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Jürgen Nendza
AN MANCHEN TAGEN erscheint er
wie Glück, der Schatten,
der durch das Zimmer wandert

über die unerledigten Dinge. Draußen
steckt das Schnittmuster der Bäume
voller Möglichkeitssinn.

Wir haben Blaubeeren gegessen
von verwilderten Gräbern
und niemand weiß, wie viel

Zeitraffer liegt in einem Wort. Das Licht
synchronisiert uns mit dem Pfifflaut
der Delphine, die Verborgenes sehen können.

Ich sehe einen Vogelschwarm
von deiner Hand auffliegen und denke mir
einen Rationalisten, der einen Sombrero trägt.

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 71

Michael Braun
Eine Übung, die Welt zu betrachten



Eine Sandschliere auf dem Fenster, ein vorüberschwebendes Flimmerhaar oder der Schwirrflug eines Vogels: Solche kleinen, ephemeren Dinge und Ereignisse sind der Testfall für das Sensorium eines Dichters. Diese kaum sichtbaren, kaum fühlbaren Phänomene stehen auch im Zentrum von Jürgen Nendzas poetischer Aufmerksamkeit. Er tastet sich in akribischer Beobachtung an die Dinge heran und befreit in einem ersten Schritt die Wahrnehmung aus den Fesseln ihrer Konditionierungen – eine Voraussetzung für gute Poesie. Seine Gedichte beginnen oft mit der mikroskopischen Beobachtung scheinbar unbedeutender Details, aus denen unerwartet Epiphanien und Offenbarungen entspringen. Das Eröffnungsgedicht seines Bandes „Mikadogeäst“ (2014) führt beispielhaft vor, wie sich dieses Glück der Wahrnehmung einstellen kann. Es liest sich zugleich wie eine Einladung, diesen Prozess der sich verfeinernden Wahrnehmung nachzuvollziehen. „Der Schatten / der durch das Zimmer wandert“ – er gibt hier dem Gedicht seinen Richtungssinn vor und eine eigene Zeitempfindung, die im geduldigen Hinschauen entsteht. Der Blick des lyrischen Ich fällt auf die „unerledigten Dinge“, die noch nicht vollständig okkupiert sind von letztgültiger Bedeutung. Das Gedicht, so hat Nendza einmal gesagt, ist ein „Ort des Übergangs, an dem sich die Dinge der Gewalt des identifizierenden Denkens entziehen“. So klingt es auch wie eine Definition für die Wahrnehmungs-Übung eines Gedichts, wenn der „Möglichkeitssinn“ einer Natur-Konstellation aufgerufen wird. Nendza romantisiert hier nicht das Naturzeichen, sondern verweist nur auf die Deutungsmöglichkeiten des Betrachters: „Draußen / steckt das Schnittmuster der Bäume / voller Möglichkeitssinn.“ Die Entfaltung des „Möglichkeitssinns“ der Dinge in Klang, Bild, Tonwerten und semantischer Ambiguität ist die zentrale Leistung jedes modernen Gedichts. So versucht der Autor konsequent, die „unerledigten Dinge“ aus ihrer Einkapselung in einen festgelegten Sinn zu lösen. Die Speicherung von Zeit in einem Gedicht wird dabei ebenso aufgerufen wie die Fähigkeit, „Verborgenes“ auszuloten. Das geschieht mithilfe einer kühnen Metaphorik, die auf synästhetische Prozesse verweist: „Das Licht / synchronisiert uns mit dem Pfifflaut / der Delphine ...“
  Die Möglichkeit zur poetischen Erschaffung und Transformation der Welt blitzt auch im Schluss-Terzett auf, in dem sich das Bild des auffliegenden Vogelschwarms mit einem Traditionszitat verbindet. Denn der Schlussvers paraphrasiert eine Zeile aus einem berühmten Gedicht des amerikanischen Lyrikers Wallace Stevens, in dem sich genaue Beobachtung, Imagination und Reflexion auf faszinierende Weise verbinden. Das Bild des Vogelschwarms wird kommentiert mit Stevens´ Bild von einem „Rationalisten, der einen Sombrero trägt“. Bei Stevens ist das Bild Bestandteil des sechsteiligen Gedichts „Six Signifikant Landscapes“ (also: „Sechs bedeutsame Landschaften“), in dem am Ende „Rationalisten mit quadratischen Hüten“ auftauchen, die dort in „quadratischen Räumen“ das Denken erproben. Landschaftsbild und philosophische Reflexion sind umstandslos ineinandergefügt, behaupten ihre poetische Autonomie. Bei Nendza verweist die Stevens-Sentenz auf den Anfang seines Gedichts zurück, ist doch der Begriff Sombrero wiederum vom spanischen „sombra“ abgeleitet, zu deutsch „Schatten“. Der Schatten der Dinge – er wandert durch die Gedichte und es gehört für uns Leser zu den schönsten Vergnügungen, ihn bei dieser Wanderung zu beobachten.

Jürgen Nendza , geboren 1957 in Essen, lebt in Aachen. Er studierte Germanistik und Philosophie in Aachen und promovierte 1992 mit einer linguistischen Arbeit über das Verhältnis von „Wort und Fiktion“. 1992 erschien auch sein lyrisches Debüt „Glaszeit“. Nach sieben Gedichtbänden erschien 2015 der Auswahlband „Mikadogeäst“ (Poetenladen), dem das vorliegende Gedicht entnommen ist.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.11.2016




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Jürgen Nendza
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge