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Silke Scheuermann
Uraniafalter

Welches Ziel hatten wir; wir waren nachts unentwegt
mit Verspätung unterwegs, damals, als die Diskotheken uns
einen Tick zu laut die Liebe erklärten, und uns das nicht auffiel,
weil wir im Mittelpunkt der Strahlung standen; damals war
immer helllichter Tag, wir unentwegt mit unseren Körpern
beschäftigt, die unendlich viel stärker waren als angenommen,
prätentiös, schön; der Traum löste sich in Zeit auf;
wir standen uns zur Verfügung. Wir wollten vergessen,
wollten den Fluch unsrer Herkunft vergessen. Wie der
Priester das Blut trank, die Sonntage unser Fleisch brieten,
Vater grillte, während Mama das Brot brach. Im Garten
reiften Tomaten, wir wuchsen heran, Schmetterlinge
an natürlichen Blüten. Aber dann: verkehrte Welt,
neue Naturerlebnisse. Licht kickte, Steine wurden geraucht.
Welches Ziel, ich erinnere mich nicht, und wieso glaubten
wir damals, alles erreicht zu haben? Weil wir, in den
Städten, immer vom Licht gesteuert waren, von
Autoscheinwerfern, Werbetafeln, glitzernd
spiegelnden Shoppingcentern? Weil wir
in hellen Wohnungen tote Insekten vom Boden auflasen,
Freunde verabschiedeten, die von Müdigkeit sprachen?
Sie sagten, sie balancierten am Rand der Erschöpfung,
bekämen dafür nicht einmal Applaus. Welches Ziel nur,
heute sehe ich fremde Männer durch die Straßen eilen,
weiß nicht, wohin, und du bist einer von ihnen.

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 51

Michael Braun
Eine Zeit der Auflösung



Ende des 19. Jahrhunderts ist der Uraniafalter, ein Nachtfalter mit tiefschwarzen Flügeln, von der Bühne des Lebens ver­schwunden. Er gehört zu den aus­gestor­benen Arten und toten Wundern der Schöp­fung, die Silke Scheuer­mann im ersten Teil ihres fantas­tischen Gedicht­buchs „Skizze vom Gras“ porträ­tiert. Der emphati­sche Bezug auf die Verlust­erfah­rungen moder­ner Zivili­sations­ge­schichte hat man­chen Exe­geten dazu ver­leitet, Scheuer­manns Gedichte als mo­derne Spiel­art einer kritischen „Öko-Lyrik“ miss­zu­ver­stehen. Eine gro­teske Lesart, unter­schlägt sie doch die anthro­pologi­schen, auf die Funda­mente unser eigenen Existenz gerich­teten Motiv­kreise dieser Gedichte. Silke Scheuer­manns „Skizze vom Gras“ steht in der Tradi­tion poeti­scher Kosmo­gonien, ihre Texte versuchen wie die Welt­deutun­gen der antiken Dichter Hesiod und Lukrez die Bau­pläne des Lebens und die Ord­nung des Daseins zu erhellen. Gedichte, die nicht nur als natur­magische Be­schwö­rungen gefährdeter Krea­tür­lich­keit zu lesen sind, sondern zugleich als verstörende Diagnosen zur Lage des Menschen­geschlechts.
  In „Skizze vom Gras“ finden wir auch einige der finsters­ten Gedichte über die Liebe als aussichtsloses Unter­nehmen, die seit den späten Ver­zweif­lungs­poemen aus dem Nachlass Inge­borg Bach­manns geschrie­ben worden sind. Das „Du“ ist in diesen Gedichten ein ferner Planet, so unbe­wohn­bar wie der Mond. Fremder als das eigene Ich sind nur noch die Handlungen des gelieb­ten Subjekts. Liebe als per­manente Ent­zweiung treibt die Körper und die Seelen auseinander: „Es tut mir nicht mehr gut. / Die Gewalt hat mich verändert. / Mein Körper ist kalt geworden wie der Zahn einer Löwin, / mein Geist geht meine Möglichkeiten durch. / Wenn du mich anfasst, werde ich mich wehren, / noch bevor du mir Lust machen kannst.“
  Es gibt daneben weitere Schlüssel­gedichte, wie „Brief zur Kirsch­blütenzeit“ oder „Skizze vom Gras“, die in den bio­logischen und kul­turel­len Verän­de­rungen unse­res Plane­ten einen Hinweis auf unsere schwin­dende Liebes­fähig­keit ent­de­cken: „Es war überhaupt eine Zeit der Auflösung.“
  Was im vorliegenden Gedicht unter dem Titel „Uraniafalter“ verhandelt wird, sind die verlo­renen Uto­pien einer Generation, die zum Aufbruch ent­schlos­sen war, mit ständiger Rausch­bereit­schaft und einem eigen­sinnigen Hedo­nismus im ideolo­gischen Hand­gepäck. Es ist das lyrische Narrativ eines Kol­lektivs der Träumer, das die Eupho­rie per­manenter Grenz­über­schrei­tung zur An­triebs­kraft des Daseins macht. In diesen Euphorien wurde die reli­giöse Ord­nung auf den Kopf gestellt oder priva­ti­siert („Wie der / Priester das Blut trank....während Mama das Brot brach“), in unge­schütz­ter Nai­vität gab man sich auch Drogen­erfah­rungen hin, das „Stoned“-Sein wurde zum Lebens­programm („Licht kickte, Steine wurden ge­raucht“). Der fröh­liche Narziss­mus dieser Jugend, die auch noch von den krisen­anfälligen Idyllen ihrer Eltern­häuser zehrte, zerfiel indes so rasch wie das selbst­ver­ständ­li­che „Wir“-Gefühl. Das Ethos abso­luter Freiheit wich einer Erfah­rung tiefer Fremd­heit. Und auch die Lie­bes­fähigkeit dieser Gene­ration erweist sich als irre­versibel be­schädigt; am Ende ist das geliebte „Du“ einer der fremden Pas­san­ten geworden, die bezie­hungs­unfähig durch das Dickicht der Städte treiben.

Silke Scheuermann, geboren 1973 in Karlsruhe, lebt in Offenbach. Sie studierte Theater- und Lite­ratur­wissen­schaf­ten in Frank­furt. Leipzig und Paris. 2001 erschien ihr poeti­sches Debüt „Der Tag an dem die Möwen zwei­stimmig sangen“. Für Ihre Gedichte und Romane erhielt sie zahlreiche Aus­zeich­nungen, zuletzt den Hölty-Preis für Lyrik der Stadt Han­nover (2014). Das vor­liegende Gedicht ist dem Band „Skizze vom Gras“ (Schöffling Verlag, Frankfurt a.M. 2014) ent­nommen.
Wir danken Autorin und Verlag für die Wieder­gabe des Gedichts im Kontext der Kom­mentie­rung.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
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Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     03.03.2015

 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Silke Scheuermann
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge