Notiz

Schaumriff

Aufgesattelt und losgeritten? Es blieb nicht verborgen, daß es Diskussionen gibt. Mancherorts wird es genutzt, um kleine Abrechnungen einzustreuen. Ioana Orleanu schreibt bei Faustkultur:

Sprachkunst, Arbeit am Wort, Rhythmik – wunderbar. Bei all dem Wohlklingenden aber, mag es noch so assoziativ, maritim, botanisch oder assonant daherkommen, muss man sich dennoch fragen (lassen…), ob jemand damit etwas anfangen kann. Wen erfreuen inflationär produzierte Abstraktionen wirklich? Wen erwärmen snobistisch-solipsistische Hermetismen auf lange Sicht? Wenn Lyrik nur noch bewusst vernebelt und nie mehr klärt (ah, dieses vermaledeite Gebot der Postmoderne: ein Irrweg, eine Krankheit!), wenn sie sich nur allein mit sich selbst unterhalten will, dann geschieht es ihr eigentlich recht, dass sie schwer zu pflegen und zu vermitteln ist.

Hergekommen ist die Diskussion allerdings von wo ganz anders, und ich möchte sie gerne dorthin zurückbringen: Die Perspektiven und Ausblicke, die erarbeitet wurden, die Selbstkritik, die existiert – das sind Dinge, die man sich jetzt nicht kaputt reden lassen soll. Machen wir einige kleinen Schritte zurück in den von Tristan Marquardt diagnostizierten öffentlichen Umgang mit Gedichten:

Wer ihn aufmerksam verfolgt, wird unschwer feststellen können, dass sich die Lyrikkritik in einem beklagenswerten Zustand befindet. Ihre Verstreutheit, thematische Kontingenz und Qualität stehen in krassem Widerspruch zur kaum zu verkennenden Produktivität und Vielfalt der Gegenwartslyrik selbst. Weder kann sie abbilden, was sich in der Lyriklandschaft zurzeit alles tut, noch bewegt sie sich – bis auf einige Ausnahmen – inhaltlich auf ihrem Niveau.

Was geschieht aktuell in den „modernsten“ Bereichen der Lyrik? Welche Betrachtung von welcher Ebene aus wird dem Geschehen gerecht? Gibt es überhaupt Gerechtigkeit im Blick auf die Lyrik? Tristan Marquardts Beschwerde klingt hier für mich so, als gäbe es zwar die neue Lyrik, aber nicht die adäquate Kritik. Er schreibt:

Prinzipiell gilt, dass kaum eine Hand voll aktiver Rezensent*innen sich mit der neuen Lyrik so gut auskennt wie die Mehrzahl der Lyriker*innen selbst.

Das liest sich für mich wie eine verdeckte Vorschrift, wer denn die neue Lyrik überhaupt besprechen darf, nämlich ausschließlich der, der sich mit ihr auskennt. Sonst hätte ich vorgeschlagen, nehmen wir ein Gedicht ins Zentrum und gruppieren Menschen unterschiedlichster Herkunft (im allerweitesten Sinne) um es herum. Was hat welcher Mensch zu diesem Gedicht zu sagen, was fällt ihm auf, wo fühlt er sich und seine Gedanken hingelenkt? Ich gehe jede Wette ein, daß man ein Gremium installieren könnte, dessen Einzelurteile extrem konträr ausfallen müssen. Vor allem, wenn man irgendeine gesellschaftliche Breite abdecken wollen würde. Der Schlosser aus meinem Betrieb käme vielleicht noch mit Bukowski irgendwie klar, der Controller womöglich mit Rilke und der Maschinenbediener mit Julia Engelmann (tatsächlich so geschehen: Schichtarbeiter in der chemischen Industrie, mittleres Alter, doppelte Portion, frisch rasierte Glatze, zeigt mir auf seinem iphone jenes youtubevideo von ihr, aus dem Bielefelder Hörsaal, welches sie in die Popularität katapultierte) – als Gremium für moderne Lyrik würde diese Mannschaft vom Standpunkt des Dichters aus versagen, wenn es sein „nachvollziehbares“ Urteil fällt: der Dichter solle mal zum Arzt gehen. Als Gremium zur Abbildung der Wirkflächen moderner Lyrik in der Industrie wäre es eine recht stimmige Auswahl.

