steht das Statement: “Dementsprechend ist es unmöglich hier etwas 'nicht zu verstehen'. Alles liegt offen da.” - Häh? Alles ist klar, nur ich bin zu blöd, spiele ich jetzt mal den unbeleckten Leser, das hilft mir aber jetzt auch nicht weiter. Könnte er nicht wenigstens ein zwei Hinweise zu seinem Schreibprozess geben, die mir zeigen, wie er drauf kommt, und die mir den Zugang vermenschlichen. Auf diese Art und Weise steht vor mir eine Wand und ich komm und komm nicht weiter, und dem Autor ist es offensichtlich egal, ob ich weiterkomme oder nicht. Unbel Eckt, so heißt der Leser, wird nun langsam Gram entwickeln oder sich enttäuscht abwenden und denken: da verschließt sich einer vor mir. Er wird in Kommentaren weiter ungeduldig Fassbares fordern, und nicht damit zurecht kommen, daß sich Yevgeniy “offen und verletzlich Alternativrealitäten” erhofft, die sich jeder selbst erzeugen kann. Unbel Eckt wird sagen: und was ist mit deiner Realität, kannst du mir etwas über die deine sagen? Kannst du mir etwas über dich mitteilen, das für mich Bedeutung annimmt, oder schlüpfst du mir weg, sobald ich mich dir nähere.
Dann wird Unbel Eckt erfahren, daß er mit völlig falschen Voraussetzungen an die Texte seines Gegenübers gegangen ist und nicht das Gedicht, sondern er selbst schuld ist, wenn es nichts wird mit der Lyrik und ihm. Armer Unbel, muß nun ohne Antwort und ohne Gedichte weiter leben.
Ein gespieltes Geschehen? Es ist ganz bestimmt im express! passiert. Ich werte da nichts. Ich stelle nur dar. Ich nehme niemanden in Schutz, greife niemanden an, obgleich ich für Verständnis für die Perspektive von Unbel Eckt werbe. Die Frage “Kann es sein, daß es für literaturtudierte Leute, den Unbel Eckt gar nicht mehr gibt?” spare ich mir, weil sie ein zusätzliches Thema aufmachen würde. ;-)
Momentan reden wir nicht über die Gedichte von Yevgeniy. Wenn ich beispielhaft darauf verwies oder Hinweise darauf benutzte um einige Gedanken von mir aufzuzeigen, dann bitte interpretiere das nicht streng kanalisiert.
Was mich persönlich interessiert, und worauf außer einem Troll niemand wirklich regiert hat, ist ein Zitat, wo ein Lyriker das Gedicht eines anderen Lyrikers beurteilt und schreibt: “das gedicht ist mir zu dumm, um es ordentlich abzuhandeln.” Was bedeutet das? Ich meine nicht die Bewertung an sich, ich meine dieses “ordentlich abzuhandeln”. Kann man ein Gedicht ordentlich abhandeln, sozusagen verhandeln, was es nun auf sich hat mit einem Text. Auf die Spitze zugetrieben: kann man “offene und verletzliche Alternativrealitäten” verhandeln? Sicher nicht. Aber man kann fragen, ob der Text dieser Zielstellung gerecht wird, ob seine Anlage und sein Material dem gerecht wird. Dazu müßte man allerdings die Zielstellung kennen. Ein Gedicht ist ohne seine vermuteten oder gewußten poetologischen Fundamente nicht komplett. Es ist m.E. dann gut, wenn man diese Fundamente herausspürt, wenn man dem Gedicht das ausfühlen kann. Geübte Lyrikprofiler können aus Gedichten nicht nur Lektüren, sondern auch die bevorzugte Schuhtype des Verfassers extrahieren, heißt es.
Ich hatte dich gefragt, Bertram: Gibt es einen benennbaren Grund, eine ursächliche Notwendigkeit Text sperrig anzulegen? Die Frage stammt von Unbel Eckt. Du antwortest dem Milautzcki sehr richtig: “Du weißt doch, dass Umarmungen erdrückend sein können.” Ich möchte trotzdem eine Antwort an Unbel versuchen: Es gibt mehr als einen benennbaren Grund Text sperrig anzulegen:
Da gibt es das Phänomen, daß das Geheimnisvolle uns fesselt, daß wir Fragewesen sind, hinterher kommen wollen und hindurch, dahinter und hinzu. Und wenn wir beim Schreiben merken, daß uns etwas geschieht, das man schon auch Zauber nennen kann, dann gehn wir dem nach und treiben es voran und vielleicht auf die Spitze. Ich würde es den improvisierten Zauber nennen, oder den Raum der Improvisation. Hier passiert sehr viel, von dem ich mehr als ahne, daß andere es nie werden teilen können, aber ich löse mich aus dem Sperrgürtel der Verständlichkeit und öffne mich in einen eigenen Raum. Diese Abgeschlossenheit des eigenen Raums ist sehr wichtig, sie ist das, was andere als hermetisch empfinden, aber sie ist auch das, was den improvisierten Zauber überhaupt ermöglicht.
Dann gibt es das Phänomen, den anderen mit Geheimnisvollem fesseln zu wollen, daß wir das Fragewesen des anderen benutzen, um ihn zu führen, hinterher, hindurch, hinweg. Und wenn wir beim Schreiben bemerken, daß es mit diesem oder jenem Begriff, mit diesem oder jenem Verfahren besonders gut klappen könnte, dann tun wir das. Wir planen und spielen mit der Möglichkeit Entschlüsselung anzubieten, Interesse zu wecken. Das kann sich pervertieren zu einer “sich interessant machenden Schreibweise”, bei dem im klügsten Fall schon das lyrische Personal von Jurys bis zu Lektoren mit bedacht wird. Ich würde das den adressierten Zauber nennen, den ausgestellten Raum. Auch er ist durch sein vorgedachtes Publikum in gewisser Weise abgeschlossen, auch das fühlt sich für Unbel hermetisch an.
Dann gibt es das Phänomen, eine bestimmte Reaktion provozieren zu wollen, quasi die Nervensäge, die bewußt eingesetzt und am Sägen ist, oder der Stressfaktor, der sich zeigen soll, die Ratlosigkeit, keine Ahnung – Sperrigkeit als Stilmittel eingesetzt.
Will sagen, es gibt im Einzelfall wohl gut begründbare Beweggründe in Umarmungen Sperrungen einzubauen, aber die gibt es genauso wohlbegründet in der Rezeption: wenn ich das Gefühl habe, rein als Schauplatz der poetischen Intelligenz eines anderen dienen zu sollen, als Bühne der kalkulierten Admiration, dann fühle ich mich nicht gut und sperre mich. Das trifft auch bei übermomentualisierten Haikus, die mich in ein besonderes Gefühl zwingen wollen, bei inhaltsschweren Schwaden aus inhaltsschweren Worten, bei eloquentem, wortmächtigem Text-Blabla bis zu Schaustellerstücken, die um Aufnahme in den Club der Moderne oder in die Liga buhlen.
Wenn sich etwas gegenseitig sperrt, dann kann der Autor sehr viel dafür tun, den Zugang zu erleichtern, u.a. indem er klarstellt, aus welchen Motivationen bei ihm Texte und als Beispiel gewisse Wortkombinationen entstehen. Gibt es konzeptuelle, kontextuelle oder experimentelle Motivationen. Er kann den Weg zeigen, den er geht. Dann kann auch der Leser sehen, ob er diesen Weg gut geht, mit Talent und Humor und/oder Ernsthaftigkeit (je nachdem). Dem sollte man sich nicht versperren. Und mein Gefühl im express! war, daß sich Yevgeniy dort nicht so offen gezeigt hat, wie es sich manche der Diskutanten gewünscht hätten.
Sehr viel mehr geht heute nicht, es ist wieder Sonntag, wieder 12 Uhr, 12:20 um genau zu sein. Es ist ein Sommertag draußen und ich denke, ich versuchs mit Schwimmen, aber der Main dürfte noch ziemlich kalt sein. Mir ist es recht, Bertram, wenn du vom Tisch aufstehst und wir damit auch die eigentliche Debatte beenden, die eine Verständigung über Lyrikkritik hätte werden sollen.
Auskünfte über Unbel eckt.
Du legst Breygers Satz: “Die Annahme, es gäbe eine sogenannte hermetische Lyrik, die nur szenelesbar oder intelektuell [sic] verklärt, sei und dem gegenüber stehe die andere 'verständliche' Lyrik, ist tatsächlich dermaßen absurd und verklärend, dass ich nicht das Gefühl habe, dafür noch argumentieren zu müssen, das wurde genügend getan.” ganz ehrlich Frank, äußerst parteiisch aus. Es ist ja keine Ansage vor allem Anfang. Sondern etwas anderes war geschehen: Man hatte ihn gefragt, ob er bereit sei, über seine Gedichte mit anderen Leuten zu reden. Er hatte zugesagt. Nun schienen die Leute gern stattdessen über etwas anderes mit ihm reden zu wollen: Über eine poetologische These (die ich, aber das tut nix zur Sache, auch für Bullshit halte.). Er ist zurückhaltend genug nicht einmal zu sagen: „Ich habe das Gefühl, ihr haltet Euch nicht an die Verabredung“. Sondern er rechtfertigt lediglich sein Schweigen in dieser Debatte, indem er seine Position zu diesem Problem kurz ansagt, und seine Bereitschaft bekräftigt, wie abgemacht weiter über seine Gedichte zu reden.
Das Du „zum Beispiel ungern in einem übergaren Bereich umherstochern“ möchtest, glaube ich Dir aufs Wort. (Ich denke, Du vergibst Dir manchmal etwas damit, weil man es manchmal erst sehr spät sieht, ob etwas ungar ist, oder mir sich nicht erschließt, ich stände heute noch z.B. bei Monika Rinck außen vor, wenn ich diesen Verdacht weiter gehegt hätte. Das wäre sehr traurig für mich, aber das gehört nicht hierher.)
Ja, der Schlüssel hat weniger mit verstehen als mit „sagen, was es heißt“ zu tun, auf das Schule uns alle trainiert hat.
Und Du meinst jetzt, wenn Breyger tolerant genug ist, eigenwillige Deutungen seiner Texte zuzulassen (und sei es eben, weil Leser das gerne machen) dann hieße das, seine Gedichte wären entweder „übergar“ oder gleich noch „offenbar beliebig“ ? Da brauch ich nicht drüber reden, da kannst erstmal reinschauen in den Band ...
Frank, Du spielst allenfalls einen Normalleser, keinen unbelekten Leser. (Zu zielst vollkommen vorbei an letzterem!) Der Normalleser ist durch den Deutschunterricht gegangen, dem sind solche Fragen der richtigen Lesart wichtig. Der kleine Unel ekt, ich kenne ihn auch, hat sich darum nicht geschert. Der hat gelesen und sich einen Reim drauf gemacht. Was er eben im Text fand.
Ich wusste nichts über Goethes Schreibprozess, als ich einen Band als Kind las. Ich habe nicht alles verstanden, aber manches Gedicht sagte mir zu. Ich habe z.B. auch nicht gewusst, dass „Sah ein Knab ein Röslein stehen“ oder „ich ging im Walde so für mich hin“ allegorische Lesarten haben, was bei adäquater Lektüre sicher zu beachten wäre. Und Goethes Intentionen waren mir auch wurscht. Un- Beleckt hat nicht gefragt: „was ist mit deiner Realität, kannst du mir etwas über die deine sagen?“ die Texte handelten eben von Blumen(nicht)pflücken, fertig. Oder das Flohlied, aus dem Faust (stand im „kleinen Trompeterbüchlein auch drin“) Eine verwickelte politische Allegorie, zusätzlich noch überformt, insofern sie einem Charakter des Stückes in den Mund gelegt wurde. Also: Selbst Margots Volksdidaktik traute Unbel Eckt mehr zu als Du.
Ähnlich Brecht „Die Häuser sollen nicht brennen“. Mich sprach der Text sogleich an, weil er als Gebet in der sch... Schule etwas vertrautes, ein Stück zu Hause verkörperte. Das dürfte ziemlich das Gegenteil von Brechts Ziel gewesen sein, der die umgekehrte Richtung ging: etwas Christliches zu sekularisieren, der Kirche zu entreißen, indem er sich in deren Sprachgebräuche einschrieb. Die historische Situation hatte sich geändert: Zu meiner Zeit war es schon eine Rückkehr des Sprachgebrauchs.
Du als „Normalverbraucher“ bist also ein Herr Be leckt.
Abgesehen davon, dass ich auch in anderen Fragen des Konsums mich als Verbraucher nicht ernst genommen fühle, wenn ich im Supermarkt nicht das kaufen kann, was am besten und billigsten wäre für einen bestimmten Zweck, sondern das, was eben auch die anderen gerne kaufen. Gerade bei etwas wie Kunst sollten wir doch nicht denken: „eines für alle“!
Du Schreibst „Dann wird Unbel Eckt erfahren, daß er mit völlig falschen Voraussetzungen an die Texte seines Gegenübers gegangen ist und nicht das Gedicht, sondern er selbst schuld ist“ Das mag für Dich gelten, ich denke, der kleine Unbel eckt hat eben gemacht, was er mit Texten so macht und war eben klargekommen oder nicht. Du als Informierter Rezensent verabsolutierst einen zwar interessanten, aber nicht ausschließlich möglichen Umgang mit Texten. Es gibt für studierte Leute wie Breyger und mich Unbel Eckt also durchaus, er macht seins, egal, was er gelernt hat, ich bin sogar heilfroh, weil mit dem Normalleser, den Du hier vorführst, so schlecht reden ist.
Du interpretierst einen verärgerten Spruch (misswollend) über “das gedicht ist mir zu dumm, um es ordentlich abzuhandeln.” Was im Kontext „ordentlich abhandeln“ meint, weißt Du selbst, der Autor hat eine Skizze dessen kurz unter der Stelle geliefert. Du stellst Dich dumm, weil Dein Entlarvungseifer mit Dir durchgeht. Schon aus dem oben von Dir angegriffenen Zitat ersiehst Du, dass Breyger DIE eine ordentliche Umgangsweise mit Texten nicht fordern würde.
Du machst Vorschläge, was man mit Gedichten machen kann und was nicht. Probiere es mit Breyger aus und sage, was Du kannst und was nicht. (Das „man“ ist mir nicht so angenehm in Deinen Formulierungen.)
Ich halte den Satz für problematisch: „Ein Gedicht ist ohne seine vermuteten oder gewußten poetologischen Fundamente nicht komplett. Es ist m.E. dann gut, wenn man diese Fundamente herausspürt, wenn man dem Gedicht das ausfühlen kann.“ Gedichtlektüren scheitern oft, weil eine winzige Voraussetzung dem Leser nicht klar ist. Man müsste seine Auffassungsgabe für verbindlich erklären, damit die eigene Schulbildung usf. So viel Affirmation der herrschenden Verhältnisse, da wird mir echt schummerig. Jeder Normalleser kann z.B. leicht eine sapphische Ode erkennen. (Es gab Zeiten, da wars eben so.) Aber auch Profis übersehen das oft. Sollen allein deshalb solche Strophenformen akademistisch sein plötzlich? Oder Bibelzitate in Gedichten entschlüsseln hat früher jedes Kind gekonnt, heute braucht man Fußnoten. Soll das ein Makel des Gedichts sein? Nein es ist sicher kein Makel des Gedichts, wenn es nicht eins zu eins an den Mainstream des Gewussten anknüpft.
Es gibt also viel banalere Gründe, dass ein Gedicht geheimnisvoller ist, als Gedichtprofiler in Spe auch nur sehen können: Soziologie der Gewohnheiten. Um hier noch ein Paradebeispiel für (pejorativ gemeinte) „Unverständlichkeit“, wie das durch die Medien geistert, aufzunehmen: Bert Papenfuß ist mit seinen merkwürdigen Texten durch die Jugenclubs der späten DDR getingelt. Sollte der FDJ-ler der späten DDR mehr von Gedichten verstanden haben, als der Oberstudienrat von heute? Ja vielleicht: Dass man sich nicht daran scheren braucht, was der Deutschlehrer bis zum Abwinken gepredigt hat, um Zugang zu Dichtung zu gewinnen. Ich rate dazu, vor dem Wissen von irgendwelchen Normallesern immer Hochachtung zu haben, und kein zu didaktischeds Verhältnis dazu zu gewinnen. (Als Dichter, wie als Rezensent!) Auch die von Dir angesprochenen Jurys haben das oft nicht.
Mehr lässt sich ohne Beispiele für Deinen Umarmungsversuch, Deine Bekenntnisse zur Schwierigkeit und deren Missglücken hier nicht sagen.
Du forderst: Man sollte sich nicht versperren, den Weg aufzuweisen, den man als Dichter gegangen ist. Ich denke, das ist eine Frage von Fall zu Fall. Es ist etwas anderes, ob ich etwas in ein Gedicht schreibe oder in einen Essay/Gespräch ... Manchmal bleibt der Leser halt bei Gedichten auf sich gestellt und das ist manchmal auch gut so. Und sei es weil explizite Botschaften sozial, (manchmal gar juristisch) sanktionierbar sind. Dass man das sich manchmal anders wünscht, ist eine andere Frage, aber nicht nur Breygers „Schuld“.
