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15.09.17

IF#666 - das Magazin für angewandte Fantastik


IF Magazin #666 Horror: Fünfzehn Erzählungen schlagen einen Bogen von der klassischen Geistergeschichte hin zum Horror des Realen, ohne dabei den Boden des Fantastischen zu verlassen. Mit Stories von: Adam Nevill, Bernhard Reicher, Christian Weis, Erik R. Andara, Holger Vos, Ina Elbracht, Jörg Kleudgen, Markus Korb, Michael Buttler, Michael Perkampus, Philipp Schaab, Tobias Bachmann, Tobias Reckermann, Ulf R. Berlin und Uwe Durst. Artikel: Adam Nevill, Albera Anders, Björn Bischoff, Erik R. Andara, Frank Duwald, Karin Reddemann, Michael Perkampus und Tobias Reckermann. Illustrationen: Daniel Bechthold, Erik R. Andara, Jonathan Myers, Jürgen Höreth, Peter Davey, Serhiy Krykun, Thomas Hofmann und Ulf R. Berlin.

Philosophisch in den Herbst hinein geht es mit der Sondernummer des IF-Magazins, das just ab heute zu beziehen ist. Tobias R. hat sehr viel Mühe investiert, und ich kann noch nicht beurteilen, wie die anderen Beiträge sind, da es mir noch nicht vorliegt, aber über Alberas Essay: Die Erotik im literarischen Horror, oder das Zwiegespräch zwischen mir und Tobias: Horror denken, lässt sich sagen: Es sind Statements. Darüberhinaus gibt es neben vielen anderen und stilistisch abwechselnden Stories meine Dorothea zum ersten Mal in der Endfassung. Daß ich zudem das Vorwort beitragen durfte, ist mir eine besondere Ehre.

02.09.17

Fallen

Wir lesen Worte über uns.
Geschrieben von jemand anderem.
"Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird."
Wir frohlocken.
Weil wir nicht verstehen, dass Leben in den Abständen stattfindet.
Nicht auf den kurzen Silben dazwischen.
Wir warten.

28.08.17

entfernt

Am Bahnsteig flattert ein Schirm.
Lehnt am silbernen Mülleimer
der blaue Himmel
entfernt Wolken.
Der Zug ist schnell.
Vergessen.

25.08.17

Im Stolperschritt durchs Elysium

Ich versuche der gescheckten Realitität aus dem Weg zu gehen, was mir vormittags, wenn mein Schritt noch beschwingt ist, nicht allzu schwer fällt. Sie stellt sich mir nur dort in den Weg, wo die Sonnenstrahlen feindselig durch die Baumkronen der Allee stechen. Ich umschiffe diese hell flimmernden Flecken geschickt. Melvin ist das egal. Er wandert einfach hindurch, immer die große Wiese vor den Augen, die für ihn das Elysium ist. Nicht, dass er zwischen hier und dort groß unterscheiden würde – zwischen dem Glück und dem Pfad dorthin. Er verliert seine Vorsätze diesbezüglich niemals aus den Augen. Wenn es also stimmt, dass der Weg das Ziel ist, dann ist er schon längst angekommen. Darum beneide ich ihn. Dafür liebe ich ihn.

Wie so häufig in letzer Zeit, kann ich schreiben, dass meine Tage voller Geschichten sind. So betrachtet ist dies eine glückliche Phase, die nicht zu vergehen scheint. Hin und wieder frage ich mich, womit ich das verdient habe. Aber es wird schon berechtig sein, ich werde schon irgendetwas richtig gemacht haben. Wenn ich morgens aufwache und meinen Polster ausschüttle fallen sie bereits heraus – Fragmente vieler unterschiedlicher Leben, in ihre Bestandteile zerlegte Träume, übermittelte Gedanken fremder Personen, die mich bitten, dass ich dem großen Monomythos von ihnen erzähle. Neben dem Frühstück sortiere ich sie nach Größe und Farbe, um sie später griffbereit zu haben, wenn ich durch die Welt wandere, die ich momentan zusammenleime.

Ich befinde mich wieder im Nachtspiel, im Morgengrauen bereits schreibe ich an der Geschichte über Attila und Herkules und den Mönch, dem sie das ewige Leben so schwer gemacht haben. Es ist der Eingang zu Teil zwei meiner Trilogie, die jetzt tatsächlich bald erscheint. Das offizielle Werbesujet auf der Verlagsseite bestätigt das. Die ersten Leute lesen bereits das Probekapitel, das zur Verfügung steht. Es hat begonnen. Ich sollte mich ab hier an Melvin halten, und nicht unterscheiden, zwischen dem Glück und dem Weg dorthin. Aber mein ewig ratternder Geist behindert mich dabei. Das, und die flackernde Realität, die spätestens ab Mittag sengend mit den Sonnenstrahlen auf den Boden knallt und dort heimtückisch herumwandert. Ich muss höllisch achtgeben, dass ich nicht über meine eigenen Füße stolpere, während ich ihr ausweiche. Das, was momentan meine Geschichten begünstigt, begrenzt meine Weitsicht, wenn es um persönliche Dinge geht. Es kommt eben nichts ohne Preis.