Wo beginnt das „passende“ Gremium? Wo enden „persönliche“ Wertungen und subjektiven Urteile? Selbst eine Gruppe allseits anerkannter LyrikerInnen wird individuell unterschiedlichste Urteile fällen, und aus ihrem Votum wird letzten Endes nicht die „richtige“ Einschätzung entstehen, sondern der gemeinsame Nenner. (Aus solchen Einigungsdrücken profitieren in Wettbewerbssituationen sehr oft die mittleren Figuren, während die häufig viel interessanteren Extreme hintunter fallen. Bei der Beurteilung nur einer Sache führt der Einigungsdruck bisweilen zum Allgemeinplatz oder zur Belanglosigkeit.)

Wenn man nun ein Gremium installierte, das man breit mixt, wird man eine entsprechend breite Beurteilungsvarianz finden und steht vor dem Marquardtschen Problem – wer darf/sollte/könnte ein gültiges Urteil sprechen? Wer darf betrachten und wer wird befragt?

Die Lyrikpolizei sagt, Redakteure in regionalen Zeitungen taugen nicht für gültige Urteile – deren Äußerungen werden/wurden bspw. in der Lyrikzeitung regelmäßig als amateurhaft und nicht gebildet genug entlarvt. Kuckt mal, was schreiben die fürn Scheiß. Kennen sich noch nicht mal aus und wollen sich ein Urteil erlauben. Und schwimmen in ihrem Urteil in Sichtweisen von vorgestern.

Also Regionalzeitungsredakteure gehen gar nicht.

Wer noch? Kuratoren, Laudatoren, Kulturbeauftragte, Redakteure, Jurymitglieder – die sind lyrisch meistens noch so hinterm Mond, das geht auch gar nicht. Zeitschriftenmacher, Verleger, Lektoren, Volontäre, alle irgendwie mit Stallgeruch. Also laß uns in der Nische selbst suchen: da gibt es Schreibende, über die geschrieben wird und Schreibende, über die nicht geschrieben wird, die aber über andere schreiben. Es gibt also das heldische Personal und das dienende|dienstleistende. Und die, so meint Marquardt, gilt es zu kritisieren, daß sie ihren Job nicht richtig machen, daß sie jenen Helden nicht hinterherkommen, die sich im unbekannten Terrain nach vorne kämpfen – Avantgarde halt: hey, ich bin hier vorne! Wenn du mich sehn willst und richtig beurteilen, mußt du hierher.

Das ist eine entscheidende Geste: um den Lyriker von heute zu finden, muß man ihn aufsuchen. Es ist keineswegs so, daß er zu dir kommt. Er betreibt batteriebetriebene Toaster, bezieht sich dabei auf ein privates Leseerlebnis und sagt: er will damit nichts sagen. Man kann das nennen: Die heimliche Rückkehr ins Private oder Das heimliche Sagen.

Ich kann mich an eine Szene dieses Jahr auf der Leipziger Buchmesse erinnern, wo einer Kritikerin offenbar wurde, wie die von ihr geschätzten Gedichte tatsächlich entstehen, nämlich vor dem PC mit einer unglaublichen Menge inspirierender Tricks und Sprache erzeugender Mechaniken und Techniken. Sie war erstmal geschockt, denn für sie entstanden diese kuriosen Sprachgebilde noch immer mit Kopf, Papier und Stift und der Befund, ganz andere Talente dahinter zu entdecken, nahm ihr offensichtlich viel des vorherigen Respekts und der zuvorigen Begeisterung.

Daß in Gedichten sich „Spracharbeit“ versteckt, die komplett am Instrumentarium hängt und nicht mehr am Faktor Mensch allein; daß Inspiration heute sehr oft nur noch kurioser und ausgefeilter Serendipität geschuldet ist (übrigens auch bei vielen meiner Texte, ich liebe es!), war für die Dame eine Enttäuschung, und das zuvor ausgemachte Genialpoetische plötzlich nur noch pragmatische Raffinesse.

Ich persönlich finde die „Mittel der Zeit“ im persönlichen Schreibprozess so unterstützend, einzigartig weitgreifend inspirierend, daß ich ohne sie mittlerweile kaum mehr als langweilige Skizzen schreiben kann (was ja immerhin eine erste Stufe ist). Würde das also unbedingt verteidigen. Ich bin hier ganz bei Tristan Marquardt, der in einem Interview darüber schreibt,

… nicht nur zu sagen, dass man nichts mehr erkennen kann, sondern, dass man trotzdem weiterspricht. Und dass das nicht heißt, dass ich einfach nur wild mit Material um mich werfe, und das auf eine möglichst lustvolle coole Weise mache, sondern dass ich mir so viel Mühe gebe, dass ich wiederum eine Struktur gewinne, die exemplarischen Status hat.

