Dienstag, 2. September 2014

Der Ort der Nacht

Der Ort wirkt friedlich aber leer. Die Kulisse steht seit Jahrzehnten unverändert. Wenn es je ein Geisterdorf gegeben hat, dann ist es Schwarzenhammer, zu unwichtig, um erneuert zu werden. Aufrecht erhalten durch die Erinnerung der Fortgegangenen und vielleicht sogar der Toten, die ihre Energien hier zurückließen. Den Koffer des Lebens, das sie führten. Sie können zurückkehren, wenn ihre Häuser noch stehen, wenn es einen Gegenstand gibt, mit dem sie nun verschmolzen sind. Sie benötigen ihre Nachfahren nicht, keinen trauernden Verstand, der sie nicht losläßt. Der Körper ist nur die Flasche des Dschinn. Was sie brauchen ist das Tableau, eine Anordnung von Bauwerken, Straßen, Gassen, Wegen. Wie bei einem Tresorzahlenschloß werden dann die Korridore geöffnet, zeitenunabhängig, in beide Richtungen begehbar.
Die Vergangenheit sitzt gerne in ihrem alten Lehnstuhl, um das Treiben zu beobachten, das sich um die Zukunft dreht, um das Ausweiten von Raum durch Bewegung. Kindheiten tauchen auf, nachtbehemdet, wie ein Schock, nicht nur wie eine Brise. Die Nacht ist ein lebendiges Beben, die Spechte holzen sich fort und rattattern ihre Schnäbeläxte in die Baumhemden, die sofort damit beginnen, zu golden. Was vom eigenen Blut in die Erinnerung packen: Bin das wirklich ich?
Ich trinke aus der hohlen Hand. Hinter Glaswänden liegt verborgen der Tag in Ruinen, dieser unvergängliche Tag. Sonnenstrahlen, von Schatten gebremst.  Reißzähne, als wäre der Tag eine Illusion der Nacht. Ich habe keine Erinnerung an mich, nicht so, als hätte ich mich nie gekannt, auch nicht so, als hätte ich mich vergessen, sondern so, als sei ich vor langer Zeit gestorben und nur eine zerrissene Seele zeuge noch von mir. Die Hälfte, die an mich denkt, die Hälfte, die an die Hälfte denkt, die an mich denkt. Leben voller Halbheiten, Halbzeiten, fällt mir auf, daß alles hoffnungslos, nichts mehr getan werden kann. Ich trinke aus der hohlen Hand als tränke ich mein Leben.
Also war schon wieder eine neue Tageszeit angebrochen (mit erstaunlich viel Bewegungsfreiheit). Der stille Tisch voller dampfender Teller. Also lehnte ich an der Brüstung meines Balkons, fühlte mich so groß wie der einzige Baum. In der Luft schwebten Paradiesgeister, betörten mit einer Sprache des lockenden und unerreichbaren Glücks, an dem der Mensch stirbt, wenn es nicht gemein, alltäglich, abgenutzt ist. Wer die Schönheit angeschaut hat mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben. Ich war bereits homerischer Heros, die Hetäre Aspasia, der Kyniker Krates, war König und Bettler, Pferd, Dohle, Frosch und mehrmals ein Hahn.

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