19.08.17

Schlangenbauchsprung

Heute in einer fremden Stadt. Dieser Gedanke begleitet mich bereits frühmorgens zum Sport. Aber es ist ein geruhsam vor sich hintröpfelnder Tag und es gehen sich keine zwei Kilometer im ungewohnten Becken aus. Vor allem, weil ich keine Lust dazu habe, mich über die Motivation hinaus zu schinden. Das ist sowieso ein Spiel, das man nur mit Bedacht treiben sollte.

Mittags wende ich der Welt auf dem Sofa meine verletzliche Vorderseite zu und besuche den erhebenden Ort zwischen den Träumen, an dem man überall zugleich sein kann. An dem sich die Wirklichkeiten treffen. Von wo ich auch Material für meine Geschichten mitbringe.

Nachmittags dann in einem unbekannten Café mit Begleitung. Meine Blicke schlängeln sich unwillig durch das graue Gegenlicht, begleitet vom einschläfernden Klingeln Dutzender Löffel, die gleichmäßig über Keramik kratzen. Dem Gespräch, das eigentlich an mich gerichtet ist, folge ich nur mit einem halben Ohr. Alles, was ich daraus mitnehme ist die Erzählung über jemanden, der auf eine Südseeinsel fuhr, um sich dort für teures Geld selber zu finden. „Nicht alle, die verloren sind, wandern.“, erwidere ich darauf. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Es schien in diesem Augenblick einfach nur passend.

So wunderschön schauerhaft. Der Stunden sind langsam und feucht und farblos. Das hinterlässt ein angenehm taubes Gefühl. Manchmal verlaufen wir uns unversehens im Ort und in der Zeit. Manchmal ist es pures Glück. Auch wenn wir die Reise eigentlich akribisch planten, sind wir unterwegs an einer Kreuzung willkürlich falsch abgebogen. Und ich spreche hier nicht vom Weg.

Ich habe mich beim Absprung vom Fünfmeterbrett am Morgen (mir war irgendwie danach, den neuen Turm zu erklimmen) zur Abwechslung entschieden, nicht Richtung Wasser zu fallen. Stattdessen landete ich wie auf Daunen, in einem der blassgrauen Wolkenberge. 

dahin

Straßenblick siebenter Stock
von Giebeln läuft Schnee
in die Regenrinnen
man schmeckt die Stille
dem letzten Nachtbus folgen
die Angst sitzt mir im Genick

17.08.17

Hinter den Aufbauten der Welt

Das Leben eines Geschichtenerzählers ist voller Eingänge, Durchgänge, Abgänge, geschlossener Türen und offener. Fenster, durch die man einsteigen kann, wenn man sich nur ein Herz nimmt. Manchmal auch Schaufensterfronten, auf denen fingerdick der Dreck von Jahren klebt. Dahinter stieren, zerlegt und durcheinandergeworfen, Kleiderpuppen mit leeren Gesichtern, auf denen schon vor langer Zeit die Beschichtung gerissen und abgebröckelt ist, direkt durch einen durch. Sie waren einmal weiß, aber mittlerweile hat die Sonne sie gilb gemacht.

Es ist eine Passage, die man nur durchqueren kann, wenn man den verborgenen Zugang kennt. Oder durch Zufall entdeckt. Direkt neben der lebendigen Touristenhauptschlagader einer blühenden Weltstadt.  Wenn einem das Ambiente gefällt, kann man sich zu den ausrangierten Plastikkörpern in der Auslage gesellen und leer auf die Straße starren. So tun, als gehörte man dazu. Zu allem.

Das tausendstimmige Murmeln von draußen schwirrt durch die Stille dieses abgelegten Orts. Es kann etwas Befreiendes haben, ganz nahe an der Welt zu sein, und trotzdem unbemerkt. Man kann die Umgebung völlig ungeniert beobachten. Dabei den sommertäglich flirrenden Staub tief in den Brustkorb inhalieren und sich bewusst darüber sein, dass es die Reminiszenzen längst vergessener Tage sind, was einem da in der Lunge kratzt. Kleingerieben von unaufhaltsamen Äonen. Das anschließende Husten befreit. Macht den Moment nur umso wertvoller.

An Tagen wie diesen, auf Stimmungsjagd, beim Pflücken von Hintergründen für seine Geschichten, beim Fremdsein in Geborgenheit, weiß man, was man daran hat, ein Mitteiler sein zu dürfen. Man wandert auf leisen Sohlen durch die Aufbauten und Verstrebungen hinter den Alltagskulissen und sucht sich geeignete Gucklöcher, um die Dinge aus ungewohnten Perspektiven wahrnehmen zu können. Man trägt den farbenprächtigen Strauß an Eindrucksblumen, den man sich in liebevoller Kleinarbeit zusammensucht, stets mit sich herum, um ihn bei jedem gegebenen Anlass hervorzuholen und stolz der Welt zu präsentierten.