Das ist für mich das Ende der Dekonstruktion, und zwar durch ihr Überwinden. Hier kommt man zu etwas Neuem nicht durch Zerhauen und mit Hilfe des allerletzten Zweifels, sondern durch Kombination. Der Franzose sagt übrigens comprendre, wenn er Verstehen meint, und das bedeutet doch eher ein Zusammenfügen, auf-die-Reihe-Bringen, las ich neulich in der Lettre.

Aber für mich war auch bspw. der batteriebetriebene Toaster, den Yevgeniy Breyger in seinem Band betreibt und den er sich aus einer Verszeile von Martina Hefter entwickelte, eine merk|würdige Offenbarung: zum Einen wedelt da jemand mit dem Mannschaftstrikot (ich spiele in der kooks-Liga) und zum Zweiten demonstriert er eine befremdende Gewißheit: es kommt auf nichts mehr an – ich kann in einem Gedicht wirklich alles veranstalten, das braucht niemand mehr in irgendeiner Art und Weise nachvollziehen zu können – Hauptsache, es klingt interessant und sieht gut aus. Wenn ich gleichzeitig versichere, jeder dürfe sich ohnehin denken, was er wolle, bin ich als DichterIn aus dem Schneider. Das hat etwas von Beliebigkeit und extremer Verschlossenheit gleichzeitig.

Ich persönlich halte das bei manchen KollegInnen für drückebergerisch und unfair. Ein Text führt, dafür ist er Text. Ein Text leitet und verleitet. Text ist kein Schaum. Es sei denn ein Schaumriff, wenn es das gäbe, auf dem man aufläuft und die Nase vollsumpft. Es ist die Eigenschaft von Text, unser eigenes Sprechen anzusprechen, indem er Sprache ausspricht. Die clevere Argumentation, daß der Text nicht schuld ist, wenn ich mich irgendwohin (ver)führen lasse, ja im Gegenteil, daß genau das der Text mir zeigen will, wie verführbar ich bin, ist ein unsauberes Spiel nach dem Motto: „Ich zeig dir was, aber daran, wie du drauf anspringst, bist du selber schuld. Ich will nicht, was du draus machst. Noch weiter gedacht: „Mein Sprechen spricht für sich, nicht für dich. Der Rückzug in ein extrem privatistisches Spracherleben oder eine extrem mechanistische Sprachkonstruktion ist immer auch ein Rückzug vom Sprechen. Oder sagen wir eine Umleitung. Man kann/könnte Sprachartistik auch betreiben, indem oder während man spricht.

Es ist für mich eine Höchstschwierigkeit, die Ratlosigkeit, die ich beim Lesen mancher AutorInnen zunächst erlebe, so zu überwinden, daß ich mich nicht verarscht fühle. Ich muß dem Texterzeuger vertrauen können, daß er nicht mit mir spielt oder mich instrumentalisiert, daß er mich nicht auf eine extra kurvige Strecke schickt, die mir nur die Reifen ruiniert, oder sogar in eine Sackgasse. Am Ende habe ich ein Buch gelesen, das mir zeigt, wie man „es macht“, aber es hat mit mir nichts gemacht. Falls das mein Anspruch ist. Falls ich die altmodische Basis vertrete, daß Sprache etwas mit mir macht. Tatsächlich ist das mein persönlich Antrieb, Gedichte zu schreiben und zu lesen – ich will sehen, was Sprache mit mir macht – und sie muß/darf/kann von sonstwoher kommen. Ich bin eigentlich nur ein Kristallisator (in der chemischen Industrie: dort ordnen sich die Moleküle und machen aus unspinnbarem transparenten Material spinnbares undurchsichtiges Polymer), und was dort reinkommt sieht komplett aus wie zufällig, entstammt aber komplett meiner Lebensbegegnung. Das ist hochindividuell. Wie anders als absolut individuell und persönlich kann ich also ein lyrisches Werk wie das von YB oder TM beurteilen?

