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Am Rande des Abgrundes
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| AM RANDE DES ABGRUNDES
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Clemens Ruthner
Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und die Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert
Tübingen und Basel: A. Francke Verlag 2004 XVI + 399 S. € 68,00
In dieser umfangreichen Arbeit, von der Teile schon in anderer Form als Aufsätze erschienen sind, versucht sich Clemens Ruthner als Randgänger in der Literatur, er stellt theoretische Vorüberlegungen sowie Fallstudien zur deutschsprachigen und insbesondere zur österreichischen Phantastik im 20. Jahrhundert an (wobei er dankenswerterweise vor allem weniger bekannte Autoren und Werke in den Blickpunkt rückt, nicht Alfred Kubin oder Gustav Meyrink, die schon sehr viel Aufmerksamkeit gefunden haben): „Zu beschreiben ist jene produktive Spannung zwischen etablierten und marginalisierten Schrift-Artefakten, die durch das Regulativ des Kanons bedingt wird.“ (S. XIII)
Zunächst also wendet er sich den Randerscheinungen zu, dem Abseitigen, den Monstren der Moderne und ihre Bedeutung für die Kultur, insbesondere für die Innovation, den künstlerischen Fortschritt, der sich durch De- und Reterritorialisierung vollzieht. Die phantastische Literatur, die sich mit den Rändern der Existenz, mit Grenzüberschreitungen beschäftigt, ist selbst eine Randerscheinung, eine Begleiterscheinung der der Aufklärung. Ruthner beschäftigt sich mit den Wurzeln der Phantastik, mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen sie besonders gedeiht. Auch er gelangt in der „ästhetischen Genealogie der erlesenen Angst“ zu Edmund Burkes entscheidende Ästhetik des Erhabenen für die gotische Schauerliteratur, zitiert aber auch weniger bekannte ähnlich gelagerte Aussagen. Chronologisch gilt Ruthners Interesse vor allem der im Treibhaus des fin de siècle entstandenen deutschsprachigen Phantastik 1890-1930 am perhorreszierten Rand der Moderne und dem Phantastik Recycling in der österreichischen Literatur 1945-2000.
Von den phantastischen Figuren interessiert sich Ruthner besonders für das untote Geschlecht der Vampire und Vampirinnen, beschäftigt sich mit den deutschen Verbindungen Draculas und besonders mit den Politisierungen des Vampirs zwischen Voltaire und Hitler; und, in der Neuzeit, mit dem Revenant als subversive Randfigur bei Ingeborg Bachmann, H.C. Artmann, Elfriede Jelinek und Barbara Neuwirth.
Ein weiterer Abschnitt gilt den „Randzeiten“, ob Phantastik in totalitären Regimes und in Zeiten des Krieges als verdeckte Schreibweise des Widerstands durchgehen kann, wie in der lässig angedeuteten phantastisch-visionären Elementen Lernet-Holenias Mars im Widder. Robert Menasse hat eine solche Absicht heftig bezweifelt und behauptet, dass seine Abneigung sich nur aristokratisch auf den “Polterer“ Hitler bezog, aber keine tieferen Gründe hat. Lernet-Holenia ist, wie Ruthners Material zeigt, eine höchst umstrittene Gestalt, die wegen des leichten Unterhaltungstons seiner Werke, die der Autor selbst auch, je nach Lust und Laune, sehr gering einschätzte, marginalisiert wurde. Doch verstand der Autor, gerade durch seine leicht hingeworfene, andeutungsweise Art, die Phantastik, Mythos und Symbol intelligent einsetzte, eine Atmosphäre des Unwirklichen, Schicksalshaften zu erzeugen, die einen unwiderleglichen Eindruck verborgener Tiefe vermittelt.
Ein weiterer großer Abschnitt befasst sich unter der Bezeichnung Randthemen mit Drogen-Einflüssen, Massen und Machtträumen, wobei ein Gegensatz zwischen Leo Perutz und Otto Soyka postuliert wird, und auch das Biographische Otto Soykas, der als „literarischer Kriegsverlierer“ gesehen wird, ausführlich zur Sprache kommt. Hier findet man viele neue Ergebnisse über einen Autor, der heute, anders als der literarisch raffiniertere Leo Perutz, so gut wie vergessen ist, obwohl er in vieler Hinsicht, was das Massenphänomen und die Massenmanipulation angeht, viel hellsichtiger war. Ruthner geht eingehend auf den Zusammenhang zwischen dem literarischen Erscheinungsbild der Drogen bei Soyka und Perutz und wissenschaftlichen Drogenexperimenten der Zeit ein. Schade, dass Ruthner Ludwig Anton (1872-1941) nicht kennt, in dessen Werk z.B. in Verlorenes Paradies (1923), Der Mann im Schatten (1926) und Gift aus Amerika (1933) Drogen wie Peyotl ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen. Ruthner sagt aber allerlei Kluges über Visionen und Machträusche, Mutterkorn und autoritätes Patriarchat, Masse und Markt, Trauma (die leidigen Frauen bei Soyka) und Traumarbeit.
Sehr interessant ist auch der Abschnitt „Randorte: Die alten Räume eines neuen Schreckens“, worin er ausführlich auf Thomas Bernhard eingeht, der zwar nicht zur Phantastik zu zählen ist, aber in seiner Übertreibungstechnik, der methodischen Verwendung der Hyperbel, viel mit H.P. Lovecraft gemein hat, wie Ruthner nachweist, ohne aber den Schritt ins Übernatürliche zu tun: Bernhard genügt das Irrationale. Ein weiterer Bezugspunkt zwischen Bernhard und Lovecraft wäre auch die besessene Bedrohungsbedeutung, die beide der Kälte beimessen. Oder die Vorliebe für eine riesige labyrinthische, verrätselte Architektur. Aber Bernhards Landschaften und Architekturschilderungen sind genau so Schilderungen psychischer Landschaften und „Ich-Gebäude“ wie Poes Haus Usher; insbesondere Bernhards Kalkwerk steht ganz in der Tradition des gotischen Schauerromans, nur dass der Untergang bei Bernhard nicht dem Kalkwerk droht, sondern allein dem geistigen Zustand des Protagonisten, für den das ganze Dasein, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, eine Marter sind, wie Bernhard in einem Interview erklärte. Ich denke, eine ähnliche Verbindung wie zwischen Lovecraft und Bernhard könnte man auch zwischen J.G. Ballard und Bernhard herstellen, auf den die „Ästhetik der Peripherie“ genauso zutrifft wie auf Bernhard.
Aus seiner Beschäftigung mit dem Marginalen, Reaktionären und Innovativen in der Literatur folgert Ruthner für die Phantastik:
Phantastik entsteht in jener Zone des peripheren, nicht-anerkannten Wissens, das spekulativ weitergedacht und zugleich perhorresziert wird. Sie reagiert auf ein zeitgenössisches Angebot von neuen wie alten Themen und Tabus, angesichts dessen sie nicht nur in der Lage ist, „Angstpotentiale sensibel zu antizipieren –das allein ist das ‚Prophetische’ an ihr – zumal sie ja … durch ihr spekulatives Moment mit neuen Wissenschaftszweigen durchaus (epistemologisch) etwas gemein hat… Ebenso vermag jedoch Phantastik Angst und Schrecken über bestimmte Themen und Motive gleichsam zu ‚verhängen’: so wie sie etwa ins Bild der kaum zu bändigenden Vampirin die Angst vor der aufbrechenden Geschlechterdifferenz legt. Ihre ‚prophetische’ Funktion ist so gesehen mitunter nichts als Propaganda. (S. 295-296)
Ruthners Buch enthält für den Phantastik-Liebhaber neben klar nachvollziehenden Gedankengängen auch eine Fülle unbekannten Materials, doch sei auch nicht verschwiegen, dass er den gängigen Germanisten-Jargon perfekt beherrscht und auch sehr spitzfindig zu argumentieren versteht, was die Garantie für fachliche Anerkennung ist; eine solche oft an Geheimlehren erinnernde Sprache empfiehlt sich zumal, wenn es Texte am Rande des germanistischen Spektrums geht, siehe hier vor allem den „narratologischen Appendix“ zur Redefinition des literarischen Motivs. Vielleicht auch, dass Ruthner in sein Buch zu viel hineingepackt hat, sein Buch geht über die bloße Phantastik hinaus und wirkt in seiner Fülle überwältigend. Zu loben ist auf jeden Fall aber auch das umfangreiche Literaturverzeichnis. fr
Der Rezensent
Total: 59 Rezensionen
März 2018: keine Rezensionen
Franz Rottensteiner
wurde am 18.01.1942 in Waidmannsfeld/Niederösterreich geboren.
Studium der Publizistik, Anglistik und Geschichte an der Universität Wien,
1968 Dr. phil.
Rund 15 Jahre Bibliothekar an einem Forschungsinstitut, daneben Tätigkeit für verschiedene Verlage, unter ander...
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