Der Spaten fährt hinab, verfehlt nur um
Haaresbreite den Maulwurf, der sich im letzten Augenblick unter der Erdscholle
verkriechen konnte. Am Leben. Noch.
Die Tomaten an den Büschen faulen vor sich
hin. Im Sommer waren sie süß, jetzt hängen nur noch Nachzügler an den Büschen.
Grünbraun, Orange und gelblich Rot. Die Disteln in den Wiesen sind riesig, wie
bedornte Kelche, die versuchen, vom Himmel zu trinken. Regen, tagelang Regen,
Stunden wie Wasser, durch das man zu tauchen versucht. Nicht ein trockener
Knochen mehr im Leib. Aber schön langsam, alles schön langsam. Wir wären wie
Wolken dieser Tage, würden wir schweben, würden wir weinen. Still und grau und
fern. Wir zerlaufen zu Schlamm, wie die Blätter am Boden, flüchten uns
in die Erde und träumen vom Schlaf, der mit dem Frost kommt. Der Winter scheint
unser Erlöser, die Sonne der Feind, der uns hinterging, und wir, wir sind die
Versehrten aus dem letzten Krieg. Zerschlissen und einsam. Wir sind fertig mit
kämpfen.
Der Erdhügel vor mir wächst und mit ihm mein Erregung.
Ich teile den feuchten Grund mit dem Spaten, mit den Würmern, mit den Wurzeln,
mit niemand anders als mir selbst. Ich denke an die bemooste Marie-Luise, die
ich gesehen habe, als ich gerade mal acht war. Ich denke an ihre tiefen,
schwarzen Augen, ihre fleischlosen Lippen und das breite Grinsen, das mit dem
Tod gekommen ist. Die meisten der Cowboys sind weggelaufen, konnten den Anblick
ihrer Zukunft nicht ertragen. Christian, Kurt und ich sind
geblieben. Wir waren Indianer. Mit Taubenfedern im Haar und Kriegsbemalung aus
überreifen Erdbeeren im Gesicht. Wir waren frei, an diesem Tag. Den ganzen Tag
lang. Frei.
Marie-Luise lag im Wald, wo sie gefallen war,
friedlich. Sie war der Wald. Oder bessergesagt, sie wurde Wald. Über ihr rauschten die Blätter, neben ihr
tummelten sich Käfer. Ein halber Hase verschwand hinter einer Kiefer, kam auf
der anderen Seite nicht mehr hervor. Wir begrüßten Marie- Luise, und huldigten
ihr mit offenstehenden Mündern und glänzenden Augen. Wir waren keine Kinder an
diesem Tag, wir waren uralte Wesen, in unserem Verständnis um die Dinge, in
unserem frei sein, mit unseren Stöcken, mit denen wir Marie-Luises Gliedern
neues Leben schenkte, mit unserem Atem, der „Ah“ hieß, zuerst, und „Oh“. Wir
waren was wir sein sollte, wozu wir bestimmt wären, wenn wir lange und tief
genug in uns hinein hörten. Bis die Cowboys wiederkamen, mit Männer mit Hunden und uns Marie-Luise nahmen.
Sie zudeckten, als wäre sie furchtbar, als müsste sie sich schämen, für das,
was sie war, wozu sie geworden ist. Wir waren traurig, traurige Indianer, als
unsere Eltern uns holten.
Wenn der Wurm klug ist, sehnt er sich nach dem
Spatenstich, sehnt sich nach dem kurzen Schmerz, der den langen ablöst, der der
Einsamkeit ein Ende bereitet. Er wird mehr als die Summe seiner Teile, so wie
Marie-Luise, mehr!
Den viereckigen Himmel betrachtend denke ich
an Peter. Der Spaten, der in Marie Luise fuhr. Nur weil er es konnte, weil es
in der Natur des Spaten liegt herabzufahren. Sonst wäre er zu nichts nütze.
