Fix Zone

Einzeln oder solitude

Redaktion: 

András Gerevich

Bereits im Oktober 2013, aber etwas entlegen erschienen sind Teiresias' Geständnisse, Gedichte von András Gerevich übersetzt aus dem Ungarischen von Orsolya Kalász, Monika Rinck und Timea Tankó. Das Buch wurde verlegt in der edition solitude, die nur zwei bis drei Bücher im Jahr verlegt und zwar von Besuchern oder Stipendiaten der Akademie Schloss Solitude.

Im spätbarocken Kleid über den Dächern der Kultur- und Industriemetropole Stuttgart angesiedelt, hat sich die Akademie zu einem wichtigen globalen Netzwerk der internationalen Kunstszene entwickelt. Im Einklang mit der Lage und Geschichte des Schlosses will Solitude seinen Gästen Rückzugsort und Freiraum für Kunst und Leben sein. Die Akademie wirkt aber auch nach außen, ist Ausstellungsort, Versuchslabor und Diskursarena. Ihre Stipendiaten und Gäste nutzen sie als künstlerischen Inkubator, als Projektionsfläche, als Kontaktbörse oder als Gelegenheit, ein Projekt ohne Blick auf Konventionen verwirklichen zu können. Das Haus vertritt einen offenen Kunstbegriff und lässt sich ganz bewusst von seinen Gästen prägen.

Familienzeitrechnung

Ich ließ meinen Kakao in das Meer tröpfeln
und beobachtete, wie der süße braune Punkt
sich in der klaren, salzigen Ruhe der Adria auflöste,
um kurz darauf für immer zu verschwinden.
Ich bin heute auf den Tag genau so alt,
sagte meine Mutter nach dem Frühstück,
wie meine Mutter an dem Tag war, als sie starb.
Ich machte von dem Felsen einen Kopfsprung ins Wasser.
Letztes Jahr wusste ich auch,
weil ich es schon Wochen zuvor ausgerechnet hatte,
wann ich auf den Tag genau so alt war,
wie mein Vater, als ich geboren wurde.
Es war ein öder Wochentag, Mittwoch,
wir tranken am Morgen Kaffee im Bett,
als ich dich küsste, kratzten deine Bartsstoppeln,
ja, stachen, wie das Bewusstsein, dass es
niemanden geben wird,
der die Sanduhr wieder umdrehen könnte.

 

»In guter osteuropäischer Tradition ist András Gerevich jede Theatralik, jede Rhetorik abhold. Der Tonfall seiner Gedichte ist sachlich, fast spröde. Ihre Ruhe ängstigt, weil sie erste und letzte Dinge verhandeln: Geburt, Kindheit, Tod und Vergänglichkeit. Sie sprechen von Traumata, die mit der Familie und dem Geheimnis des eigenen Körpers zu tun haben. András Gerevich ist darin ein Meister: An tiefste Emotionen zu rühren, vielleicht gerade deshalb, weil seine Sprache so beherrscht ist, oder – genauer – weil sie sich um Beherrschung bemüht.« Joachim Sartorius

András Gerevich, geb. 1976 in Budapest/Ungarn studierte Englische Literatur in Budapest und Kreatives Schreiben in den USA. Einen dritten Abschluss als Drehbuchautor erhielt er an der National Film and Television School in England. Er veröffentlichte bereits drei Gedichtbände in seiner Muttersprache Ungarisch und publiziert in zahlreichen Zeitschriften (zuletzt in den österreichischen Lichtungen). Neben Gedichten schreibt András Gerevich auch Drehbücher und Theaterstücke. Er veröffentlicht Essays und übersetzt Werke englischsprachiger Dichter, darunter Seamus Heaney und Frank O’Hara sowie ein Buch des Filmemachers David Lynch. Zurzeit arbeitet er als freier Dichter, Drehbuchautor, Übersetzer und Journalist in Budapest.

 

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