Welches anderes Urteil als stets ein höchst persönliches erwartet TM? Aus meiner Sicht ist das Urteil eines Spargelstechers prinzipiell nicht falscher als das eines Litprofs, nämlich ihm entsprechend. TM meint aber, es ist nicht textentsprechend. Geht das denn? Ein textentsprechendes Urteil, eine Aussage, die explizit zum Text passt, sozusagen die wissenschaftliche Beschriftung des Balgs? Ich denke nein, genauso wie Text ohne Texter nicht geht, selbst wenn ich Worte erwürfele.

Tristan Marquardt heißt übrigens gar nicht Tristan Marquardt, sondern das ist so etwas wie ein Künstlername. Er gehört einer Generation an, die weiß, daß man als Alexander Rudolph nicht das gleiche Beachtungsniveau erzielt wie als Joschua Frauentang. TM gehört einer Generation an, die weiß, „wie man es macht“ - und er wünscht sich jetzt eine Kritik, die das nachvollziehen kann, was er macht.

Ich würde mich freuen, wenn er diese besonders befähigten Kritiker finden würde. Am ehesten wahrscheinlich in seinem Zirkel, weil ich für mich zumindest sagen könnte, daß ich mich seinen Texten nur ungern anvertraue. Zu oft fühle ich mich auf dem Holzweg und ich weiß, daß es vielen aus meiner Generation ähnlich dabei geht. YB hat das erst kürzlich ungewohnt drastisch erfahren müssen, wie sehr Ratlosigkeit kein guter Ansatz für eine fundierte Kritik ist. Das ist einfach so und man kann kein Verständnis herzaubern. Besonders wenn man betont, daß es nichts zu verstehen gibt (denn es gibt mehr als genug zu verstehen! – es ist immer sehr unglücklich Verstehen als nicht wesentliches Kriterium auszustreichen, denn Komposition will und braucht comprendre. Wer da noch an Stolterfohts altem Diktum festhängt, das einen völlig veralteten Begriff vom Verstehen verwaltet, kann nicht auf Verständnis hoffen). Dabei kann unser Körper Rhythmus verstehen und unsere Haut Wasser und wir können jeder Dynamik antworten, und ja, richtigerweise seit jeder Steinzeit.

Soweit ich verstehe, gibt es in TMs background aber eine große Gruppe LyrikerInnen namens G13, da gäbe es vielleicht Personal, das anzusprechen und zu ermuntern wäre, DIE adäquate Kritik zu schreiben?

Ideal wäre es natürlich die heldische Abteilung einmal selbst zu verlassen und die dienende dafür aufzusuchen, sprich: selber eine Rezension, eine Literaturkritik zu schreiben, in der Art, wie man sie sich für sich selbst erhofft. Es gibt gut etablierte Kanäle, die dafür absolut offen sind.

Das macht richtig viel Arbeit und man kriegt dafür nichts (außer Ärger). Man wird sterblich. Hinter einer guten Kritik ist der Mensch erkennbar, gibt es Positionen, Betrachtungsräume, Perspektiven. Man sollte es probieren - man verliert garantiert, während man Kontur gewinnt. Die Etiketten flattern nur so herbei und man kriegt die Seuche und wird nur noch heimlich geliked. Nur Mut, Tristan, das läßt sich alles überleben. Die Lyrikpolizei drückt auch oft ein Auge zu, immer mehr, immer öfter. Besprochene AutorInnen, die man kritisiert, werden deinen Namen nicht mehr nur respektvoll im Zirkel kreisen lassen oder – noch wirkungsvoller – nie mehr in den Mund nehmen. Das wird vieles verändern. Vor allem das Erscheinen deines nächsten Bandes wird von Revanchegelüsten begleitet und das Buch eventuell spektakulär öffentlich vernichtet. Aber das macht nichts, revanchegeplagte AutorInnen sind die wahren Helden.

Verheißungsvoller finde ich einen anderen Ansatz: Macht die Rezension zu einer Kunstform, sprengt die Vorstellungen davon, was eine Rezension sein soll, haben muß, andienen kann. Bewegt euch weg von den Helden, die auch nur Menschen sind. Seid Mensch unter Menschen und sagt, wie es sich anfühlt im Text zu sein. So ähnliche Slogans könnte man dem vielerorts gelobten „Poetisiert euch“ benachbarn. Öffnet die Texttüren! Tourt mit den Texten! Vom Offenen verhext und vom Hoffen versetzt! Besprecht das Sprechen des Andern! Ändert die Sprache der Welt!

