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Ror Wolf
Drei unvollständige Versuche das Leben zu beschreiben Dritter unvollständiger Versuch Zweiunddreißig, Juni, nachts zwei Uhr, als ich nass aus meiner Mutter fuhr, als ich stumm aus meiner Mutter kroch, aus dem einen in ein andres Loch, aus dem Fleisch heraus hinein ins Leben, sagte man zu mir: So ist das eben. Im November nachts Zweitausendeins lag ich nackt und aufgeschlitzt in Mainz, tief im Blut und alle Tropfe tropften, die Kanülen, die Katheter klopften, alles floß hinein in das Plumeau, und man sagt zu mir: Das ist halt so.
Michael Braun
Lapidarer lässt sich die Daseinsstrecke eines Menschen wohl kaum bilanzieren. Der Dichter, Collagist und Prosa-Anarchist Ror Wolf, im Juni gerade 85 Jahre alt geworden, ist nicht nur ein Meister der poetischen Verblüffungskunst, sondern auch ein formstrenger Virtuose bei der Erfindung leichthändig dahingeworfener Nihilismen und katastrophischer Lebensverläufe. In Thüringen aufgewachsen, machte Wolf 1951 in der DDR sein Abitur, arbeitete zwei Jahre als Betonbauer und übersiedelte 1953 in die Bundesrepublik. Ab 1957 begann er als Redakteur der Frankfurter Studentenzeitung „Diskus“ seine Arbeit an einer Poesie zwischen Hokusposkus, Burleske und Entsetzen. Die Grundstimmung seiner Literatur sei ein „Komplott aus Leichtigkeit, Schwermut, Spiel, Ernst, Skurrilität, Lust, Spaß und Entsetzen“, hat er einmal erklärt – und auch im lakonischen Selbstporträt des vorliegenden Gedichts ist die Lust am Reim-Spiel nicht ohne einen makabren Existenzialismus zu haben. 230 Jahre nach der barocken Vermessung der menschlichen Lebensfrist durch den großen Liederdichter Matthias Claudius im Gedicht „Der Mensch“ hat Wolf eine sehr knappe Beschreibung davon gegeben, was im einzelnen geschieht, wenn wir das Licht der Welt erblicken und – so heißt es bei Claudius – „empfangen und genähret“ werden, „vom Weibe wunderbar“. Kaum ist der Mutterschoß verlassen, sind wir offenbar in einem weiteren schwarzen Loch verschwunden, das als „Leben“ annonciert ist. Der Text setzt ein wie das nüchterne Protokoll eines Geburtsvorgangs, verwandelt sich dann aber zu einer metaphysischen Studie über die Existenz und das Ausgesetztsein desjenigen, der den Schock und den „Nachteil, geboren zu sein“ (Emile Cioran) überwinden muss, um am „Leben“ teilzuhaben. Der Ursprung des Menschen wird als ein blutiges Ereignis markiert, das eine Strukturverwandtschaft aufweist zum operativen Eingriff in den Leib eines Schwerkranken, der hier, wie es die doppelbödige Redensart so schön ambivalent konstatiert, mit dem Leben davonkommt. Und so ist wohl nicht nur das lyrische Subjekt in diesem Gedicht nach einer Operation „mit dem Leben davongekommen“, sondern auch der Autor, der den Text im Jahr 2002 verfasst hat.
Das ist wohl überhaupt das Schicksal von Ror Wolfs Protagonisten, in seiner Prosa wie auch in der Poesie: Sie sind oft von schwersten Unfällen, Katastrophen und dramatischen Lebensumwälzungen betroffen, können aber immer wieder den Exitus abwenden. Einer der langlebigsten Helden in Wolfs Werk, sein lyrisches Double Hans Waldmann, den er 1965 erfand, hat ab 1995 andauernd an seinem Verschwinden gearbeitet, um dieses Verschwinden dann wieder artistisch aufzuschieben. Die späten Moritaten und Balladen, die sich Wolf für Waldmann „kurz vor dem endgültigen Verschwinden“ erdacht hat, sind Exerzitien eines auf Dauer gestellten Abschieds, eine große Schlussmacherei und Nullansage, die sich dann regelmäßig mittels ironischer Konterbande selbst aufhebt. Die strenge Kunstform, so Wolf im Blick auf seine Fußball-Collagen, wolle er bewusst mit „rabiatem Inhalt“ aufladen. Dieses Verfahren der Kontrastierung nutzt er auch in seinen schaurigen Moritaten und Balladen, in denen er eine Alltagsidylle stets in eine Szenerie des Grauens umkippen lässt. Vor Wucherungen ins Absurde sind weder seine Helden noch seine Texte sicher. Zum reimverliebten Spaßmacher darf man diesen Dichter der komisch-surrealen Apokalypse eben nicht bagatellisieren. Ror Wolf hat die Passion für Katastrophen und Untergänge, die einst die expressionistische Poesie eines Jakob van Hoddis und Alfred Lichtenstein prägte, mit den Mitteln der schwarzen Burleske und der ironischen Wortakrobatik neu animiert. Die konventionelle Logik und Psychologie von Gedichten und Geschichten hebt er aus den Angeln. Am Ende liegen seine Protagonisten in ihrem Blut – um am nächsten Morgen doch noch eine Wiederauferstehung zu feiern und sich erneut dem rätselhaften „Leben“ auszusetzen, unterwegs zu neuen Abenteuern. Ror Wolf, geboren 1932 in Saalfeld in Thüringen, war zunächst Bauarbeiter in der DDR und übersiedelte 1953 in die Bundesrepublik, nachdem seine Bewerbungen zum Studium in der DDR abgelehnt wurden. In Frankfurt am Main studierte er bei Adorno, Horkheimer und Walter Höllerer Soziologie und Philosophie, 1959 wurde er Feuilletonredakteur bei der Frankfurter Studentenzeitung „Diskus“. Seit 1957 publiziert er Gedichte, Collagen, Hörspiele und Prosa. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schiller-Gedächtnispreis des Landes Baden-Württemberg. Das vorliegende Gedicht ist dem Sammelband „Die Gedichte“ entnommen, der zum 85. Geburtstag des Autors im Verlag Schöffling & Co. erschienen ist, der seit vielen Jahren auch die Ror Wolf-Werkausgabe betreut. Druckansicht
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