Orden
Mal wieder Sonntag. Früher ging nichts.
In meinem Kopf bin ich in anderen Themen drin, Bertram, ich sehe einen jungen Menschen auf dem Dach eines Parkhauses, wie er sein Lebensscheitern in eine Pistole lädt. Ich sehe das als Ausdruck eines gewaltigen gesellschaftlichen Problems, dem man im Kern näher kommen müßte, um es wirklich zu lösen, dem man aber nicht wirklich näher kommen möchte. Weil man zugeben müßte, daß die Verheißungen, denen nachzuleben man politisch organisiert, nichts sind als Puff und Bluff. Die moderne Art die Welt zu organisieren, läßt immer mehr immer jüngere Ruinen zurück, die einen Brückenschlag ins Leben nur noch virtuell schaffen. Es tut weh zu sehen, wie wertlos die Werte der alten Moderne machen und wie wichtig es wäre, der neuen Moderne, die es in mancherlei Ansätzen schon gibt, den Resonanzboden zu bieten, die sie braucht, um wirklich nachzuhallen.
Ich bin nicht einverstanden mit deinen Auskünften über Unbel Eckt.
Einverstanden bin ich, daß jeder von uns einmal unbeleckt gewesen war und sich die Welt der Poesie auf eigene Art und Weise mit den Jahren erst erschlossen hat. Deiner Kategorisierung nach, trennt sich dann die nicht mehr unbeleckte Klientel in Normalverbraucher und .... wen? Dein Wort vom Normalverbraucher zementiert, daß es auch einen Spezialverbraucher gibt, einen Verbrauch jenseits des Üblichen, der sich über einen “next step” eine höhere Stufe des Genusses erschließt.
Nur: wie hat dieser next step auszusehen? Wie kommt man dazu “ordentlich” über Gedichte zu reden und sie “ordentlich abzuhandeln”. Gerade darum ging meine Stoßrichtung in der Diskussion über die Lyrikkritik. Darf ich etwas “Gültiges” über Lyrik sagen, wenn ich aus einer völlig anderen Lebensecke komme, wie der Stundent meinetwegen aus Hildesheim. Welche Näherung ist die “ordentliche”. Die Frage ist kein Scheiß – sie wurde von niemandem bislang beantwortet. In dem Moment wo ich unterscheide zwischen ordentlich und unordentlich, möchte ich wissen, wie man das unterscheidet. Und wie denn bitteschön d i e adäquate Kritik auszusehen hat, die Tristan Marquardt einfordert.
Für dich als Leipzigprofi stellt sich diese Frage wahrscheinlich nicht, weil du sie aus deiner Studien- und Lehrerfahrung kennst, die “ordentliche” Herangehensweise. Sie ist dir wahrscheinlich so selbstverständlich wie dem Angler seine Spule (die mir ein Rätsel ist). Das Wort Gehensweise könnte man zur Gangart machen und ich könnte es nutzen, auf den individuellen Gang abzuheben, der außer auf Paraden niemals ordentlich ist, sondern in dem sich sehr viel Charakter und Lebenswelt des Einzelnen spiegelt, in dem sich das Erfahrene zeigt und das Begangene.
Für mich stellt sich diese Frage aber jedesmal, wenn ich mich einem Text nähere, weil ich den Fehler begehe zu denken, daß hinter dem Text ein Erzeuger sitzt. Wie gehe ich auf ihn zu? Erreiche ich ihn überhaupt. Ich liebe es, wenn mir derjenige entgegenkommt, wenn wir uns in der Mitte treffen und ein Picknick haben, bevor wir wieder auseinander gehen. Es gibt allerdings auch Erzeuger, die winken dich sich hinterher und weit in den Nebel hinein und schwupps sind sie weg. Aber vielleicht ist das ja gar kein Nebel, sondern Manuel Neuer und er ist gar kein Torwart, sondern eine Vogelscheuche.
Ich hoffe, du verzeihst mir diesen Haken, den ich benutze, um zum eigentlichen Thema zurückzukommen (das bitte nicht Breyger ist!). Also: wasse erwarte Marquardt? Wie geht dem ordentlisch? Sehen wir da die enttäuschte Hoffnung, dort gesehen zu werden, wo man sich selber sieht und einordnet? Ich könnte das verstehen. Wer weiß schon, wo der andere zuhause ist. (Das gehört zum Rätsel des Verstehens übrigens dazu – Standpunkte erkennen zu können, die auch Bewegungen sein können – wo steht jemand, bewegt sich wie und was gibt er von sich, wo verortet er sich. Der pathetische Trick sich ganz außerhalb des Textes zu sehen und dessen Verortung in Gänze dem Anderen zu überlassen, ist poetologisches Taschenspiel. Natürlich soll der Erzeuger verantwortlich gemacht werden für gerade den möglichen Spielplatz und das ist auch nicht mehr als reell).
Ganz ehrlich, Bertram: ich erwarte nicht und glaube nicht, daß Marquardt, Breyger oder Du mich in meinem “Zuhause” ausmachen könnt, und ich erwarte auch nicht, daß es mir möglich ist Marquardt, Breyger oder Dich dort auszumachen, wo ihr euch seht. Texten ist eine Möglichkeit sich über Aufenthalte auszutauschen, der Textleser muß da manchmal lange Wege gehn, vor allem wenn der Hersteller die Routen komplex erzeugt. Manchmal ist ein Gedicht auch nur ein Lehrstück, auf welche Art und Weise es gelesen werden will oder nicht gelesen werden will.
Ich selbst sehe mich bei meinem Umgang mit Text mit einem Satz des Regisseurs Luca Guadagnino verbandelt. Der sagte in einem Interview zu seinem Film „A Bigger Splash“: „Ich glaube, dass man – wie Renoir das formuliert hat – beim Dreh die Tür zur Realität geöffnet halten muss. Man muss bereit sein, das, was passiert, in dem Moment, in dem es passiert, einzufangen, aufzunehmen. Mir gefällt die Idee, ein Drehbuch zu haben und dieses Drehbuch dann auch wieder zu vergessen. Man kann Improvisation dazu sagen, aber ich würde einfacher formulieren: Man muss intelligent sein.“
Wenn Intelligenz meint, komplexe Ereignisse zuzulassen, oder vielleicht so: Die Komplexität von Ereignissen anzuerkennen und einzubeziehen. Das ist für mein eigenes Schreiben wesentlich geworden, dort würde ich mich verorten wollen und ich frage mich nicht mehr, ob andere das sehen oder verstehen, es ist nicht mehr als ein frozen moment und manchmal a bigger splash.
Was ist Zentrum, was sind Ränder, Du scheinst mir zu gewiss
Hmm., natürlich absorbiert mich der Zustand der Gesellschaft rundherum auch immer wieder. Weiß aber gar nicht, ob ich tatsächlich im Ziele irgendeiner Verheißung organisiert bin, die Puff und Bluff sind. Ich finde die politischen Verheißungen (wenn man es denn so nennen will), um derentwillen ich ad hoc Bündnispartnerschaften eingehe, naturgemäß glaubwürdig, sonst fehlte mir vor allem schon die Kraft.
Unsere Gesellschaft weiß mich auch immer mehr zu erschrecken. Das war aber auch in den späten 80ern so. Und auch da gehörten Gedichte zu den Überlebensgegenständen. Deswegen bin ich immer vorsichtig, wenn etwas in die Richtung geht, als größeres Thema gegen das „kleine Thema“ Gedicht ausgespielt zu werden. Auch Gedichte können Leben retten. Zu diesen Rettern gehörten bei auch einige klassisch Modene etwa Trakl und Majak. Bei anderen, sagen wir Benn , könnte ich Deine Aussage verstehen „Es tut weh zu sehen, wie wertlos die Werte der alten Moderne machen“ (man merkt Deiner Antwort aber an, dass sie schnell hingeworfen ist, die Formulierungen sind etwas unklar) „und wie wichtig es wäre, der neuen Moderne, die es in mancherlei Ansätzen schon gibt, den Resonanzboden zu bieten, die sie braucht, um wirklich nachzuhallen.“ Für mich ist die Moderne nicht irgendwann zu Ende gewesen, hat auch nicht irgendwann dann und dann angefangen, sondern ist ein Teil des Stromes, ein mir besonders teurer, den ich schon in den Wellen des Barock sehe und der in der Epoche „Moderne“, die ich Grund für ein literaturwissenschaftliches Unding, eventuell prominenter floss oder aber bloß für diese Zeit sorgfältiger beschrieben wurde? Der reine Tisch, den Du mit solchem Ablösegedanken einer Moderne durch eine andere forderst. dies: „Jetzt aber richtig“ wurde seit der Moderne so oft gefordert ... es hat aber immer relativ wenig bewirkt. Deine neue Moderne finde ich auch schlecht umrissen bisher. Man kann sie zu schnell mit einer Reduzierung der Literatur auf Inhaltismus und einer Begrenzung der Verfahren auf übliche verwechseln, wenn Du nicht mal gelegentlich ausformulierst, was technisch anders werden soll. Und warum sich das als Moderne versteht. So schwammig, oder wenn Du so willst integrativ, wie es jetzt formuliert ist, setzt Du Dich der Gefahr aus, dass sich Menschen diese Forderungen zu eigen machen, etwas gängiges durchbringen und wenn Du denkst: Endlich ist es geschafft, stellt sich heraus, Deine eigenen Gedichte sind Deinen ehemaligen Kampfgenossen zu seltsam, so sollte man Lyrik nun doch nicht verfassen ...
Hmmm. Du bist nicht einverstanden mit meinen Auskünften über Unbel eckt? Du meinst also weiterhin, er müsse sich dafür interessieren, was der Autor ihm sagen wollte? Auch leseanfangende Kinder denken gar nicht an den Autor sondern an die Geschichte usw. Du müsstest schon sagen, womit Du nicht einverstanden bist, wenn es irgend ein Gewicht haben soll.
Du greifst zu recht den Normalverbraucher an, soll man ihm den Spezialleser entgegensetzen usw. Nur war der ja nichts weiter als eine Parodie auf Deinen Normalleser und alles, was Du über jenen sagst, gilt auch für diesen: Ich habe Deine Kategorie nur aufgenommen, um zu zeigen, wie problematisch diese ist, wenn man sie denn aufgriffe. Damit Du Dich nicht hinter irgendeinem Normalleser versteckst. (Schon gar nicht ist er eben gleichzusetzen mit Unbel Eckt zumal dann, wenn er nach dem Autor fragt, wie DU behauptet hast, nicht ich.) Nun musst Du Dir überlegen, wie sich was Du sagst, ohne die von Dir eingeführte Kategorie Normalleser erreichen ließe.
Eine Folge Deines „Normallesers“: Du mit Deiner festen Vorstellung kannst den Leser bestimmter Dir schwer- oder unzugänglicher Literaturen dann nur noch in einem Überbietungsdiskurs denken, als einen der sich ein „Mehr“ zutraut, was eventuell kränkend auf Dich wirkt? Ich glaube ja, es gibt einfach vor allem ein „anders. Sehr verschiedene Leserkreise und Gruppen, verschiedene Hallräume für verschiedene Lyriken und es wäre anmaßend, bei allen mitreden zu wollen und zu meinen, man könnte alle gleichmäßig beurteilen.
