Auf Kosten der anderen
»Ma, ich gehe fort. Ich bin erschöpft vom Konsumieren, vom Nehmen und Raffen. Ich bin so vollgestopft, dass ich keine Luft mehr kriege. Ich gehe fort, um mich zu reinigen, mein altes Leben hinter mir zu lassen. Ich habe das Gefühl, in einem geborgten Haus zu leben. Es ist Zeit, mein eigenes zu suchen. Verzeih mir.«
Kalkutta, 1967 – die Stadt befindet sich im Aufruhr, Studenten liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, Betriebe werden bestreikt. Angetrieben von dem Wunsch, sein eigenes Leben und die Welt zu verändern, hat sich Supratik, der älteste Enkel im Haus der Ghoshes, einer maoistischen Gruppierung angeschlossen.
Während er versucht, die landlosen Tagelöhner für den bewaffneten Kampf zu gewinnen, und sich dabei in die Widersprüche zwischen politischem Idealismus und terroristischer Aktion verstrickt, bleiben die Zeichen der Zeit hinter den Mauern des Familiensitzes unerkannt. Noch herrschen der alternde Patriarch und seine Frau über die weitverzweigte Familie und ein Unternehmen, das diese in Wohlstand leben lässt. Aber so wenig sie die Brüchigkeit der alten Ordnung erkennen, so blind sind sie für die dunklen Geheimnisse der Kinder, die Intrigen der Schwiegertöchter und den schleichenden Kollaps des Familienunternehmens, der die Familie schließlich vor eine Zerreißprobe stellt.
DER SPIEGEL:
"Das Geräusch, das aus Supratik dringt, ist nicht zu beschreiben". Die Sprache zerfällt, in diesem Satz. Mitten in den präzisesten Folterszenen, die man seit langem gelesen hat. "Die abgeschälte Haut, ein dünner schmaler nasser roter Lappen, hängt noch [...] fest."
Supratik, der Gefolterte, Hauptfigur in Neel Mukherjees "In anderen Herzen", ist nur noch Sein, kein Denken mehr. "Tränen, Rotz, Speichel, alles läuft ihm über Gesicht und Kinn hinunter, die Zeit für Würde oder die Wahrung einer abweisenden Fassade ist längst vorbei."
"In anderen Herzen" ist also mitnichten ein Roman über eine historische Epoche der indischen Geschichte. Sein Kern zielt vielmehr auf die Gegenwart: die herzlose Dekadenz einer Gesellschaft, die sehenden Auges auf Kosten der Ärmsten lebt. Neel Mukherjee erzählt davon in einer erstaunlich eleganten Prosa. Just sein exquisiter Stil mehrt die Schlagkraft dieses schockierenden Romans.
Neel Mukherjee: In anderen Herzen. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Verlag Antje Kunstmann, München 2016.
Neuen Kommentar schreiben