Freitag, 26. September 2014

Mondschild -part zwei-

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Es ist still im Zimmer, dreckiges, orangenfarbiges Licht dringt durch das verschmierte Fenster über dem Bett, um sich im ganzen Raum wie ein giftiger Dunst auszubreiten.

„Sie war hier!“ Adams eigene Stimme, die sich anhört, als käme sie aus dem Trichter eines Grammophons. Er nimmt erneuten Blickkontakt mit der leeren Stelle neben sich auf, berührt in der Hoffnung einer plötzlichen Materialisation das Laken, bildet sich ein, ihre Körperwärme dort noch zu spüren.

Sie hat die Tür geschlossen, wie sie das immer tut, mit der gleichen Sanftheit; die berührte Tür, das verlassene Ich, die überflogene Treppe nach unten, hinein in die schlechte Luft, zu Schildern und Laternen. Das Licht ist ein Ersatz für ihren Körper, der es verdient hätte, nackt durch die Lüfte zu schweben, frei von allen Konventionen des Fleisches. Wenn sie nicht hier ist, dann ist sie diese Frau, reines Hirngespinst, Traum, Einbildung.

Die Welt ist ein merkwürdiger Ort, wir erfinden nur, was schon immer da war. Das Geheimnis des Alterns hängt mit unserer Programmierung zusammen. Jeder Tag, jedes Abenteuer behält sich ein wenig Energie von uns zurück. Erinnern wir uns, holen wir die Energie zurück, so wie man einen Koffer zurückholt, den man absichtlich zurückgelassen hat. Aber das Erinnern selbst ist nur das Erfinden von Erinnerungen.
Menschen sind ungewollte Schatten. Sie geistern über die Erde, die selbst nur vage Umrisse hat.
Wenn er hier in diesem Bett liegenbliebe, was würde dann in der Zwischenzeit mit der Welt geschehen? Wenn er sich nicht bewegen würde, keinen Wind erzeugen, wenn ihn niemand sehen könnte, niemand vergessen müßte?

Drückt man ein Kaninchen unter Wasser, erhebt sich das Volumen über sein eigentliches Niveau, nimmt die Masse der Materie ‚Kaninchen‘ auf.
Auch wenn es unbedeutend scheinen mag: wohin dehnt sich das Universum aus mit mir darin?

Als sie ging, zerriß die Zeit. Es hörte sich an, als würde ein Reißverschluß neben meinem Ohr entweder geöffnet oder geschlossen, und von diesem Zeitpunkt an war ich allein. Aber ich bin wieder eingeschlafen; ich bin wieder eingeschlafen, und nur deshalb bin ich verwirrt, natürlich war sie da, ich kann mich schließlich daran erinnern, diesmal war sie da!

Er betastete seinen Schwanz, zog die Vorhaut zurück und rieb seine Eichel mit Daumen und Zeigefinger ab, bevor er daran roch. Es waren die üblichen Bocksgerüche (odores hircini) der Zersetzung von Samen- und Vaginalflüssigkeit, die er schnupperte, und die er dann am Laken abwischte.
Sie ist unsichtbar wie alle guten Dinge, aber auch, wenn sie unsichtbar ist, heißt das noch lange nicht, daß sie keinen Körper besitzt. Hier ist sie unsichtbar, draußen ist sie irgendwo, niemand weiß, wo. Sie würde allerdings behaupten, sie wisse es ganz genau, sie würde sagen: „Ich befinde mich gerade an der Ecke Tournelle." Sie scheint von einer erstaunlichen Einbildungskraft beherrscht zu sein, wenn sie so schlendert, als habe sie kein Ziel, den Kopf bewegt, als beobachte sie die Menschen um sich herum, die Schaufenster, die Stimmen, das Fließen der Straße. Sie bildet sich ein, sie setze einen Fuß vor den anderen, bildet sich ein, aus dem Zimmer gegangen zu sein, um eine bestimmte Stunde, die Tür geschlossen zu haben, auf die gleiche sanfte Weise, wie sie das immer tut, einen Weg zu gehen, den sie aus der Erinnerung heraus kennt, um dann, nach einer gewissen Zeitspanne, an ein Ziel zu gelangen, das sie ganz bewußt angesteuert habe.
Ich sei hier, denkt sie, ich sei hier in diesem Zimmer und hinge den Gedanken nach, im abgestandenen Geruch der Jahrzehnte.

Von außen wirkte das Haus, als ob es in einem Zug aus der Erde gestampft worden wäre, viele Stellen unverputzt. Das wuchtige morsche Bett unter dem Fenster, das sehr kurz geraten war. Es gab zwei Koffer, seine zwei einzigen Koffer, die abgetakelten Behelfsmöbel, die allesamt nach Wurmscheiße rochen, einen Tisch mit Ornamenten an den Beinen, zwei Stühle, die nicht zum Arrangement gehörten, die wippten, einen muffigen Schrank, in dem verborgen Kleiderbügel aus Draht hingen.

Ein Schrank, nicht wahr? Darin steckt die Energie! Sie ist in Schachteln, Schränken, manchmal sogar in Töpfen eingesperrt, und Energie ist Erinnerung! Oh, es wird wahrscheinlich nur der Teufel selbst wissen, warum sich Erinnerungen gerne vergraben, dort wo es garantiert dunkel ist.

Es bewegt sich nichts, egal wie oft er zum Fenster geht und nachsieht. Es ist wie in einer Geisterstadt, kein Lärm, kein Mensch, kein Fahrzeug. Eine stille Stunde, eine verlassene Stunde.
Ich sehe hinaus, ich sehe immer nur aus allem hinaus. Aus meinem Körper, dem Fenster. Die prophetischen Winde, die an die Tür klopfen. Ränkespiele der Isobaren, Taupunkt über dem schweißgetränkten Laken zahlreicher Liebesnächte mit ihrer intimen Akrobatik, mit ihrem Kesselkrieg, der so manches Haar gekrümmt. Du stehst in diesem Traumfunkeln, stehst da, bist nackt wie der Sonnenschein, mit deinen wunderschönen Mammas, deiner Scham, wo ich hingehöre, woraus ich komme, in die ich hinein muß, will ich jemals wieder komplett sein, an deinen Brüsten liegen. Du nährst mich, deine Säfte sind meine Nahrung, sind mir Notwendigkeit zu leben. Deine Lippen sind die Kissen meines Schlafes, deine Bewegungen sind die Architektur meines Universums. Ich erinnere mich daran, wie es früher war, ohne dich.

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