Breygers sieht es ja genauso, selbst dafür griffst Du ihn noch an. Dass Du seine laxe Formulierung „ordentlich abhandeln“ wieder ins Feld führst! Du httest sie schon über Gebür strapaziert und nun willst Du sie auch noch meiner Position in die Schuhe schieben? Du weißt genau, dass Du sehr polemisch etwas, dass längst nicht mehr zu unserem Gespräch über Lesevoraussetzungen gehört, hier aufgreifst, um meine Position sumpfig dastehen zu lassen. Wie gesagt: Dir würde ich ein Konzept von „ordentlich Lesen“ als das, was der Normalleser nach Schulnorm tut durchaus zutraun. Du ziehst doch hier ständig Grenzen, was Gedichte dürfen und was nicht. Da kann man leicht sich als Pendant zu diesem genormten Gedicht auch den ordentlichen Leser vorstellen. Breyger und ich würden das kaum verteidigen.
Ich würde die „Gültigkeit“ Deiner Rede dann bestreiten, wenn ich sehe, dass Du etwas sagen möchtest über Konventionssysteme, in denen Du Dich nicht auskennst. Ich habe nie das Gefühl etwas „Gültiges“ über Lyrik sagen zu wollen und verstehe nicht, wie man das wollen kann. Für gültige Argumente gibt es Regeln, über die man sich verständigen kann, ein Metadiskurs darüber, was Gültiges über Lyrik zu sagen sei, würde zunächst darüber geführt werden müssen, was man als Lyrik „zulässt“. Da es schädlich wäre, dies über Gebühr einzuschränken, sollte man dieses Gespräch nicht führen WOLLEN. (Welche Annäherung Breyger bevorzugt, kannst Du Dir unter dem Satz, gegen den Du polemisierst ansehen.)
Du stellst Dir Leipzig sehr beschränkt vor, wenn Du denkst, dort gäbe es Literaturgespräche nur nach einer Maßgabe. (Wahrscheinlich auch das in polemischer Absicht?) Es gibt in Leipzig aber, und Du ahnst das, ein babylonisches Stimmengewirr von Ansätzen, wie auch anderswo. Und man kennt auch solche, die sich hinter dem Nichtverstehen eines anderen verstecken, um ihre eigenen Zugangsschwierigkeiten nicht offenbar zu machen. Man kennt auch solche, die den kleinsten gemeinsamen Nenner zur Norm machen wollen. Da ist Dein Diskurs nur in seiner Heftigkeit vielleicht originell. Ebenso am Literaturinstitut, da gibt es keine gültigen Sageweisen, wie sehr auch Schwätzer einen Institutsstil insinuieren. (Sollte sich mal wirklich Gleichförmigkeiten eingeschlichen haben, werden diese von den Schwätzern ohnehin nicht bemerkt.) Die Taffsten sind immer dabei, gerade das wieder zu destruieren, was sich als stilistische Gleichförmigkeit einzuschleichen droht, weil es langweilt. Nicht mal in einem Seminar gibt es meist eine ordentliche Sageweise, sondern eine Polyphonie von Ansätzen, auch wenn natürlich der Habitus dessen, was geredet wird sich durchaus unterscheidet, je nachdem, ob etwa Hummelt, Stolterfoht, Popp, Treichel oder Wildenhein oder oder dort über Lyrik mit Studenten diskutieren. Und so gibt es auch in Berlin, Frankfurt oder Greifswald verschiedenartige Leute, und auch Breygers Stil findet in diesen Städten seine verständigen Leser. Es ist keine Frage der Himmelrichtung und auch Du könntest leicht Breygerleser in der Kneipe treffen. (Hier ist „Breyger“ gleichzeitig längst nur pars pro toto, für andere weniger verbreitete Macharten von Gedichten.) Vielleicht könntest Du Dein Misstrauen bekämpfen, wenn Du solchen Lesern begegnest?
Hinter Marquard, der mit seinem Forumkonzept mit einer exemplarischen Rezension, deren Qualität bloß dadurch sichergestellt sein soll, dass der Rezensent sich als Profi ausweisen kann, scheint mir diese Vielfalt der möglichen Sageweisen und damit die Vielfalt möglicher Klippen ebenfalls maßlos zu unterschätzen. (Ursprünglich dachte ich, darin mit Dir einig zu sein.)
Ich denke, dass viele Dichter mit ihren Gedichten sich den von Dir zitierten Guadagnino Satz zu Eigen machen könnten, aber vielleicht manchmal auf überraschend andere Weise, als man zunächst denkt. (Würdest Du auch Wittgenstein weniger mit psychologisierendem Misstrauen lesen, als Du es tust, würde ich Dir hier das Schlagwort „Regelfolgeparadoxie“ zurufen können. Es würde mich jedoch nicht wundern, den Satz ach aus dem Munde einer Genschel einer Hefter, eines Breyger zu vernehmen, ebenso, wie es nicht sonderlich verwundern würde, wenn einer diesen Sätzen widerspräche) Der emphatische Bezug auf eine Realität (sei es des Autors, sei es der Realität, die das Gedicht irgendwie einfangen soll), geht für mich nur auf, wenn man als Realität auch die Realität der Zeichen mitbedenkt, die können auch Drehtüren sein, die geschoben werden müssen. Das merkwürdige an solchen Sätzen ist ja: Sie verweigern sich der Frage, wie das Kunstwerk aussehen soll, und fordern nur Eigenschaften und Handlungsweisen des Schaffenden. Ich glaube, so erzeugt man schnell Scheineinigkeit: Man proklamiert etwas und alle können sich irgendwie vorstellen, dass es irgendwie auf diese Weise tugendhaft zugehen sollte. Aber wenns daran geht, mit diesem Satz Texte zu bewerten, dann meinte jeder etwas anderes. So sind solche Sätze nicht mehr als Formelkompromisse.