Und wieder ganz im Ernst: Mir gefiel besonders die Typisierung von Charlotte Warsen, die uns zwar noch nicht die neue Kritik zeigt, aber die alte, wie sie versucht das Neue zu fassen, und damit immerhin Kritik dort entlarvt, wos besser ginge:

Was die Formen der Besprechungen angeht, sehe ich 3 Tendenzen, die ich problematisch finde, und in der Lyrikkritik mit besonderer Hingabe betrieben: die sich-am Riemen-reißerische Kritik, die in ihrer eigenen Deutungsunsicherheit ostentativ und against any interpretation herumsuhlt und damit immer wieder eine Vorstellung weitgehender Unverständlichkeit von Lyrik zementiert. Desweiteren die schizoid freidrehende, als Kritik und manchmal auch als Poetik getarnte, Paralyrik, die den zu besprechenden Texten, unter impliziter Berufung auf die prinzipielle Unverständlichkeit des Universums, ein eigens angefertigtes Wirrwarr zur Seite stellt, anstatt an irgendeiner Stelle auch nur versuchsweise von der Seite her einzuhaken, sowie, drittens, die Rezension im Modus der Regierungssprecheransage („verkünden statt begründen“, „Wir sagen hier nichts, aber wir sagen es scharf und bestimmt!“).

Der Bericht über das Lesen eines Buches ist ein Reisebericht. Der darf gestaltet sein, wie er will. Welche Ansprüche der eine oder andere an Literaturkritik auch stellt – man sollte nie vergessen, daß es die Reise des anderen ist. Es geht nicht um das Buch, und nicht um den Schreiber des Buches, sondern darum, ob und wie sich die Reise für den Lesenden gelohnt hat. Vielleicht fehlt da Ausrüstung, Ausdauer, Schuhwerk, vielleicht gibt es falsche Erwartungen – prinzipiell ist eine Rezension die persönliche Auskunft über Gelingen oder Mißlingen einer Begegnung mit einer Gangart, einer Bewegung auf fremdem Gebiet. Wer das Persönliche aus dieser Textform draussen haben will, braucht keine Leser. Und wer sich persönlich beim Reisen beobachten lässt, muß damit rechnen, daß er nicht ankommt dabei.

Es gäbe genug mögliche Rezensenten, von denen ich gerne eine Besprechung lesen würde, die aber bislang clever genug sind, sich nicht ihre likes-Quote zu versauen. Wahllos und rasch ein paar Männernamen: natürlich Tristan Marquardt, Ulrich Koch, André Rudolph, Tom Bresemann, Norbert Lange, Björn Kuhligk, Richard Duraj … alles gestandene Lyriker (und ach ja, Michael Gratz, der kein Lyriker ist, aber alle Kritiker bekrittelt, der sollte auch mal ein paar proofs ablegen), von denen man kaum/keine ausführlichen Wortmeldungen erhält, wenn es um die Bücher anderer geht. Die Aufzählung kann weitaus breiter weitergeführt werden. Es sieht fast so aus, als habe man im Allgemeinen Angst vor einem Profil, das sich im Netz verselbstständigen könnte. Ein paar Kurzstatements im halböffentlichen Bereich, intelligenzabbildende Lebenszeichen per Kommentarfunktion, den Rest sollen die Cottens, Engelhardts, Hartzens und Vasiks (um mit Frauennamen auszugleichen) dieser Welt erledigen.

Ich fürchte den Gedanken, daß man die Fähigkeit zum kreativen offenen Meinungsaustausch längst verloren hat. Schludriges Lesen in vorurteilbehaftetem Denken begegnet mir viel zu häufig, als das es kein Symptom sein könnte. Auf allen möglichen Etagen: ob das Jurymitglieder renommierter Preise oder gutbezahlte Kolumnisten hochklassiger Journaille sind. Oder Kollegen bei fixpoetry (mich inbegriffen). Wenn es die Fähigkeit zur prinzipiellen Offenheit gäbe (und ich weiß, die gibt es), gepaart mit der Eigenschaft, am Tisch zu bleiben, wenn es ernst wird, dann wäre auch eine andere Kritik möglich, denn dann wäre ein Fehler kein zu proklamierender Makel, sondern die Chance zu einer gemeinsamen Annäherung an „die Wahrheit“ (die auch der Diskurs an sich sein kann, das Berichten der Perspektive).

Das Blöde ist, man sitzt nicht gemeinsam am Tisch. Wir schreiben das Jahr 2016 und jeder ist in seinem eigenen Raumschiff unterwegs.

 

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