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Sandra Burkhardt
Die Bahn einer Meeresschildkröte

Bin als Kopffüßler geboren
bedeutet habe Mühe Hänge zu beschreiten denn
ich verliere mein Gleichgewicht und kippe hinten über
schlage mit dem Hinterkopf auf wenn ich Schluckauf habe rolle
ich herum und mit Mnemotechnik behalte ich alles davon ich
bin mit Sumpfkopf geboren was bleibt mir als im Moor spazieren zu gehn
wo ich Mörikes Schlüsselbein fand im Geäst eines Strauchs
öffnete mein Schädelfenster tauschte es
für mein Tränenbein aus für Menschen mit Händen
im Rhythmus der Arbeit skandieren im Ruhestand
im Ruhestand so mancher keine Ruhe fand beim
Frühjahrsputz der Dreck aller Ecken in die Mitte
dann ab mit dem Müll ins Moor
und mit dem Magnetpol 90
Meter pro Tag Richtung Nordwest wandern


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 97

Michael Braun
Kopffüßler am Schädelfenster


Die unendliche Reise der Meeresschildkröten im Atlantischen Ozean ist schon fast zu einem mythischen Topos geworden. Gleich nachdem sie an irgendeinem Strand aus dem Ei geschlüpft sind, beginnen sie mit ihrer großen Wanderung, auf der Flucht vor ihren natürlichen Feinden. Sofern sie sich ins Meer retten können, vergehen 25 Jahre, bis sie ihre Reise beenden, an ihren Geburtsstrand zurückkehren, sich paaren und selbst Eier ablegen.
  Diesen Mysterien der „Fischbahnen“, den Bewegungsformen des Zackenbarschs, des Zitteraals oder eben der Meeresschildkröte und ihren phänomenalen Erscheinungen im Kraftfeld von Land und Meer hat die junge Leipziger Dichterin Sandra Burkhardt einen faszinierenden Zyklus gewidmet. Das lyrische Ich, das in diesen Gedichten spricht, wählt die Perspektive der Wassertiere, aber die Ich-Figuration bleibt stets fluid, auch die Perspektive des schreibenden Subjekts mischt sich ein, biologische Fakten verbinden sich mit erd- und kulturgeschichtlichen Reflexionen, auch mit Anspielungen und Zitaten aus der Sphäre der Literatur. Der sich im vorliegenden Text als „Kopffüßler“ ausweist, also als Gestalt, die nur aus einem kopfähnlichen Gebilde und aus Beinen besteht, ist in seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkt, gerät bei jeder Gelegenheit „aus dem Gleichgewicht“. Und auch das vorliegende Gedicht tut alles dafür, den Leser und die Leserin aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das lyrische Ich schlüpft in die unterschiedlichsten Rollen, vollzieht an sich selbst die tollkühnsten Verwandlungen, bis hin zu dem Umstand einer imaginär generierten anatomischen Mutation, den Austausch bestimmter Organe des Bewegungsapparats. Und hier kommt zusätzlich ein literarischer Mythos ins Spiel. Vor einiger Zeit war die Fiktion von „Mörikes Schlüsselbein“ ein Nebenmotiv in einem Roman der deutsch-russischen Autorin Olga Martynova. Das „Original“ von Mörikes Schlüsselbein ruht als Reliquie in einer Vitrine im legendären Evangelischen Stift in Tübingen, wobei die Herkunft des gezeigten Knochens ungeklärt ist. „Mörikes Schlüsselbein“ fungiert auch bei Sandra Burkhardt ausschließlich als poetisches Spielmaterial, das hier eingeschmuggelt wird in ein Gedicht über Verwandlungen, das vorangetrieben wird durch immer neue kleine Rätsel, den „Sumpfkopf“, das „Schädelfenster“ oder das „Tränenbein“, die hier in immer neuen Gestalten auf unsicherem Grund wandern. Nirgendwo bewegt sich das oszillierende Ich auf festem Gelände. Entweder es gerät ins Moor - auch aufgrund einer phonetischen wie auch semantischen Verschiebung von „Meer“ zu „Moor“ – oder es findet „keine Ruhe“ im vermeintlichen sicheren Ort des Hauses, in dem ein „Frühjahrsputz“ organisiert wird. Nirgendwo ist ein Halt, nicht auf der „Bahn der Meeresschildkröte“, auch nicht auf den diversen Navigations-Punkten, die das lyrische Subjekt hier absteckt. Sandra Burkhardts mit äußerster Raffinesse komponiertes Gedicht ist Bestandteil ihres Debütbandes, der in sehr kunstvollen Zyklen und aus wechselnden Blickachsen das Verhältnis von Wahrnehmung und Gegenstand, von Linie, Umriss und Kontur einzelner Dinge untersucht, und dabei das Motiv des Ornaments umkreist. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, auf welche Weise eine sprachliche Auseinandersetzung mit visuellen Phänomenen stattfinden kann. Das Gedicht wird dabei im besten Sinne zur „Schädelmagie“ (Thomas Kling).

Sandra Burkhardt, geboren 1992 in Laupheim, studierte Literarisches Schreiben und Kunstgeschichte in Karlsruhe und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und lebt derzeit in Berlin. 2016 war sie Preisträgerin für Lyrik beim Open Mike in Berlin. Ihre Gedichte erschienen in Zeitschriften (Bella Triste, Edit u.a.) und im “Jahrbuch der Lyrik“ 2015, 2017 und 2018. Das vorliegende Gedicht ist ihrem Debütband „wer A sagt“ entnommen (Gutleut Verlag, Frankfurt).

01.01.2019




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Sandra Burkhardt
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
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Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
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Weiß wie
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Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
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Kinderjuni
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Die Hoffnungsstufen
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Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
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Belegte Brotzeit
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Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
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waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
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latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
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die möglichkeit einer verwechslung ...
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     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
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  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
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