Wie sich das auf Deine eigenen lyrischen Texte beziehen ließe, ist dann wieder eine ganz andere Frage ...
Polyphonie
Ich habe längere Zeit überlegt, ob ich nochmal etwas antworten/schreiben soll, denn im Grunde habe ich vieles gesagt gefragt, was ich zum Thema habe fragen sagen wollen. Da wir hier mittlerweile alleine am Tisch sitzen, könnte man auch dazu übergehen, sich darüber auszutauschen, warum wir hier alleine sitzen.
Es mag vielleicht u.a. daran liegen, daß man merkt, daß uns oftmals das gegenseitige Verständnis fehlt ( auch weil wir doch sehr in Vermutungen unterwegs sind), und daß wir aneinander vorbei spielen, wahrscheinlich zwei verschiedene Spiele.
Ich habe das Gefühl, Bertram, daß Du mich gerne verstehen würdest, aber nicht unbedingt in der Sache. Daß dein Interesse psychologisierend Hintergründe in meinen Gedanken sucht, Verhaltenslagen, die ein Bild von mir bieten, das du von mir hast. Das ist mir schon sehr oft aufgefallen, daß du Leuten Motivationen unterschiebst, die du vermutest oder für real hälst. Auf der einen Seite gelingt dir das zum Beispiel in deinem Essay „Gruppendynamik“ oft sehr gut und du entlarvst dabei viele Reaktionsprinzipien und Absorbtionsprozesse, die beim Lesen eines Textes wie Sperrmechanismen des Textes wirken, aber persönliche Chemie betreffen. Auf der anderen Seite aber ist mir dein Denken zu oft kategorial und nicht wirklich dynamisch.
Und es ist zu stark an mir orientiert, statt an meinen „Sachen“. Es beschäftigt sich mit möglichen Prozessen in mir, also einem DU, das du in mir vermutest. Zum Beispiel findet sich in deiner letzten Erwiderung vom Zentrumsrand das Wort „Du“ 35mal. In meinem Text „Orden“, auf den er Bezug nimmt und der nur etwa dreiviertel so lang ist, taucht das Wort „Du“ nur 2mal auf.
Ich möchte hier nicht über mich sprechen. Ich fühle mich dabei meist umfassend falsch wahrgenommen und kategorisiert. Auch bist Du für mich wie eine Wand, von der das, was ich sage, völlig verändert zurückkommt. Das ist kein Beinbruch, aber irgendwie hinkt es.
Nur ein kleines Beispiel: ich stelle im Schaumriff klar in Frage, und da gäbe es zig zig Zitate, ob es denn wirklich „textentsprechende Urteile“ gäbe: „Aus meiner Sicht ist das Urteil eines Spargelstechers prinzipiell nicht falscher, als das eines Litprofs, nämlich ihm entprechend.“ oder: „Der Bericht über das Lesen eines Buches ist ein Reisebericht.“ Wenn man das alles nur halbwegs konsequent weiterdenkt, kann man dahinter eine Meinung entdecken, die sagt, die Begegnung mit der Lyrik/Literatur ist eine hochspezielle und hochindividuelle, sie ist persönlich.
Betrachtet man dazu die Aussage, es gibt „sehr verschiedene Leserkreise und Gruppen, verschiedene Hallräume für verschiedene Lyriken und es wäre anmaßend, bei allen mitreden zu wollen und zu meinen, man könnte alle gleichmäßig beurteilen“ (und dieser Satz stammt von dir), so stellt man fest, daß unser beider Sichtweisen zusammen sehr wohl geignet sind, Marquardts Begehren (Achtung: du schreibst ihn ohne Abschluß-t – ich wurde für so eine Falschschreibung von Yevgeniy abgemahnt!) nach „fachgerechter Rezension“ in seiner wirklichen Problematik darzustellen. Eigentlich sagen wir beide: es gibt nicht „das Urteil“ und es gibt nicht „das Maß“, es gibt also auch nicht „das Gültige“. (Das stellst du selbst nochmal klar heraus, und willst es mir aber gerne zurück- und unterschieben, als wäre ich der konservative Knochen.) Man kann Gedichte nicht „ordentlich abhandeln“.
Vergiß jetzt mal, daß dieses letzte Zitat von Breyger stammt. Es scheint zumindest die Idee zu geben, daß man auf eine gewisse Weise über Gedichte reden kann, sogar professionell über Gedichte reden kann. Ich habe schon Rezensenten gelesen, die den Bestand an Vokalen in einem Gedicht abzählen, sie mit wahllos zusammengesuchter Klassik vergleichen und von daher seitenlange Beweisführung betreiben. Ob das geglückte oder unglückliche Versuche sind, sei mal dahingestellt. Es gibt wahrscheinlich so viele Näherungsweisen und Sageweisen, wie es Menschen gibt. „Eine Polyphonie von Ansätzen“, schreibst du.
Genau das ist es, was ich verteidige und ich gehe so weit, zu behaupten, daß ein Literaturstudium nicht mehr sein kann als eine Zeitinsel, in der man Näherungsweisen und Sageweisen kennenlernt und sich eigene Zugänge entdeckt. Eine Zeitinsel, die AutorInnen außerhalb sich abknapsen müssen und ebenso LeserInnen. Keinesfalls ist ein Literaturstudium ein Nachweis über Talent oder Befähigung, sondern eher ein Hinweis auf Neigung und Interesse. Eine „Professionalisierung“, das wirst wahrscheinlich du intensiver darstellen können als viele andere, geschieht dort nur insoweit, daß Zeit bleibt, um Literatur zu betreiben. An der eigentlichen Polyphonie sollte sich dort nichts ändern.
