24.08.17

Gegen Klärung und Reinheit

Das Bewußtsein um die Aspekte des Nächtlichen, Abseitigen und Unheimlichen reicht weit ins 18. und 19. Jahrhundert hinein und wurde in der Epoche der Romantik, man möchte fast sagen, geboren als eine antiaufklärerische und schwärmerische Suche. Soweit die Klischees. In Wahrheit formulierte diese literarische Bewegung aber keinen radikalen Bruch mit der Aufklärung, sondern bereicherte diese noch um den Zusatz produktiver Zweifel an einer vollständig rationalen-diskursiven Durchdringung der Welt.

Der Allwissenheitsanspruch der Aufklärung verwandelte sich in der Romantik in eine fragmentierte Realität gegenüber des sinnvollen Ganzen. Mit einer umfassenden Ästhetisierung der porös gewordenen Welt begegnet das romantische Ich der so entstandenen Kluft zwischen Wirklichkeit und Subjekt, das im Kunstwerk nicht zu einer bruchlosen Einheit zurückfindet, sondern in der Sehnsucht nach Einswerdung von den nicht rückgängig zu machenden Rissen im fragil gewordenen Gesellschaftsgefüge kündet. Die Ironie zwischen dem zugleich Ganzheits-Streben und der Erfahrung eines fortschreitenden Auseinanderfallens von Welt und Ich unterstreicht den Charakter einer Epoche, die den Übergang zur Moderne markiert. Dieser in sich gebrochene Blick auf das eigene Selbst und die als Entfremdung empfundene Realität generiert als Subtext des Romantischen eine Atmosphäre latenter Bedrohung und Abgründigkeit. Das Romantische verbindet sich mit dem Unheimlichen durch das Moment der Widersprüchlichkeit.

Sigmund Freud, dem wir den Aufsatz „Das Unheimliche“ verdanken, führt dazu aus:

„Heimlich ist ein Wort, das seiner Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt.“ 

Freud hatte in seiner psychologische Ausdeutung E.T.A Hoffmanns „Der Sandmann“ Regression, Ich-Spaltung, Narzißmus und den Kastrationskomplex als Triebfedern für das Unheimliche ausgemacht und dieses dezidiert auf das Ästhetische bezogen. Selten wurde dieser Zusammenhang in der Kunst konsequenter diskutiert, und das, obwohl sich allein im 20. Jahrhundert eine Fülle von Beispielen einer solchen Lesart anbietet: Max Ernst, Salvadore Dali, Hans Bellmer, Edward Hopper bis hin zu Cindy Sherman, Jeff Wall oder Robert Gober, um nur einige wenige zu nennen. Die eindrucksvolle Traditionslinie des Abgründigen und Alptraumhaften zieht sich durch unser vermeintlich so aufgeklärtes und rationales Zeitalter wie ein roter Faden. Daß diese bislang eher marginalisiert wurde, liegt nicht zuletzt am Kunstbetrieb, welcher die Moderne gerne als einen Prozeß der Purifizierung begreift, an dessen Ende das autonome, rein selbstreferenzielle Kunstwerk steht. Erst mit dem Surrealismus geraten Strömungen in den Blick, die emotionale Affekte, Traumhaftes, Unbewußtes, Metaphorik und suggestive Narration zum Ausgangspunkt einer komplexen künstlerischen Strategie machen, die nicht auf Klärung und Reinheit, sondern auf Verwirrung und Widersprüchlichkeit zielt. Von besonderer Bedeutung ist dabei eine künstlerische Haltung, die ein somatisches Wahrnehmen gegenüber der intellektuellen Rezeption Raum gibt.

Dieser körperlich erfahrbare Raum, der Suggestion und Irritation verbindet, erfüllte sich in beispielhafter Weise in der vierten Pariser Surrealistenausstellung, die am 17. Februar 1938 in der Galerie Beaux Arts eröffnet wurde. Die Einladungskarte ist voller Hinweise auf phantastische Ereignisse und ungewöhnliche Orte. Das auf 22 Uhr eingeladene Publikum erlebte einen ebenso bizarren wie verführerischen Raum-Traum, der radikal mit allen bisherigen Prinzipien von Ausstellung brach, bereits eingestimmt durch das Versprechen auf Androiden, die während der Geisterstunde, aus falschem Fleisch und falschen Knochen zusammengesetzt, die Ausstellung besuchen würden. Empfangen von einem alten, efeuumrankten „Regentaxi“ und danach durch einen von künstlichen Mannequins flankierten Korridor geführt, gelangte man in den Hauptraum. Hier schwamm das Wunderbare sozusagen auf der Oberfläche des Humors, war der Raum verfremdet, in den der Besucher, ob er es wollte oder nicht, hineingezogen wurde: eine riesige gewölbte Grotte aus zwölfhundert aufgehängter Kohlesäcke; der sanft gewellte Boden war mit einem dicken Teppich welker Blätter bedeckt, und in einer Bodenfalte schimmerte ein Teich mit Seerosen und Schilf. Inmitten dieser unterirdischen Lichtung, einer Synthese der inneren und äußeren Welt, thronte auf einem kleinen Podest als Zeichen der Freundschaft ein Brasero, eines dieser eisernen Glutbecken vor den Terrassen der Pariser Cafés. Als synästhetisches Gesamtkunstwerk zielte diese Inszenierung darauf, das klassische Verhältnis von Betrachter und Kunstwerk aufzulösen und so gewissermaßen die Werke zu Akteuren zu machen, die, unterstützt durch eine von Man Ray verantwortete raffinierte Lichtregie, Eigenmächtigkeit gegenüber ihrer Betrachter entwickeln. Die Überzeugungskraft der Szenerie wurde am Eröffnungsabend noch durch den Einsatz von Taschenlampen gesteigert, mit denen sich die Besucher durch die Ausstellung tasteten.

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