Während die Erde von den Kanten krümelt und ich knietief liege, warm und
feucht, denke ich auch daran, wie Peter mich angesehen hat, als ich ihn
letztlich sah. Nach all den Jahren, die ein Leben waren. Mit seinem Altmännergesicht
und den stumpfen Augen. So ähnlich, wie ein Wurm gucken würde, wenn er Augen
hätte. Wie er den Hals einzog, als er aus der Trafik kam und die Straße
hinabwanderte. Als würde er auf Schläge warten. Als wenn es jeden Augenblick damit
beginnen könnte, Steine zu regnen.
Der Himmel ist blau. An manchen Tagen lohnt
es, solche Dinge festzustellen. Der Himmel ist blau und ich kralle meine Hände
in die dunkle, klamme Erde, beobachte die Wolke, die zuerst nichts ist. Dann ein
Berg, ein Baum, ein Haus mit Garten, ein Teich, eine ganze Stadt, ein
Ballonfahrer auf dem Weg nach Westen. Und dann wieder nichts. Fetzen und Knäul,
Nebel und Schwaden.
Peters gebeugter Rücken will mir nicht aus dem
Kopf. Peter, der auch mein Spaten hätte sein können wenn ich damals nicht so
schnell gewesen wäre, wenn ich die Lücke im Zaun nicht gekannt hätte, durch die
ich mich geschlängelt habe, seine Hände hinter mir zurücklassend. Seine
nikotingelben Finger nach mir grabschend, heischend, flehend. Ich floh mit
meinem Herz in den Armen, und dann war alles vergessen, waren da wichtigere
Dinge, als Peter, der vielleicht nur spielen wollte, weil er sonst keine
Freunde hatte. Außerdem ist da noch immer Marie-Luise, die die Lücke im Zaun
wahrscheinlich nicht gekannt hatte, Marie- Luise, die Heilige, die für einen
kurzen Augenblick zu unserem Tempel geworden ist, zu unserem Schlachtfeld, auf
dem wir glorreich siegten. Und wichtiger wurde als Pausenbrottausch und
Sommerferien, bedeutender als die wahre Liebe zu finden und seine Träume leben.
Schicksalsträchtiger, als sich zu verwirklichen, sich selber treu zu bleiben
und niemals aufzugeben. Schwerwiegender als jede Schlacht. Endgültiger als jene
Marie Luise, die sie gewesen ist, bevor sie zu dem wurde, was wir im Wald
fanden.
Je unwichtiger die Dinge werden, die einem eigentlich
immer so wichtig waren, desto klarer dämmert es mir. Das Wissen aus dem Wald
kehrte irgendwann wieder, kämpft gegen die Langeweile, gegen die
Abgestumpftheit und schlussendlich gegen diese ganzen anderen, verfeindeten Wichtigkeiten.
Die Ahnung wandelte sich zu etwas Neuem. Zu altem Indianerwissen, das mich
schon einmal verließ, nur um nun erstärkt wiederzukehren. Zur uralten Religion.
Die Kenntnis darum, dass der Tomatenstrauch sich nicht darum sorgen muss, dass
es keinen Sinn macht, jetzt noch Früchte zu treiben, die niemals reifen können.
Es ist dem Strauch egal. Warum also sollte es mich kümmern?
Ich beginne zu singen, in dem Loch, in dem ich
liege. Es klingt dumpf. Der Maulwurf, streckt überrascht seinen Kopf aus der
Wand neben mir und stimmt ein, in das alte Lied, das keine Sprache kennt, das
nicht nur mit dem Mund gesungen wird, sondern mit allem was man ist. Mit den
Augen und den Ohren, mit Haut und Gliedmaßen und Eingeweiden. Sogar mit den
Zähnen und dem Haar und den Nägeln. Das Lied, das von allem handelt. Von allem,
was da ist. Und von mir. Selbstverständlich auch von mir.
(ERA 2009)
(ERA 2009)
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