Und doch geschieht dort etwas, was man vielleicht als Teilen beschreiben könnte (ich stelle mir das alles so vor – ich habe keine Ahnung, ob es so ist). Man lernt die Mitteilung. Ein Miteinander im Teilen von. Insofern kann ein „ordentliches abhandeln“ für den gelernten Mitteiler heißen: das Miteinander im Teilen von. Und insofern kann eine Professionalisierung von Lyrikkritik hintergründig dasselbe heißen sollen. So verstehe ich Marquardt und so verstehe ich Breyger.
Als autodidaktischer Solist habe ich ein Problem beim Miteinander. Vor allem beim Herzeigen von. Ich stehe ungern im Blickpunkt, ich will gar nicht dabei sein, wenn ich den Moment eines Gedichts teile, das verunsichert mich zunächst und fordert dann immer große Energien im Hintergrund alles Krumme wegzurechnen. Manchmal falle ich dann einfach zusammen – wenn die Rechnung kollabiert. Lyrik ist für mich gerade typischerweise eine Beschäftigung, in der ich alleine in einer Situation stehe, sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben. Ich finde, da hat niemand anderes etwas darin verloren. Lyrik ist eine Sache, die ich mit mir selber ausmache und gerade das macht es spannend. Und ja, manchmal sind es persönliche Reservate und „Überlebensgegenstände“, wie du schreibst. Es überrascht mich solche emotionalen Zugänge bei dir zu finden, aber es ist wie mit den peinlichsten Lieblingsliedern (bei mir ist es „Wonderful Life“ von Black), man hat sie, aber man verrät sie nicht und nach außen grinst man über „die Emotionalen“.
Da ich meine Gedichte mit mir selber ausmache, ist es mir eigentlich auch wurscht, was andere damit tun. In dem Moment, wo ich mit einem Gedicht einverstanden bin, ist es mir egal, was andere dazu sagen. Hinter der megatoleranten Attitüde, jeder Leser dürfe mit dem Text machen was er wolle, steckt eigentlich genau das: mir ist es eh wurscht, was du davon hälst. Und gottseidank ist es so. Es zählt nur das 1:1 mit dem Gedicht, mein Einverständnis mit dem schreibenden Ich und seinem Text. Mehr braucht es nicht. Späterhin ist es das lesende Ich und der Text, dann wird es quasi noch einmal – im Leser - neu geschrieben, aber dann gehört es schon nicht mehr mir und es kann wirklich in jede Gestalt nach überallhin.
Ein Grund für mein Problem Gedichte zum „Gegenstand“ zu machen, ist die Frage nach dem Licht. Welches Licht wirft man drauf, welche Wellenlänge nutzt man, aus welcher Perspektive. Es gibt da keine Gültigkeit, sondern Umrisse festigen sich, wenn man möglichst viele Blickwinkel einnimmt und Frequenzen versucht. Ich bemühe immer die Statue, die vor einem steht. Von einem Standpunkt aus kann man sie nicht wirklich erkennen, sie kann in ihrem Rücken den Dolch verbergen. Man muß drumherum gehen und sie von allen Seiten betrachten.
Zurück zu uns: Misswollende Interpretation, wie du sie bei mir zu finden glaubst, finde ich auch bei dir zuhauf. Und beide sind wir nicht frei von „schlechtem Lesen“. Daß ich mir Leipzig ganz anders vorstelle, als du mir unterschiebst, kannst du vielleicht innerhalb dieser Zeilen erkennen (ein unparteiischer Leser kann es). Ich denke nämlich nicht, dort gäbe es Literaturgespräche nur nach einer Maßgabe (und das ist auch nirgends von mir so gesagt). Das ist ein weitergedachter Gedanke von dir. Ich denke, daß Literaturgespräche ein Maß suchen.
Was vielleicht schon verkehrt ist, weil es nicht das eine Maß gibt. Das könnte auch ein Thema sein, daß erlerntes Sprechen über Literatur „maßgeblich“ sein zu können vorgibt, bzw. erwartet wird, es könne maßgeblich sein. Zumindest für das Tun an sich, das Sprechen über Literatur, gäbe es ein Maß, eine „ordentliche“ Herangehensweise. Die Art und Weise wie man über Gedichte zu sprechen hat, unterliegt– so vermute ich - Mindeststandards, wie sie z.B. in der Lyrikzeitung aufgerufen werden, wenn man von Lokalredakteuren Spezialwissen fordert. Gerade Du, der hier bekennt, daß es nichts „Gültiges“ gibt, bist einer derjenigen, die Bedingungen für Gültigkeit definieren: zuerst müsse man dies und jenes bedenken, habe zu kennen, müsse hinterfragt haben daß, bevor man sich überhaupt ein Urteil erlauben dürfe. Gratz argumentiert oft ähnlich.
Ich mag das nicht. Ich mag nicht, wenn man mir sagt: bitte fass mich nicht an, wenn du nicht dieses oder jenes nachweisen kannst. Ich mag eher, wenn man mir sagt: fass mich an und sag mir wie es sich anfühlt.
Im Moment sitze ich hier mit einem wie verschraubten, viel zu kompakten Kopf. Es ist wieder Sonntags. Jetzt 11 Uhr. Es fliegt Kopfweh heran (ich spiele hier nicht das Gut Gesundheit gegen das „kleine Thema Gedicht“ aus, Bertram, so wie du meine Bemerkungen über den Amoklauf in München depositioniert hast, was ich absolut geschmacklos fand – und dann die Bermerkungen über die Moderne in literarischen Bezug setzt, obwohl von mir – sehr deutlich - gesellschaftspolitisch gemeint), sodaß ich mal probiere, es wegzudämmern. Immerhin bahnt sich ein strahlender Sommertag an und da könnte man erste Zwetschgen dieben und nochmal im Main schwimmen.
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