Nun gut, vielleicht nicht der ganzen Welt. Halt jedem, der ihn sehen will. Aber immerhin.

16.08.17

Nacht und Hegemon

das letzte Licht geht aus
die Stadt entkleidet sich
trägt nur den Staub der dürren Tage
Nylon reibt an Stein ein Stöhnen
blinde Fenster blinzeln
irritiert
Hitze hält die dunklen Kreaturen
in den finstren Ecken
isoliert

(2009)

14.08.17

Die Geister im Keller

Ich weiß von einem Keller, den es nicht mehr gibt. Beziehungsweise existiert er wahrscheinlich zwar noch, aber er ist nicht mehr zugänglich. Er lag unter einem Lokal, in einer Straße, auf der ich schon lange nicht mehr gegangen bin. Bis heute. Obwohl ich eine ganze Weile in dieser Gegend gewohnt, gelebt und gearbeitet habe, kehrte ich ihr irgendwann – fast erleichtert – den Rücken. Aber das ist lange her. So lange, dass man fast schon vom Anfang sprechen kann. Der Beginn von was auch immer.

Ich sagte, ich wäre erleichtert gewesen. Das trifft es wohl am ehesten, wenn ich an meine Abkehr von diesem Ort denke. Dabei wirkte die Gegend, von der ich hier spreche, auf den ersten Blick eigentlich wirklich nett. Ruhige Gassen auf denen man im Abendgesäusel friedlich lächelnde Leute beim Flanieren zwischen golden beschienen Hausfassaden begegnen konnte. Oben. Aber unter den Häusern lagen die Keller. Rochen muffig und hatten meist nur mit baufälligen Stufen ohne Geländer und willkürlich funktionierenden Lampen aufzuwarten. Das kann man als Passant natürlich nicht ahnen. Aber wenn man dort wohnte, dann entdeckt man sie bald, in den Hinterhöfen und Séparées – die Türen, die in das untere Stockwerk führen, und aus denen einem schon beim Näherkommen die klamme Zugluft entgegenschlug.

Es waren steil abwärts führende Stufen, die man niemals betreten würde, hätte man die Wahl. Aber manchmal stellt sich einem diese Frage einfach nicht. Und ebenso wie an alles andere im Leben, gewöhnte man sich auch schnell an den Anblick da unten, wenn man ihn erst einmal oft genug gesehen hatte. Dann fielen einem die aufgebogenen Fußbodenbretter und die abgeschälten Tapeten nicht mehr auf. Man fühlte die Feuchtigkeit nicht mehr, die in allen Ritzen hauste, und einem das Atmen schwer erscheinen ließ. Und die Geister – die fahlen, durchlässigen Gestalten, die mit hängenden Köpfen zwischen den kleinen Pyramiden herumirrten und sich Gutenachtgeschichten gegen ihre Einsamkeit ausborgen wollten –  sie wurden zum Alltagsgeschäft, bei dem man sich schon bald abgewöhnte, ihm direkt in die Augen zu schauen.

Dieser eine, bestimmte Keller, dieser Limbus, von dem ich weiß, er wurde offenbar verschlossen. Dort, wo sein Zugang war, ragt heute die glatt verputze, weiße Hinterwand eines piekfeinen, jungen Architekturbüros auf. Drinnen sitzt gut gekleidetes, erfolgreich wirkendes Personal – Sorte High End Businessmaterial. Sie warfen mir heute Vormittag seltsame Blicke zu, als ich zu lange an ihrer spiegelnden Glasfront stand, und mit plattgedrückter Nase versuchte, einen Blick auf den vermeintlichen Kellerabgang zu erhaschen. Aber niemand kam heraus, um mich zurechtzuweisen. Vielleicht wussten sie ja, wonach ich Ausschau hielt. Vielleicht wollten sie daher jedes Tamtam vermeiden.

Irgendwann gab ich es auf und ging weiter die Straße hinab. Versuchte, mich wieder auf die netten Fassaden zu konzentrieren. Den Keller wieder Keller – oder bessergesagt – jetzt sauber verputze Hinterwand sein zu lassen. Dabei tat ich mir aber schwer, den Gedanken an die Geister beiseitezuschieben, die man vielleicht für immer im Keller eingemauert hatte. Ich fragte mich, ob es die kleinen, schiefen Pyramiden des Videoshops da unten noch gab.

12.08.17

Indianerweisheit

Der Spaten fährt hinab, verfehlt nur um Haaresbreite den Maulwurf, der sich im letzten Augenblick unter der Erdscholle verkriechen konnte. Am Leben. Noch.

