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Simone Kornappel


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 19

Michael Braun
Kunst und Körper



Wenn sich jemand heimlich, still und leise, unauffällig, kaum vernehmbar, ja de­mon­strativ sang- und klang­los durch die Welt bewegt, tritt eine beson­dere Stille ein. Nicht einmal der geringste Laut ist zu hören, kein Mucks. „Liegt man doch jahraus, jahrein / mäuschenstill im Kämmer­lein“, heißt es in einem „Traumbild“ Heinrich Heines aus seinem großartigen „Buch der Lieder“.
  Gäbe es ein „Mucks­mäus­chen“, ein Wesen der Geräusch­losig­keit, so müsste es das Arti­kulieren vermeiden und den Atem anhalten, um sich als Op­ponent des ste­tig an­schwel­lenden Lärms zu exponieren, der uns umgibt. Das „Mucks­mäus­chen“, so scheint es, ist ein dis­kreter Stille­produzent, stets darauf bedacht, Lärm­pegel zum Verschwinden zu bringen und das Para­dies der Laut­losigkeit wieder­her­zu­stellen.
  Was könnte die Bewegungs­form des „Mucks­mäuschens“ sein? Ein Erstarren in der Bewe­gungslosig­keit? Oder – wie es uns das „Mux­mäuschen“-Gedicht von Simone Kornappel vorführt – eine spi­ralen­förmige Bewe­gung, eine Schneckenlinie, die sich um eine bestimmte Achse dreht, um eine unsicht­bare Mitte und die irgendwann in der „Stille“ endet. (Wobei die Bildstruktur des „Muxmäuschens“ zwischen Spirale und konzentrischem Kreis changiert. Während das Druckbild einen kon­zen­trischen Kreis sug­geriert, der frei­lich offen ist, läuft der Text spira­len­förmig nach innen.)
  Signifikant sind freilich die textuellen Signale, die in Richtung eines technischen Mediums deuten – der Schallplatte. Die Versstruktur gleicht letzt­lich einem Platten­teller, was gleich an zwei Stellen bekräftigt wird: wenn nämlich vom „Tonabnehmer“ die Rede ist und vom Versuch, „die nadel nur an immergleicher stelle anzusetzen“. Aber auch die Speicher­technik auf Schallplatten und anderen modernen Ton- oder Informations­trägern funktioniert nach dem Prinzip einer Spirale.
  Die Spirale ist seit jeher ein ästhe­tisches Zeichen für Schöp­fungs­pro­zesse aller Art, ein Zeichen, das wir vorfinden in Muscheln, Schnecken und anderen Na­tur­organis­men – und eben auch in Gedichten.
  Das „Muxmäuschen“ von Simone Kornappel, mit „x“ geschrieben, ist ein vi­suel­les Poem in der Tradi­tion der expe­rimen­tellen Lyrik, ein Gedicht in Spi­ralen­form, das die Tra­dition der Bil­denden Kunst und der Ikono­graphie in der poeti­schen Form des Gedichts, wie auch in seinem sprach­lichen Mate­rial auf­ruft. Es gehört zu den schönen Para­doxien dieses Textes, dass es erstmal einigen Lärm ver­ursacht, bevor es am Ende zu dem un­eitlen Wort „still“ findet.
  Wenn sich das „muxmäuschen“ auf dem äußeren Ring der Spirale in Bewe­gung setzt, kommt es gleich zu voka­bulären Kol­lisionen. Der vor­sätz­lich herbei­geführ­te Zusam­men­prall gegen­sätz­licher Bild­berei­che und Sprach­felder, vor allem die Kon­fron­tation von bio­logi­schem Körper und Kunst-Körper gehört zu den primä­ren Text­strategien Simone Kornappels. „muxmäuschen das abhusten von früh­renaissance meint auswurf oder tussis in pastell to /tenderize your tongue bei botticelli & leck­muschel wie tzunge an batterie gegebenen-//falls ...“ Simone Kornappel sorgt für Ver­störung, für kunst­voll her­gestellte Dissonanz, für das Unter­brechung jenes beruhi­genden Wohl­lauts, den wir von konven­tionel­ler Lyrik ken­nen. Ihre Gedichte ver­feinern jene ag­gres­sive „Montage­kunst“, die einst Gott­fried Benn als „Stil der Zukunft“ quali­fiziert hat.
  Diese Gedichte begeben sich mitten hinein in unsere Körperwelten und in unsere digi­tali­sierten Lebens­räume – sie dokumen­tieren und kritisieren den „urbanen tinnitus“ (so heißt es in der „rube-goldberg-maschine“), der unser Leben erschwert. Und sie lassen die „songlines“ der ehr­würdigen poeti­schen Tradition und die Techni­zismen des digitalen Zeit­alters kunstvoll auf­einander­prallen.
  Der „Raumanzug“ der ameri­kanischen Astro­nauten bestand einst aus zahl­reichen Schichten ver­schiedener Textilien, Kunst­stoffe und kom­plexer Metal­le. Simone Kornappels „Raumanzug“ besteht aus zahl­reichen Schichtungen in­ein­ander mon­tierter Körper­zeichen und Kunstzeichen.

Simone Kornappel, 1978 in Bonn geboren, gibt seit einigen Jahren in Berlin die Literatur­zeitschrift „rand­nummer“ heraus. Das „muxmäuschen“ erscheint demnächst in Kornappels Debütbuch Raumanzug (luxbooks Verlag).





Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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02.07.2012



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Simone Kornappel
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge