Kritik üben
Neu bei Hanser: Der bedeutende Kritiker A. O. Scott zeigt, wie er zu seinen Urteilen kommt. Ein Manifest gegen die oberflächlichen Rankings im Internet.
Wir alle sind Kritiker. Ob im Kino, im Restaurant oder beim Fußball, wir wissen sofort genau, was gut war und was in die Hose gegangen ist. Und wir machen unser Urteil auch gleich in allen möglichen Medien öffentlich: Daumen rauf, Daumen runter. Reicht das? A. O. Scott, in der „New York Times“ für die Filmkritik verantwortlich, hat da so seine Zweifel. Er plädiert dafür, die Kritik als eine Kunst zu betrachten. Nicht der spontane Reflex zählt, sondern die fundierte Kenntnis, dazu das genaue Argument, das zu einem begründeten Urteil führt. Langweilig? Überhaupt nicht. Das feine Urteil als hohe Kunst betrieben macht unsere Gespräche interessanter, egal, ob es um Romane oder um Rotwein geht.
„Unsere modernen, kosmopolitischen Sensibilitäten weiden sich an den Gegenständen, die sie hinterlassen haben, sie untersuchen und vergleichen und widmen sich der angenehmen Aufgabe, das Gefundene zu sortieren und zu verarbeiten. Mittlerweile werden wir von neuem Zeug überschwemmt, was auch angenehm ist, selbst wenn das Überangebot dazu führen kann, dass wir uns gelähmt und leer fühlen. Wir staunen über die Fülle oder sind beunruhigt darüber, dass das alles viel zu viel ist. Es gibt eine solche Menge von Dingen, die unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. So vieles steht da auf dem Tisch, das Zerstreuung und Aufklärung verspricht, dass es sich wie ernsthafte Arbeit anfühlen kann, hier eine Auswahl zu treffen.“
Heißt: man muß kritisch sein, um nicht zu ertrinken. Aber der Raum für den Zweifel ist oft genug jener, um den ich mich nicht mehr kümmern muß, weil es die Nische gibt und Trost aus der Ecke und es sich nicht lohnt, Wachsamkeit zu verschwenden. Ich bleibe am Leben heißt oft genug: ich mach mirs bequem im geteilten Urteil und teile die Angst vor den Kapriolen des Ichs. Die Kunst ist: sich selbst als kritisch zu erleben und zu erleben, warum Kritik mich zu mehr macht, als Zustimmung mich zu etwas erhebt. Kritik üben = Sich selbst ausprobieren. (FM)
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