Die Tomaten an den Büschen faulen vor sich hin. Im Sommer waren sie süß, jetzt hängen nur noch Nachzügler an den Büschen. Grünbraun, Orange und gelblich Rot. Die Disteln in den Wiesen sind riesig, wie bedornte Kelche, die versuchen, vom Himmel zu trinken. Regen, tagelang Regen, Stunden wie Wasser, durch das man zu tauchen versucht. Nicht ein trockener Knochen mehr im Leib. Aber schön langsam, alles schön langsam. Wir wären wie Wolken dieser Tage, würden wir schweben, würden wir weinen. Still und grau und fern. Wir zerlaufen zu Schlamm, wie die Blätter am Boden, flüchten uns in die Erde und träumen vom Schlaf, der mit dem Frost kommt. Der Winter scheint unser Erlöser, die Sonne der Feind, der uns hinterging, und wir, wir sind die Versehrten aus dem letzten Krieg. Zerschlissen und einsam. Wir sind fertig mit kämpfen.

Der Erdhügel vor mir wächst und mit ihm mein Erregung. Ich teile den feuchten Grund mit dem Spaten, mit den Würmern, mit den Wurzeln, mit niemand anders als mir selbst. Ich denke an die bemooste Marie-Luise, die ich gesehen habe, als ich gerade mal acht war. Ich denke an ihre tiefen, schwarzen Augen, ihre fleischlosen Lippen und das breite Grinsen, das mit dem Tod gekommen ist. Die meisten der Cowboys sind weggelaufen, konnten den Anblick ihrer Zukunft nicht ertragen. Christian, Kurt und ich sind geblieben. Wir waren Indianer. Mit Taubenfedern im Haar und Kriegsbemalung aus überreifen Erdbeeren im Gesicht. Wir waren frei, an diesem Tag. Den ganzen Tag lang. Frei.

Marie-Luise lag im Wald, wo sie gefallen war, friedlich. Sie war der Wald. Oder bessergesagt, sie wurde Wald.  Über ihr rauschten die Blätter, neben ihr tummelten sich Käfer. Ein halber Hase verschwand hinter einer Kiefer, kam auf der anderen Seite nicht mehr hervor. Wir begrüßten Marie- Luise, und huldigten ihr mit offenstehenden Mündern und glänzenden Augen. Wir waren keine Kinder an diesem Tag, wir waren uralte Wesen, in unserem Verständnis um die Dinge, in unserem frei sein, mit unseren Stöcken, mit denen wir Marie-Luises Gliedern neues Leben schenkte, mit unserem Atem, der „Ah“ hieß, zuerst, und „Oh“. Wir waren was wir sein sollte, wozu wir bestimmt wären, wenn wir lange und tief genug in uns hinein hörten. Bis die Cowboys wiederkamen, mit  Männer mit Hunden und uns Marie-Luise nahmen. Sie zudeckten, als wäre sie furchtbar, als müsste sie sich schämen, für das, was sie war, wozu sie geworden ist. Wir waren traurig, traurige Indianer, als unsere Eltern uns holten.

Wenn der Wurm klug ist, sehnt er sich nach dem Spatenstich, sehnt sich nach dem kurzen Schmerz, der den langen ablöst, der der Einsamkeit ein Ende bereitet. Er wird mehr als die Summe seiner Teile, so wie Marie-Luise, mehr!

Den viereckigen Himmel betrachtend denke ich an Peter. Der Spaten, der in Marie Luise fuhr. Nur weil er es konnte, weil es in der Natur des Spaten liegt herabzufahren. Sonst wäre er zu nichts nütze. Während die Erde von den Kanten krümelt und ich knietief liege, warm und feucht, denke ich auch daran, wie Peter mich angesehen hat, als ich ihn letztlich sah. Nach all den Jahren, die ein Leben waren. Mit seinem Altmännergesicht und den stumpfen Augen. So ähnlich, wie ein Wurm gucken würde, wenn er Augen hätte. Wie er den Hals einzog, als er aus der Trafik kam und die Straße hinabwanderte. Als würde er auf Schläge warten. Als wenn es jeden Augenblick damit beginnen könnte, Steine zu regnen.

Der Himmel ist blau. An manchen Tagen lohnt es, solche Dinge festzustellen. Der Himmel ist blau und ich kralle meine Hände in die dunkle, klamme Erde, beobachte die Wolke, die zuerst nichts ist. Dann ein Berg, ein Baum, ein Haus mit Garten, ein Teich, eine ganze Stadt, ein Ballonfahrer auf dem Weg nach Westen. Und dann wieder nichts. Fetzen und Knäul, Nebel und Schwaden.

Peters gebeugter Rücken will mir nicht aus dem Kopf. Peter, der auch mein Spaten hätte sein können wenn ich damals nicht so schnell gewesen wäre, wenn ich die Lücke im Zaun nicht gekannt hätte, durch die ich mich geschlängelt habe, seine Hände hinter mir zurücklassend. Seine nikotingelben Finger nach mir grabschend, heischend, flehend. Ich floh mit meinem Herz in den Armen, und dann war alles vergessen, waren da wichtigere Dinge, als Peter, der vielleicht nur spielen wollte, weil er sonst keine Freunde hatte. Außerdem ist da noch immer Marie-Luise, die die Lücke im Zaun wahrscheinlich nicht gekannt hatte, Marie- Luise, die Heilige, die für einen kurzen Augenblick zu unserem Tempel geworden ist, zu unserem Schlachtfeld, auf dem wir glorreich siegten. Und wichtiger wurde als Pausenbrottausch und Sommerferien, bedeutender als die wahre Liebe zu finden und seine Träume leben. Schicksalsträchtiger, als sich zu verwirklichen, sich selber treu zu bleiben und niemals aufzugeben. Schwerwiegender als jede Schlacht. Endgültiger als jene Marie Luise, die sie gewesen ist, bevor sie zu dem wurde, was wir im Wald fanden.

