14.08.17

Die Geister im Keller

Ich weiß von einem Keller, den es nicht mehr gibt. Beziehungsweise existiert er wahrscheinlich zwar noch, aber er ist nicht mehr zugänglich. Er lag unter einem Lokal, in einer Straße, auf der ich schon lange nicht mehr gegangen bin. Bis heute. Obwohl ich eine ganze Weile in dieser Gegend gewohnt, gelebt und gearbeitet habe, kehrte ich ihr irgendwann – fast erleichtert – den Rücken. Aber das ist lange her. So lange, dass man fast schon vom Anfang sprechen kann. Der Beginn von was auch immer.

Ich sagte, ich wäre erleichtert gewesen. Das trifft es wohl am ehesten, wenn ich an meine Abkehr von diesem Ort denke. Dabei wirkte die Gegend, von der ich hier spreche, auf den ersten Blick eigentlich wirklich nett. Ruhige Gassen auf denen man im Abendgesäusel friedlich lächelnde Leute beim Flanieren zwischen golden beschienen Hausfassaden begegnen konnte. Oben. Aber unter den Häusern lagen die Keller. Rochen muffig und hatten meist nur mit baufälligen Stufen ohne Geländer und willkürlich funktionierenden Lampen aufzuwarten. Das kann man als Passant natürlich nicht ahnen. Aber wenn man dort wohnte, dann entdeckt man sie bald, in den Hinterhöfen und Séparées – die Türen, die in das untere Stockwerk führen, und aus denen einem schon beim Näherkommen die klamme Zugluft entgegenschlug.

Es waren steil abwärts führende Stufen, die man niemals betreten würde, hätte man die Wahl. Aber manchmal stellt sich einem diese Frage einfach nicht. Und ebenso wie an alles andere im Leben, gewöhnte man sich auch schnell an den Anblick da unten, wenn man ihn erst einmal oft genug gesehen hatte. Dann fielen einem die aufgebogenen Fußbodenbretter und die abgeschälten Tapeten nicht mehr auf. Man fühlte die Feuchtigkeit nicht mehr, die in allen Ritzen hauste, und einem das Atmen schwer erscheinen ließ. Und die Geister – die fahlen, durchlässigen Gestalten, die mit hängenden Köpfen zwischen den kleinen Pyramiden herumirrten und sich Gutenachtgeschichten gegen ihre Einsamkeit ausborgen wollten –  sie wurden zum Alltagsgeschäft, bei dem man sich schon bald abgewöhnte, ihm direkt in die Augen zu schauen.

Dieser eine, bestimmte Keller, dieser Limbus, von dem ich weiß, er wurde offenbar verschlossen. Dort, wo sein Zugang war, ragt heute die glatt verputze, weiße Hinterwand eines piekfeinen, jungen Architekturbüros auf. Drinnen sitzt gut gekleidetes, erfolgreich wirkendes Personal – Sorte High End Businessmaterial. Sie warfen mir heute Vormittag seltsame Blicke zu, als ich zu lange an ihrer spiegelnden Glasfront stand, und mit plattgedrückter Nase versuchte, einen Blick auf den vermeintlichen Kellerabgang zu erhaschen. Aber niemand kam heraus, um mich zurechtzuweisen. Vielleicht wussten sie ja, wonach ich Ausschau hielt. Vielleicht wollten sie daher jedes Tamtam vermeiden.

Irgendwann gab ich es auf und ging weiter die Straße hinab. Versuchte, mich wieder auf die netten Fassaden zu konzentrieren. Den Keller wieder Keller – oder bessergesagt – jetzt sauber verputze Hinterwand sein zu lassen. Dabei tat ich mir aber schwer, den Gedanken an die Geister beiseitezuschieben, die man vielleicht für immer im Keller eingemauert hatte. Ich fragte mich, ob es die kleinen, schiefen Pyramiden des Videoshops da unten noch gab.

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