Je unwichtiger die Dinge werden, die einem eigentlich immer so wichtig waren, desto klarer dämmert es mir. Das Wissen aus dem Wald kehrte irgendwann wieder, kämpft gegen die Langeweile, gegen die Abgestumpftheit und schlussendlich gegen diese ganzen anderen, verfeindeten Wichtigkeiten. Die Ahnung wandelte sich zu etwas Neuem. Zu altem Indianerwissen, das mich schon einmal verließ, nur um nun erstärkt wiederzukehren. Zur uralten Religion. Die Kenntnis darum, dass der Tomatenstrauch sich nicht darum sorgen muss, dass es keinen Sinn macht, jetzt noch Früchte zu treiben, die niemals reifen können. Es ist dem Strauch egal. Warum also sollte es mich kümmern?

Ich beginne zu singen, in dem Loch, in dem ich liege. Es klingt dumpf. Der Maulwurf, streckt überrascht seinen Kopf aus der Wand neben mir und stimmt ein, in das alte Lied, das keine Sprache kennt, das nicht nur mit dem Mund gesungen wird, sondern mit allem was man ist. Mit den Augen und den Ohren, mit Haut und Gliedmaßen und Eingeweiden. Sogar mit den Zähnen und dem Haar und den Nägeln. Das Lied, das von allem handelt. Von allem, was da ist. Und von mir. Selbstverständlich auch von mir.

(ERA 2009)

11.08.17

Delokation

Dies sind die Tage der großen Korrektur. Ich muss zugeben, ich fühle mich derzeit hin und wieder etwas verloren. Daher tut es gut, mich selber in den Worten zu suchen. Und meistens auch zu finden. Es ist nicht zu unterschätzen, welcher Balsam die Überarbeitung seiner Geschichten auf die geschundene Autoren-Seele sein kann, die so knapp vor der anstehenden Veröffentlichung natürlich regelmäßig von Selbstzweifeln heimgesucht wird. Die Arbeit am Werk hilft dagegen definitiv. Auch wenn nach den langen, intensiven Sitzungen die Finger steif, der Rücken krumm und die Augen entzündet sind. Hauptsache die Seele jubiliert.

Es sind stille Tage, an denen ich es genieße, in den wenigen Minuten, die ich nicht dem Monitor entgegengebeugt verbringe, zu schweigen und für kurze Zeit nicht nach Worten suchen zu müssen. Vielleicht ist es auch gerade das, was man als Schreibender an seiner Arbeit so unheimlich zu schätzen lernt. Das alles, was man zu sagen hat, seine Zeit und seinen Ort hat. Der ausdruckslose Frieden dazwischen ist redlich verdient.

Der Sommer ist heute gebrochen. Wieder einmal. Der Regen fiel ab Mittag im seltsamen Stakkato. Er schien sich nicht richtig mit den Wolken abgesprochen zu haben. Zumindest ließ sich für mich die meiste Zeit über aus den Himmelsformationen keine genauen Rückschlüsse über sein Kommen und Gehen herbeiführen. Ich habe einen Regenbogen dabei beobachtet, wie er sich zwischendurch über die teilnahmslosen Köpfe der Passanten auf der Einkaufstrasse aufschwang. Sogar er selbst wirkte vom Timing etwas irritiert. So, als hätte er eigentlich gar nicht damit gerechnet, und dadurch prompt seinen Auftritt verpasst. Aber so fühle ich mich derzeit auch, wenn ich über die Straße wandere. Als wäre jede Häuserecke, jeder Straßenzug, jeder geschotterte Weg durch den Park, eine kleine, abgekapselte Welt für sich selbst, die es separat zu durchqueren gilt. Ich habe sogar sicherheitshalber meinen Pass eingesteckt, falls ich unterwegs in eine Kontrolle geraten sollte.

Irgendetwas ist ganz klar erkennbar in Bewegung. Ich fühle deutlich, wie sich das Bild um mich herum verschiebt und erwarte gespannt und auch ein bisschen entkräftet das Endresultat.

„…Oft begreifen wir das letzte Mal im jungen Alter, vor allem weil wir da noch über genügend Ruhe verfügen, dass die essentiellen Dinge meist im entsprechenden Licht betrachtet werden wollen. Die Jahreszeiten, zum Beispiel, sind nicht nur Begleiterscheinungen unseres, später einmal viel zu rasch vorbeiwehenden, Lebens. Nein, tatsächlich sind sie vielmehr große Portale, die uns alle gemeinsam durch eng aneinanderliegende Welten tragen. Es sind ja auch sämtliche Anzeichen dafür vorhanden, wenn man weiß, worauf man achten muss. Jede Menge Wasser zum Beispiel, in Form von Regen und Schnee, das uns durch die Übergänge zwischen den einzelnen, saisonalen Ebenen trägt. Oder auch unser Erstaunen, wenn wir erst einmal dort angekommen sind. Man denke nur daran, in welche trostlose Ebene uns immerwährende Dürre im Gegensatz dazu verbannen würde. Ein weiteres Indiz für eine allgemeine Delokation durch den Jahreszeitenwechsel ist auch die Verwirrung, die ein allzu schneller Übergang mit sich bringen kann. Alleine dadurch, dass wir diese unterschiedlich beschaffenen Abschnitte der Zeit durchlaufen, werden wir so zu Reisenden zwischen den verschiedenen Dimensionen der Erde, auch wenn wir das als Erwachsene oft belächeln und gerne als unsinnig abtun würden. Das Wetter, ein stetes Zusammenspiel der Elemente, ist und bleibt zeitlebens einer unserer wichtigsten Anker in der allgemein gültigen Gemeinschaftsrealität. Ob wir das nun wollen und glauben, oder eben auch nicht. Aber wehe denen, die beim Übergang ihren Weg verlieren….”

Aus meinen Phasen der Furcht, über die ich eigentlich nur schreiben kann, weil ich sie meistens bereits abgelegt habe. Wenn man älter wird, gewinnt ja oft ein gewisser Phlegmatismus die Oberhand.

Der Abend lockt mich heute bereits frühzeitig mit seinem Sonnenuntergang. Die Tage werden kürzer. Das ist ein Geschenk. Ich suche mein Tor nach morgen nun mit einem Buch auf dem Schoß und Melvin selig zusammengerollt an meiner Seite.

10.08.17

Bilder von wir (mit mir)

mein Bild von dir
mit mir
mit mir
wir waren wie wir waren
im Rahmen
der goldene Spiegel
schrieb im Kerzenschein
unsere Liebe
an die Wand gefahren
und wie
wir waren was
wir eben waren 

(2008)

06.08.17

Sonntagsweisen

Was ist das Magische, an tristen, wolkenverhangenen Tagen voller Nichtstun und Melancholie, das die Vergangenheit in solch lebendigen Bildern hervorzurufen vermag. In jedem Gesicht sieht man Freunde, geliebt und gehasst, Anvertraute aus früheren Zeiten, beiderlei, lebendig und begraben und auch die, zwar noch lebendig, aber sonst schon lange im Herzen begraben liegen. Jedes Gebäude, jede Ecke gebietet einem über das Verstrichene nachzudenken, über die Dinge, die vorbei sind, die man nicht mehr zu ändern vermag. Man rüttelt an der Zeit wie an einem Apfelbaum im Herbst, schüttelt die Früchte aus seiner Krone und hört sie ringsum zu Boden plumpsen. Hin und wieder wird man dabei ganz unvermutet am Kopf getroffen, wenn man zu heftig rüttelt und dabei nicht acht gibt.“

So schrieb ich vor zwölf Jahren in meinem ersten Roman, und es ist immer noch gültig. Die Hitze ist endlich gebrochen, ich spaziere aufgeregt durch das Nieselwetter und finde die Welt dort, wo ich sie zurückließ: am Grund des friedlichen Sees, der Sonntag heißt. Geschichten tümpeln träge vorbei. Ich lese Monstress und liebe es.

 Sonst heute nichts für mich. Danke.

05.08.17

Entrückung auf leisen Sohlen

Giebelblicke, Kopsteinpflasterschritte, Ladengebimmel, Willkommensgruß, vertraute Gesichter – nebenan liegt die Welt des Erinnerns. Meine Blicke gieren über aufmagazinierte Wandregale voller Bücher. Meine Hände liebkosen unzählige Einbände. Sie sind alle so unterschiedlich. Ich liebe sie dafür.

Die Türen, die mir heute zugedacht sind, besitzen nicht immer Klinken, oder Rahmen, oder was auch immer es sein muss, damit wir sie als solche bezeichnen dürfen. Durchgänge, Übertritte, Teleportation – wenn die Tide der Entrückungen spricht, sollte man schweigen, damit der Absprung punktgenau passt.

Ich steige durchs Fenster aufs kleine Vordach, mache es Victor vor, der die wohlwollenden Stimmen an der Wohnungstüre nicht mehr erträgt. Zeige ihm seinen Ausweg. Der Krieg beginnt – ich habe den Anfang für Nachtspiel und Morgengrauen Band 2.

Regen schleicht sich auf leisen Sohlen an. Ich kann ihn schon riechen. Ich lasse heute Nacht die Fenster offen, um ihn entsprechend willkommen zu heißen.

Verlandung

ich weiß, wie die Flößer leben
ich weiß wie sie leiden müssen
an Land
warum sie bei Regen
den Schotter am Straßenrand küssen
dazwischen die erdfarbenen Bäche lecken
sich an den Straßenrand legen
um den Himmel zu schmecken
die anbrandende Sehnsucht begrüßen
im neu schwellenden Bach
den tosenden Reifen lauschen
und in ihrem nassen Verlangen
aus vollem Mund Liebschwüre
murmeln
gierig, gurgelnd
ich weiß warum sie glücklich
an ihren Tränen ertrinken 

04.08.17

Songline

Entlang der Traumpfade ziehen heute ziellos Stampeden durch die Stadt. Lassen keinen Stein auf dem anderen. Ich krieche ihnen hinterher und verteufle die Luftwalzen auf ihrem Weg. Unterwegs begegnen mir die Plagegeister des Sommers und versuchen pausenlos, mich mit ihren Faxen für sich zu gewinnen.

Unter der Silberlinde vorne am Platz lag träge mein Gestern auf einer der Bänke. Ich bin aufs Geradewohl daran vorbeispaziert. Es war mir ehrlichgesagt zu heiß, um mich dazuzusetzen und über die schöne alte Zeit zu plauschen. Wir treffen uns bald, rief ich ihm zu und es schien zu verstehen.

Ich entwirre den ganzen Tag Sätze aus Nachtspiel und Morgengrauen. Komme dabei ein gutes Stück weiter und denke ich bin auf dem richtigen Weg. Ich bin wieder davon überzeugt, das es was werden kann. Auch der Dialog über Ann Radcliffe ist fertig geworden.

Im hinteren Haus werden die Fenster getauscht. Es gab wohl nie eine bessere Zeit dafür als momentan. Die Tage werden endlich wieder kürzer. Bald ist es geschafft. Ich freue mich maßlos auf den anstehenden Traumüberhang.

02.08.17

Wispernde Statuen und ein verzweifelter Kranführer

Das Wichtigste zuerst: ich beginne heute mit einer neuen Geschichte. Einem Frontbericht. Darauf freue ich mich. Ich habe die letzten Tage diesbezüglich viel über Küstengebiete, Espressi und feindliche Spione nachgedacht. Ich glaube, ich bin jetzt soweit. Der erste Absatz ist bereits im Kopf geschrieben. Das ist zumeist die offizielle Aufforderung an meine Hände für den Tanz über die Tastatur.

Die Dächer gleißen gnadenlos, die Leute schwitzen. Ich habe einem Kranführer dabei zugesehen, wie er den Arm seines hohen Gefährts unbeladen hin und her schwenken ließ, um sich Luft zuzufächeln. Armes Schwein.

Ich schlafe wenig, träume dafür aber mehr. Das ist der Deal. Tagsüber liege ich oft herum, sofern es die Zeit zulässt, und höre ausgiebig in mich hinein.

Während ich vorhin unter dem wispernden Blätterdom in der Hundezone am Karlsplatz saß, habe ich die Statuen auf den Firsten rundum nicht aus den Augen gelassen.  Ich wollte sehen, ob sie sich eventuell selbst verraten, indem sie sich in einem Moment, in dem sie sich unbeobachtet wähnen, den Schweiß von der Stirn wischen. Ich habe keinen Hitzestich, um das anzumerken. Ich habe nur für meine Geschichte recherchiert. Eine neue Welt zu betreten, zu erforschen, zu erdenken. Das ist ein Gefühl, für das es sich zu leben lohnt.

Melvin badete ausgiebig im großen Brunnen in der Mitte des Platzes. Es war eine Freude im dabei zuzusehen. Er ist der wahre Sonnenschein dieser Tage.

verstummt

(entstanden zur Mondscheinsonate von Beethoven)



Blätter am Ast, windgepflückt
geschwind im Mond, im silbrigen Mond
mein Haar, mein krauses am Stoff meines Kragens
gewohnt, gewohnt das
leise Schaben meines Leibes unter dem Kleid
das Gurgeln von Milch am Morgen
der feuchte Klang meiner Sorgen
das Klopfen des nervösen Schuhs auf die Dielen
die vielen kleinen Dinge
sie singen nicht mehr

das Klappern des Deckels
wenn das Wasser kocht
und allzu oft nun, allzu oft
auch der leise Applaus
von weichen Frauenhänden
schlich zum Fenster hinaus wie
das Kratzen der Feder auf Papier
entfloh mir schon gestern
und fester, und fester
die Sehnsucht, den Hass
der ins Papier gedrückte Gesang
der Tinte verschwand
und dann
das wutentbrannte Schlagen der Türen
das Klatschen der Faust auf die Wange
bis das zornige Lauschen verklang
versank geschwind wie das Jaulen des Winds
der grölende Gassengänger bei Nacht
verlief sich mitsamt der Wirtshaussänger
der Leierkastenmann spielte für mich die Leier kaputt
Geschirr zerbrach, und ich versprach
mir letztlich nichts mehr davon
Feuerwerk und die Glocken des Doms
verklungen
Samstagmarkt und Sommergedonner
verstummen

ein Schrei, mein letzter Schrei
dann ist alles, alles ist vorbei
und doch könnte ich schwören

ich kann die Musik noch hören

01.08.17

Die grauen Flusen der Zeit

Es ist ein höllisch heißer Tag. Ich habe beschlossen, ihn stoisch zu ertragen. Ich durschiffe ihn auf den sanften Wellen der Zeit, die ich heute in den kleinen Pausen zwischendurch ausgestreckt auf meinem Sofa durchkreuze. Die Minuten und Stunden sind treue Begleiter, die mich verlässlich vorwärtstragen. Melvin hält unterdessen friedlich Siesta im Halbdunkel unter mir. Zwischendurch begleitet er mich fröhlich auf unseren kleinen Streifzügen in den gnädigen Schatten der Stadt.

Wenn ich heute nicht gerade die bedächtig wogenden Silhouetten beobachtet habe, die der Baum vor meinem Fenster an die Zimmerdecke wirft, dann habe ich mich erhoben, um meine Geschichte über die Zugfahrt nach Carcosa ein letztes Mal korrekturzulesen, bevor sich sie in die Ablage verschiebe, wo sie bis zur Veröffentlichung liegen wird, meine letzte Antwort über die Horror/Terror-Dualität an Tobias Reckermann formuliert und mit meinem Herausgeber und Lektor über die anstehende Veröffentlichung von „Nachtspiel und Morgengrauen“ korrespondiert.

So sehr ich mich darauf freue, dieses Debüt drückt mir auch ein bisschen aufs Gemüt. Wir haben heute über meine Schwächen als Autor gesprochen. Darüber, wo mir die Waage noch fehlt. Wo ich zum substanzlosen Palavern neige. Was gut ist. Also nicht das Palavern, sondern der Hinweis darauf. Denn von nichts kommt nichts, wie es so schön heißt. Ich weiß, dass ich noch am Anfang stehe und viel zu lernen habe. Aber gleichzeitig war ich mir im Leben noch niemals über etwas sicherer: ich will Geschichten erzählen.

Ich bin unterwegs. Die Richtung ist nicht mehr ungewiss. Aber die Furcht, die mich dabei begleitet ist, ob man mich aus einem mangelhaften Debüt heraus (das zu bewerten fällt schließlich der Leserschaft zu) weiter begleiten will, um zu schauen, wieviel ich zu lernen bereit und imstande bin. Es wird schon schief gehen, denke ich jetzt. Nach einem Buch kommt das nächste, dann noch eins und noch eins. Wie ich schon sagte: die Zeit ist ein verlässlicher Begleiter, die uns vorwärtsträgt. Es gibt keinen Zweifel daran.

Die schläfrigen Lidschläge zwischen meinen Gedanken werden bespielt von den grauen Flusen der Wolldecke auf meiner Couch, über die träge mein Atem streicht. Immerhin. Ein Debüt. Das ist doch schon was.

31.07.17

Klimatisierte Melange

Es ist heute so schwül, dass sich wieder alle bemüßigt fühlen, durch die Gegend zu schreien, um ihre hitzigen Gemüter zu kühlen. „Wo bist Du?“, ist dabei die Frage der Wahl. „Ich bin genau hier, verdammt nochmal. Wo soll ich schon sein?“ Der Bus rauschte klimatisiert durch die Gegend und ich fühlte mich veranlasst, wildfremden Leuten auf meinem Weg zum Nachmittagskaffee freundschaftlich zuzuwinken. Ich war Tourist in der eigenen Stadt. Bestaunte die vorbeigleitenden Häuserzüge in der flimmernden Luft und musterte interessiert die architektonischen Schnörkel der Jugendstilhäuser entlang des Wienkanals. Normalerweise schlendere ich diesen Weg zu Fuß und denke über meine Geschichten nach, aber der Hund und ich bewegen uns momentan lieber mit Air-Conditioner fort.

Überall riecht es heute nach Palmwedel und Kokosöl. Eine klebrige Melange die selbst mir offensichtlich aus allen Poren trieft, obwohl ich mich eigentlich nicht damit identifizieren kann. Was soll´s. Über die Hitze jammern ist mitten im Sommer obsolet. Da gibt es diesbezüglich ohnedies nur eine gangbare Richtung: Augen zu und durch.

Ich widme mich heute dem entzügelten Cover für Alberas „Rote Bastarde“, das ich in meiner Art zuerst an die Leine legen musste, um es anständig striegeln zu können. Später darf es ohnedies frei auf der Wiese laufen, wie es ihm gefällt. Ich dichte dem König in Gelb eine Liebesaffäre an. Ich denke über den Teufel nach. Wie er sich wohl gäbe, wenn er bereits in Frühpension wäre und auf seinem Altenwohnsitz einen neuen Nachbar zu malträtieren bekäme. Wäre er einsam? Lädt er den Neuzugang daher vielleicht sogar zu Kuchen und Kaffee, um ihm freudig von vergangenen Zeiten und seiner verblassten Größe erzählen zu können?

Ein Busfahrtheorem, mittags notiert, nicht weiter darüber nachgedacht: Unbekannterweise kann man für andere Menschen eine Frage, oder die Antwort sein. Aber niemals beides zugleich.